Endlich: Nach zwei Jahren mit verschobenen Konzerten, abgesagten Festivals und schlappen Zoom-Auftritten ist Live-Musik endlich zurück in unseren Leben. Kaum zu glauben, aber die Fusion hat diesen Sommer tatsächlich stattgefunden. Sogar 50 Cent ist 2022 auf Tour gegangen! Und Ballermann-Sängerin Melanie Müller hat bei einem Konzert mit ihrem mutmaßlichen Hitlergruß mal eben ihre ganze Karriere gekillt.
Unabhängig davon: Konzerte sind irgendwie nicht mehr das, was sie vor der Pandemie einmal waren. Und das liegt an euch: dem Publikum.
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Denn die Zustände auf Konzerten sind in letzter Zeit regelrecht chaotisch. Kid Cudi musste in Miami die Bühne verlassen, weil immer mehr Leute aus dem Publikum ihn – offenbar einfach zum Spaß – mit Wasserflaschen bewarfen. Bei einem Auftritt der Popsängerin Leah Kate spielten Teile des Publikums demonstrativ auf ihren Smartphones rum oder schauten sogar Serien.
Und als wäre das alles nicht schlimm genug, berichteten diesen Sommer wieder vermehrt Frauen und Mädchen über sexuelle Übergriffe in der Menge – unter anderem bei Wanda, den Toten Hosen oder beim Summer Breeze Festival im bayerischen Ansbach. Dort ermittelte die Polizei sogar wegen Vergewaltigung nach einem Zwischenfall beim Crowd-Surfing.
Beschissenes Benehmen auf Konzerten scheint fast schon irgendwie dazu zu gehören. Wir wollen nicht wie die Boomer klingen, die ständig über “diese jungen Leute” stänkern, aber: Es ist ein Problem. Doch wie hat sich dieses Problem entwickelt – und was können wir jetzt tun, um Konzerte wieder angenehmer zu machen?
Seit wann sagt man bei Konzerten “Spuck mir in den Mund” statt “Zugabe”?
Es ist schwer zu sagen, wann genau Zurufe wie “Spuck mir in den Mund” (beim Slow Thai-Konzert) und “Heirate mich, Mommy!” (bei Mitski) die gute alte “Zugabe” oder das allgemeingültige “Woooooooo” ersetzt haben. Die gegenwärtige Internet-Kultur – allem voran auf TikTok – dürfte aber maßgeblich an dem Kulturwechsel beteiligt gewesen sein.
Dabei hätte alles so viel besser sein können: Soziale Medien bieten Künstlern und Künstlerinnen die Möglichkeit, mehr mit ihren Fans zu interagieren und sich direkter mit ihnen auszutauschen. Doch die neue Nähe sorgt nicht nur für einen gesunden Fan-Kontakt: Soziale Medien scheinen merkwürdige Besessenheiten zu fördern – etwa wenn eifersüchtige BTS-Fans systematisch berühmte Frauen mobben, die mit den Bandmitgliedern für Fotos posieren.
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Plattformen wie TikTok, Instagram oder Twitter sind aber auch verantwortlich für die Genese der sogenannten Clout Chaser: Menschen, die alles für virtuelle Aufmerksamkeit tun und kein Problem damit haben, sich dafür unethisch zu verhalten. Das Problem: Diese Art von Menschen sind ein großer Teil der unangenehmen Menge auf Konzerten. Und sie sorgen mit den viralen Videos ihrer Aktionen sogar dafür, dass ein dämonischer Schneeballeffekt eintritt. So kommt es, dass die respektlose Aktion zum Trend wird und zahlreiche Nachahmende findet, die ihrerseits zu Konzert-Trollen werden.
“In letzter Zeit fällt mir auf Konzerten immer wieder auf, dass Leute mitten in der Show Spiele auf ihren Smartphones spielen und diese dann so hochhalten, dass alle es sehen können”, erklärt Michala Zappitelli. Sie arbeitet als Künstlerbetreuerin in der Rock and Roll Hall of Fame und kümmert sich dabei auch um die Beziehung zu den Fans. “Am nächsten Tag ist ein Video von der Aktion auf TikTok”, erzählt sie weiter.
“Das geht dann viral und alle denken, das sei total lustig.” Das führe dazu, dass immer mehr Leute die Aktion imitieren würden, sagt Zappitelli. “Vor fünf Jahren hätte sich niemand so auf einem Konzert benommen”, urteilt sie.
Konzerte funktionieren nicht, wenn jeder Aufmerksamkeit sucht
Zappitellis Beobachtung passt zu einer Kultur, die von Inszenierungen und möglichst multiplizierbarem Content lebt. Im September reichte ein Fan Harry Styles inmitten seiner Show ein Smartphone, damit der Sänger damit ein Video für den Be Real-Account der Person aufnimmt.
Obwohl die Person damit kurz in der Internet Hall of Fame Platz nehmen konnte, bringen solche Momente Kunstschaffende in eine problematische Position. Denn der Fokus liegt längst nicht mehr auf ihrer Musik, ihrer Bühnenperformance oder ihnen selbst, sondern auf den Zuschauenden und deren eigener Suche nach Aufmerksamkeit.
