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Der HipHop-Laden, der komplett von verdeckten Ermittlern betrieben wurde

Londense politie

Es ist März 2008 in Edmonton im Norden Londons. Orlando Chinhemba sitzt auf dem Sofa eines Kumpels. In der Nachbarschaft hat gerade ein Plattenladen für Rap und HipHop aufgemacht, in der Fore Street. Der Laden heiße Boombox, erzählt Chinhembas Freund. Im Hinterzimmer befinde sich ein Aufnahmestudio, das die Jungs für zehn Pfund die Stunde nutzen könnten. 


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Chinhemba ist zu der Zeit 20 Jahre alt. Der Angolaner sagt heute von sich selbst, er sei damals der Spaßvogel seiner Clique gewesen. Wo auch immer er aufgetaucht sei, habe er die Menschen zum Lachen gebracht, vielleicht auch wegen seines Akzents. Dabei habe er eigentlich davon geträumt, in der Musikindustrie Fuß zu fassen. Drei Jahre lang habe er es versucht, bevor sein Kumpel ihm am besagten Tag von Boombox erzählte. Auf einmal schien der Durchbruch möglich. Doch am Ende wird der Laden Chinhemba nicht auf die große Bühne bringen, sondern ins Gefängnis.

Über das, was er in dieser Geschichte erzählen wird, hat Chinhemba noch nie zuvor mit Medien gesprochen. “Es war toll, dass es auf einmal dieses Studio in der Nachbarschaft gab”, sagt er gegenüber VICE. “Es war damals so gut wie unmöglich, Musik aufzunehmen, weil es so teuer war.” Dass Boombox allerdings genau in dieser Nachbarschaft seine Türen aufgemacht hat, ist kein Zufall.

Als Chinhemba den Musikladen in der Fore Street zum ersten Mal besucht, lernt er die Angestellten kennen: Amanda an der Theke, Dee, Tyrone und Fish, den Manager. Chinhemba sagt, er habe sich mit Tyrone über die Nachbarschaft unterhalten: “Ich wollte der Community helfen, die Kriminalität stoppen, große Dinge erreichen.” Was Chinhemba zu dem Zeitpunkt nicht weiß: Weder Tyrone noch die anderen Mitarbeitenden des Plattenladens stellen sich unter ihrer echten Identität vor.

Der Plattenladen Boombox ist ein Täuschungsmanöver der Londoner Metropolitan Police, die Angestellten sind in Wirklichkeit Undercover-Cops. Fish und sein Team sind keine Musikliebhaber, sondern die vielleicht wichtigsten Figuren in der 500.000 Pfund schweren “Operation Peyzac”. Die Polizei will mit der Mission Gewalt und illegale Waffengeschäfte in der Gegend um Edmonton unter Kontrolle bringen. 

Zwischen Januar und Juli 2008 waren fünf junge Männer in Enfield getötet worden – dem Stadtteil, in dem auch Edmonton liegt: der 17-jährige Henry Bolombi, der 18-jährige Louis Boduka, der 16-jährige Iyke Nmezu, der 24-jährige Bakari Davis und der 19-jährige Melvin Bryan. 

Die Situation in der Community sei damals an einem Punkt gewesen, an dem die Polizei eingreifen und die steigende Verbrechens- und Mordrate bändigen musste, sagt Heidi Stonecliffe. Sie ist eine der Staatsanwältinnen im Prozess um Boombox. Denn am Ende des Täuschungsmanövers im Plattenladen werden 35 Männer verurteilt: wegen Drogenhandels, Waffenhandels oder weil sie planten, sich illegal Waffen zu beschaffen. Die Männer sind zwischen 16 und 41 Jahre alt, die meisten von ihnen Schwarz. Orlando Chinhemba ist einer von ihnen. 

Eines Tages will Tyrone Heroin von Chinhemba

Wenn Chinhemba heute erzählt, was damals zu seiner Verhaftung geführt hat, geht die Geschichte so: Eines Tages habe ihn Tyrone spät angerufen und gefragt, womit er eigentlich sein Geld verdiene. Er habe sich damals nicht über die Frage gewundert, sagt Chinhemba: “Ich wäre nicht darauf gekommen, dass dieser Typ ein Polizist ist oder mir eine Falle stellen könnte.” 

Chinhemba erzählt, er und Tyrone hätten sich in dem Telefonat vor allem über Musik unterhalten. “Ich wollte ihn dazu bringen, mich in der Musikindustrie zu unterstützen”, sagt er. 

Mit der Zeit werden Tyrones Fragen immer merkwürdiger. Bei einem von Chinhembas Besuchen im Plattenladen habe er angekündigt, dass ihn ein Freund aus Irland besuchen werde. Ein guter Mensch, aber heroinsüchtig. Tyrone habe Chinhemba anschließend um einen Gefallen gebeten: Ob er dem Freund für seinen Besuch womöglich etwas Heroin besorgen könne? 

So erzählt Chinhemba es heute. Ab da nimmt seine Verstrickung in den Fall ihren Lauf.

Chinhemba sagt, er habe einen Bekannten angehauen, von dem er wusste, dass er den Stoff verkaufe. “Ich glaube, es waren fünf Gramm für 75 Pfund”, erinnert er sich. Der Deal habe direkt hinter Boombox stattgefunden, das Gelände sei videoüberwacht gewesen. “Sie haben das Auto des Dealers wahrscheinlich auf den Aufnahmen gesehen”, sagt Chinhemba. “Sie hätten seine Identität herausfinden und mich aus der Sache rauslassen können.” Doch zu dem Zeitpunkt ist Chinhemba bereits selbst Teil der Ermittlungen. 

Die Jugendlichen schauen zu den verdeckten Ermittlern auf

Wenn Staatsanwältin Heidi Stonecliffe über die verdeckten Ermittler aus dem Boombox-Fall spricht, nennt sie sie “die womöglich besten”, mit denen sie je gearbeitet habe. Besonders Fish, der vermeintliche Manager des Plattenladens, erhält viel Lob für seine Arbeit. 

Fish, dessen richtiger Name geheim ist, ist ein älterer, Schwarzer Mann mit Dreadlocks. Er soll seine Rolle extrem gut gespielt haben. Genau wie seine Kollegin und seine Kollegen habe er ein ausgiebiges Briefing über die Musikszene und die Organisation eines Plattenladens erhalten. Wäre nur einer der Undercover-Cops aufgeflogen, hätte eine Eskalation gedroht, sagt Stonecliffe: “Die Angeklagten hätten keine Fragen gestellt, sondern Gewalt angewandt.” Auch heute noch stünden die Ermittelnden und ihre Familien aus Angst vor Racheakten unter besonderem Schutz. 

Die Angst rührt womöglich von der extremen Täuschung, die die Polizisten in ihren Manövern anwenden: Die verdeckten Ermittelnden gingen für ihre Mission offenbar sogar so weit, dass sie selbst Verbrechen vortäuschten. “Die verdeckten Ermittler gaben vor, Verbindungen in die kriminelle Szene zu unterhalten”, sagt der Rechtsanwalt Abbas Nawrozzadeh. “Sie versuchten damit, das Vertrauen anderer Personen zu gewinnen und Beweise über ihre mutmaßlichen Verbrechen zu sammeln.”

Nawrozzadeh hat einen der festgenommenen Jugendlichen im Boombox-Manöver vor Gericht vertreten. Der damals 19-Jährige habe davor keine Verurteilungen gehabt, sagt der Verteidiger. Glaubt man ihm, haben die Ermittelnden im Boombox-Fall die Hoffnungen der jungen Männer ausgenutzt, um sie anschließend festzusetzen. 

“Unser Mandant hat die Beamten als Ältere respektiert und zu ihnen aufgeschaut – wie viele der anderen Angeklagten auch”, sagt Nawrozzadeh. “Er sah sie als erfahrene und glaubwürdige Musikproduzenten, die ihn berühmt machen können.” 

Auch Orlando Chinhemba weiß heute, dass seine vermeintlichen Unterstützer damals nicht an seinem persönlichen Erfolg interessiert waren. “Ihnen lag nichts daran zu sagen: ‘Wenn wir diesem Typen helfen, macht er vielleicht etwas aus seinem Leben’”, sagt er. Den Ermittelnden sei egal gewesen, wer wirklich Drogen gedealt habe und wer nur in den Kreisen gewesen sei, weil er Schutz gesucht oder kein Zuhause gehabt hätte. Viele der Männer seien obdachlos gewesen, sagt Chinhemba. Auch in seinem Fall habe das Team in Boombox gewusst, dass er gerade erst aus Angola nach Europa gekommen war, auch wenn er damals in einer Wohnung lebte.