Dabei sind Smartphones bei Konzerten schon länger ein Problem. Die US-amerikanische Indie-Sängerin Mitski bat Fans im Februar in einem mittlerweile gelöschten Tweet, während des Konzerts ihre Telefone wegzupacken und den Moment zu leben. Extremer reagierte der Sänger Steve Lacy: Als jemand eine Wegwerf-Kamera in seine Richtung warf, zertrümmerte er das Ding und verschwand schließlich sogar selbst von der Bühne.
Lacys Wegwerf-Aktion steht dabei symbolisch für den Frust über die Einstellung einer ganzen Generation an Konzertgängern und Internetnutzerinnen: einer Mentalität, in der sich jede Person ständig als Hauptfigur einer Situation versteht. Für Kunstschaffende – die bei einem Konzert immerhin die tatsächlichen Hauptfiguren sind – kann das extrem ermüdend und undankbar sein.
Konzerte in Zeiten von TikTok: Nur dieser eine Song
Interessant ist auch, wie das Konzertpublikum im echten Leben auf viral gegangene Songs reagiert – also Tracks, die etwa im Rahmen einer TikTok-Challenge besonders viel Aufmerksamkeit generiert haben.
Auf Reddit gingen im Sommer Geschichten herum, dass Leute ein Konzert des Duos Beach House verlassen hätten, direkt nachdem dieses den TikTok-Hit “Space Song” gespielt hatte. Bei einem Konzert von Omar Apollo saß das Publikum so lange still, bis der Sänger “Evergreen” spielte – ebenfalls ein Song, der auf TikTok viral gegangen war. Und Steve Lacy, der in diesem Jahr offenbar einfach kein Glück mit seinem Publikum hatte, lacht in einem Video über die Zuschauenden, weil diese nur den Refrain seines populären Songs “Bad Habit” mitsingen können.
Man muss den zumeist sehr jungen Konzertbesuchenden zugute halten, dass viele von ihnen wahrscheinlich zum ersten Mal auf ein Konzert gehen. Eine Umfrage des Magazins Billboard aus dem Jahr 2021 zeigte, dass vor allem Menschen aus der Generation Z die Post-Lockdown-Konzerte besuchen. Viele von ihnen sind während der Corona-Pandemie herangewachsen oder volljährig geworden und haben zum ersten Mal in ihrem Leben ein Konzertticket gekauft. Verständlich, dass Menschen aus der Gen Z nun besonders heiß auf Veranstaltungen wie Festivals und Konzerte sind.
Und obwohl das nachvollziehbar ist, hat die Corona-Pandemie offenbar eine wildgewordene Horde ahnungsloser Konzertbesuchender herangezüchtet. Schließlich haben diese jungen Menschen ihre wichtigen Entwicklungsjahre eingesperrt und im Internet verbracht und hatten in dieser Zeit keinerlei Gelegenheit, Konzert-Etikette zu erlernen.
Ja, gesellschaftliche Benimmregeln sind ein soziales Konstrukt. Aber sowohl bei Mozart im 18. Jahrhundert als auch bei Rock am Ring sorgen sie dafür, dass das Publikum an einem Strang zieht und maximalen Spaß für sich und die Stars herausholt.
Konzerte als Luxusgut: Dürfen Artists Ansprüche an die Fans stellen?
Aber haben die Künstler und Künstlerinnen überhaupt das Recht, Forderungen an ihre Fans zu stellen und sich über ihr Publikum aufzuregen? Immerhin gibt dieses einen Haufen Geld für die Konzerte aus und finanziert so manche Karriere mit.
Tatsächlich bringt ein 100-Euro-Konzertticket auch eine gewisse Bringschuld gegenüber den Besucherinnen und Besuchern mit sich. Konzertanbietende wie Ticketmaster und Eventim scheren sich in ihrer Preispolitik relativ wenig um die Belange der Fans. Und auch die Artists selbst machen bei Konzerten einen Haufen zusätzlicher Asche, wenn sie wie Beyoncé Pullis im Wert eines Billigfluges verkaufen.
“Die Leute kommen zu Konzerten, um einen unterhaltsamen und sicheren Abend zu verbringen”, sagt Jon Collins, CEO des Verbands britischer Konzertorganisationen. “Gleichzeitig stehen die Konsumierenden unter finanziellem Druck: Umfragen unseres Verbands zeigen, dass 22 Prozent der Menschen allein in diesem Monat 22 Prozent weniger verfügbares Einkommen haben”, erklärt Collins gegenüber VICE. Eine von sieben Personen zwischen 18 und 24 Jahren habe in der Befragung sogar angegeben, dass sie wegen der hohen Kosten keine Konzerte besuche.
Ob es nun an der Pandemie, einiger respektloser Menschen oder dem wirtschaftlichen Frust liegt: Konzerte scheinen gerade eine schwierige Phase zu durchlaufen. Dabei war einer der besten Aspekte von Live-Musik die Community: die gemeinsame Begeisterung, die Stimmung im Konzertsaal, das kollektive Tanzen zur Lieblingsmusik, die Mischung aus Euphorie und Erschöpfung in der vollen Bahn auf dem Weg nach Hause.
Um dieses Gefühl wiederzufinden, sollten wir achtsamer und respektvoller miteinander umgehen. Das zählt sowohl für die anderen Menschen im Publikum als auch für die Personen auf der Bühne. Ein Konzert kann nämlich auch dann eine unvergessliche Erfahrung sein, wenn danach kein Video eures asozialen Verhaltens im Internet viral geht. Probiert es mal aus.
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