Schusswaffenteile und Munition, die im Rahmen der Operation Peyzac sichergestellt wurden
Schusswaffenteile und Munition, die im Rahmen der Operation Peyzac sichergestellt wurden | Foto: Metropolitan Police

Aus dem Traum von der Musikkarriere werden drei Jahren Haft

Es ist Ende April 2010, als Chinhemba im Zuge der Boombox-Ermittlungen erstmals in Schwierigkeiten gerät. Er hat zu dem Zeitpunkt gerade eine siebenmonatige Haftstrafe wegen Betruges abgesessen. Doch es dauert nur wenige Stunden, bis sich Chinhemba nach seiner Freilassung wieder in einer Polizeistation befindet. 

  1. April 2010, eine Woche vor Chinhembas Entlassung aus der Haft: 652 Polizisten und Polizistinnen durchkämmen 35 Objekte im Norden und Osten Londons und in Leeds, einer Stadt in der Nähe von Manchester. Sie finden dabei Drogen und allerhand Waffen: Schusswaffen, Messer, Schwerter, einen Elektroschocker und Tränengas. Auch die Wohnung, in der Chinhemba bis zu seinem Haftantritt lebt, wird in seiner Abwesenheit durchsucht. 

 “Verräter werden erstochen und ermordet”

Chinhemba sagt heute, er habe sich gestellt, bevor die Polizei ihn finden konnte. Noch am Abend seiner Freilassung habe er das Polizeibüro im Bezirk Islington aufgesucht, seinen Namen an der Rezeption genannt und sich von zwei Beamten in einen Befragungsraum führen lassen. Dort habe er zum ersten Mal von der Operation Peyzac und dem Fake-Plattenladen gehört. “Ich habe gelacht”, erinnert sich Chinhemba heute. “Ich konnte es einfach nicht glauben.”

Die Polizisten hätten ihn im Laufe der Befragung dazu aufgefordert, ihnen die Namen anderer Verdächtiger zu geben, sagt Chinhemba weiter. “Sie haben gesagt: ‘Wir wissen, dass du kein Dealer bist. Wenn du uns Namen nennst, benachrichtigen wir das Gericht und dir passiert nichts.’” Doch Chinhemba sagt nichts. “Ich kann nicht aussagen und zurück in die Nachbarschaft”, sagt er. “Verräter werden abgestochen und ermordet.”

Noch auf der Station nehmen die Beamten Chinhemba fest, weil er Tyrones erfundenem Freund damals das Heroin besorgt hat. Der Vorwurf: Beschaffung von illegalen Substanzen an einen verdeckten Ermittler. Gemeinsam mit den anderen Beschuldigten im Boombox-Fall landet Chinhemba im Gefängniss von Pentonville. 

Auf Anraten seiner Verteidigung bekennt er sich schuldig. Das Gericht verurteilt Orlando Chinhemba zu drei Jahren Haft, er kommt nach 15 Monaten frei. 

Undercovermissionen gelten als ineffektiv und unethisch

An polizeilichen Undercovermissionen wie jener hinter Boombox gibt es seit Jahren Kritik: Es gibt kaum Belege dafür, dass solche Manöver effektiv und langfristig Verbrechen bekämpfen. Natürlich klingt es für die Öffentlichkeit nach einem Erfolg, wenn die Polizei wie im Boombox-Fall 35 Festnahmen präsentiert. Und tatsächlich soll die Verbrechensrate in drei Vierteln in der Nähe des Fake-Plattenladens Berichten zufolge zwischen Oktober 2009 und Oktober 2010 stark abgenommen haben: um 6,9, 34,5 und 45 Prozent. Inwiefern das auf die Operation Peyzac zurückzuführen ist und ob dieser Effekt anhält, ist nicht bekannt. 

Stattdessen gelten die Methoden von verdeckten Ermittlern als besonders perfide und unmoralisch: 2015 wurden mehrere Fälle bekannt, in denen britische Undercoverpolizisten für ihre Ermittlungen intime Beziehungen mit Aktivistinnen eingingen und sogar Kinder mit ihnen zeugten. Zudem heißt es besonders im Zusammenhang mit Drogengeschäften oft, die verdeckten Ermittelnden würden beobachtete Personen zu Verbrechen anstiften, die sie sonst nicht begangen hätten.

Auch im Boombox-Fall kritisierte die Verteidigung die anstachelnden Methoden der Polizei. Abbas Nawrozzadeh sagt, die Beamten hätten die jungen Männer mit Anreizen zu den Taten verleitet: der Nutzung des Studios, gratis Zigaretten und Getränken, gratis Guthaben für ihre Telefone, dem Versprechen, die Musikkarriere voranzutreiben. Selbst Cannabis hätten die Polizisten ihren Besuchern beschafft. Sie hätten es sogar auf dem Gelände des Plattenladens konsumieren dürfen.

“Ich war damals nur der Mittelsmann”

“Im Grunde genommen hat die Polizei die Vergehen provoziert”, sagt Nawrozzadeh. “Sie haben ältere Schwarze Ermittelnde hingeschickt, um meinen Mandanten und andere junge Menschen kriminell erscheinen zu lassen – dabei hätten sie bestehende oder geplante Verbrechen untersuchen sollen.” 

Auch Chinhemba fühlt sich hintergangen: “Ich war damals nur der Mittelsmann, doch damit haben sie uns in die Falle gelockt”, sagt er. “Sie haben nicht gesehen, wie wir Verbrechen begehen – also haben sie selbst dafür gesorgt, dass wir es tun.” 

Staatsanwältin Heidi Stonecliffe erinnert sich an die Vorwürfe der Angeklagten. Allein: Sie hält sie für “nicht besonders glaubwürdig”. Das habe auch das Berufungsgericht so gesehen. “Die Angeklagten haben ihre Taten freiwillig begangen”, sagt Stonecliffe. 

Das Gericht entschied auch, dass die Beamten bei ihren Ermittlungen ordentlich – ja, sogar enthusiastisch und übermotiviert – gearbeitet hätten. Der verantwortliche Polizeichef bezeichnete Operation Peyzac damals als “eine der innovativsten und erfolgreichsten verdeckten Missionen der britischen Polizei”. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Obwohl für verdeckte Ermittlungen ein Regelwerk existiert, riskieren Undercoverpolizisten und -polizistinnen kaum juristische Konsequenzen für Vergehen, die sie für die Glaubwürdigkeit ihrer Rolle begehen. 

Chinhemba will nicht einmal gewusst haben, was eine Gang ist

Überhaupt schien die Situation sowohl vor Gericht als auch in der britischen Öffentlichkeit eindeutig: Die Operation Peyzac war demnach ein erfolgreicher Schlag gegen Kriminalität und Gang-Aktivitäten mitten in Europa. Von den 35 Festgenommenen beschrieben Polizei und Presse 30 als Gangmitglieder. Doch waren die Männer wirklich Teil gefährlicher Straßengangs?

Sowohl Orlando Chinhemba als auch ein weiterer Mann, der damals verhaftet wurde und anonym bleiben möchte, leugnen das gegenüber VICE. Chinhemba sagt, er habe nicht einmal gewusst, woran man eine Gang erkennt: “Ich war einfach ein Typ, der sich in England integrieren wollte und in einer mehrheitlich Schwarzen Nachbarschaft lebte.” Vielleicht war aber allein das genug für die öffentliche Erzählung des Falls.

Viele Mitglieder der Schwarzen Community werfen der Polizei vor, dass sie Boombox für Racial Profiling genutzt und junge, Schwarze Männer kriminalisiert hat, die vorher noch nie mit Verbrechen in Verbindung gekommen waren. Die Polizei aber beharrt auf dem mutmaßlichen Gang-Problem in Großbritannien: Seit die Polizei in Manchester 2001 eine Sonderkommission für Gang-Aktivitäten gegründet hat, folgten immer mehr solcher polizeilicher Zusammenschlüsse. Dabei kritisieren Kriminologen auch hier, dass über die Effektivität wenig bekannt sei und die Operationen vor allem dem Image einer erfolgreichen Polizei dienten. 

“Was ich gemacht habe, war nicht gut”

Orlando Chinhemba will seine Verantwortung trotz allem nicht von sich weisen. “Ich möchte nicht gegen die Polizei oder die Regierung hetzen”, sagt er. Er bereue seine Fehler. “Was ich gemacht habe, war nicht gut”, sagt Chinhemba. 

Dennoch spielt das Täuschungsmanöver um Boombox eine große Rolle im Verlauf von Chinhembas bisherigem Leben. Dabei, so mutmaßt er, hätten die Undercoverpolizisten mit dem Zugang zu den Jugendlichen und dem aufgebauten Vertrauen anders umgehen können. 

“Sie hätten erkennen können, dass die Leute kein Gefängnis brauchen, sondern direkt in der Community rehabilitiert werden können”, sagt Chinhemba. Womöglich hätten die Polizisten manche der jungen Männer statt ins Gefängnis sogar auf einen besseren Weg bringen können. 

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