„Jetzt chatten!” und „Let’s go private!”: Die Pop-up-Fenster mit den Fotos nackter Models und den Aufrufen zum intimen Gespräch kennt fast jeder Internetnutzer. Während die Werbung vielen als lästiger Spam erscheint, hat das Webcam-Model-Business eine treue und stetig wachsende Kundschaft vorzuweisen. Dem Statistikdienst Similarweb zufolge rangiert der Marktführer Chaturbate mit über 4 Millionen Unique Visits auf Platz 103 der meistbesuchten Websites weltweit. Insgesamt schätzen Experten den Branchenumsatz bei über einer Milliarde US-Dollar, Tendenz steigend.
Wer jedoch denkt, im privaten Videochat könne man in virtueller Zweisamkeit seinen Fantasien nachgehen, irrt. Im Interview mit einem erfahrenen Camgirl hat Motherboard erfahren: Bei den Chats zwischen Kunden und Models aus aller Welt sind oft Übersetzer zwischengeschaltet. Sie können alles sehen und übernehmen die Kommunikation – der Kunde weiß von nichts.
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„Du frühstückst vielleicht eine Schüssel Cornflakes, während auf dem Bildschirm gerade ein Großvater masturbiert.”
Auf den Seiten der Betreiber ist von Übersetzungen keine Rede. So ist nicht klar, ob die Seiten von den Mittelsmännern wissen und sie dulden. Die führenden Dienste Chaturbate und LiveJasmin äußerten sich auf Anfrage von Motherboard nicht. Der Anbieter MyFreeCams hingegen erklärt: „The only person that can type in the chat room is the model herself” und verweist auf seine AGB’s. Letztlich verlässt sich das Portal auf die Community, um Verstöße zu identifizieren.
Auch viele andere Betreiber verbieten die Übersetzungen nur implizit – dritte Personen dürfen in keinster Weise an den Chats teilnehmen, heißt es oft. In ihren Geschäftsbedingungen scheinen sie sich aber schlicht vieler Pflichten zu entledigen. So schreibt Chaturbate etwa: „We cannot ensure the security or privacy of information you provide through the Internet or otherwise”.
Unsere Interviewpartnerin Natascha ist 22 Jahre alt, wohnt in Moskau und arbeitet seit vier Jahren für Chaturbate und andere Portale. Sie hat uns erzählt, wie das mit dem Übersetzen funktioniert. Und warum das Camming ihr ziemlichen Spaß bereitet.
Motherboard: Natascha, du bist seit mehreren Jahren im Camgirl-Geschäft unterwegs. Wie bist du dazu gekommen?
Natascha: Ich hatte immer schon eine Affinität zu Internet-Chats. Mit 16 Jahren habe ich ganze Nächte auf Chatroulette verbracht und unterhielt mich mit wildfremden Menschen aus aller Welt. Ein Typ aus Dortmund kam mich sogar besuchen – und ich wohnte damals noch bei meinen Eltern in Nowosibirsk in Russland! Mit ihm hatte ich auch meine ersten sexuellen Erfahrungen. So ist meine Hemmschwelle früh gefallen, denke ich. Als ich dann mit 18 nach Moskau gezogen bin, stieß auf die Stellenanzeige eines Studios. Und dann ging das alles ziemlich schnell.
„Ich chatte mit dem Kunden und schreibe dann dem Mädchen, was sie machen soll. Sie muss dann eigentlich nur noch ausführen.”
Eine Stellenanzeige als Camgirl? Und was sind das für Studios, von denen du sprichst?
Naja, es sind diese typischen Schmuddelanzeigen: Models gesucht, gute Bezahlung, keine Vorkenntnisse nötig. Ich wusste schon, worauf ich mich einließ, aber ich fand es halt wahnsinnig spannend. Ich selbst arbeite am liebsten zu Hause, aber viele Models broadcasten in speziellen Webcam-Studios. Gegen 50 Prozent der Einnahmen stellen sie ein ausgestattetes Zimmer, Kamera und Laptop zur Verfügung, und unterstützen die Models bei der Anmeldung an den Chat-Portalen. Das ist nicht immer ganz trivial: Welche Informationen brauche ich für welche Seite, welche Zahlungsmethoden werden dort verlangt. Viele Camgirls können gar kein Englisch, was bei der Registrierung oft nötig ist.
Die Kunden der Webcam-Plattformen kommen ja aus aller Welt. Gibt es da nicht sowieso oft sprachliche Barrieren, oder wird gar nicht so viel gesprochen…?
(Lacht laut auf). Und ob: Manchmal rauche ich einen Joint und spreche oder chatte einfach zwei Stunden mit meinen Kunden, viele wollen gar nicht mehr! Solche Kunden nennen wir Soulmates. Es hilft mir enorm, dass ich während meines Studiums und bei Auslandsaufenthalten Englisch gelernt habe. Für Models ohne Fremdsprachkenntnisse gibt es Simultanübersetzer – ich selbst übernehme diesen Job auch öfters. Ich führe dann die komplette Kommunikation für das Model, das Geld teilen wir 50-50. Im russischsprachigen Raum, aber auch in Ostasien gibt es sehr viel Übersetzungsbedarf, da viele Kunden aus Europa und den USA kommen.
Sitzen die Übersetzer dann auch vor der Kamera?
Nein, natürlich nicht! Der Kunde hat überhaupt keine Ahnung, dass ein Übersetzer zwischengeschaltet ist. Wir nutzen dafür Fernsteuerungssoftware wie TeamViewer oder Radmin und tippen dann einfach selbst in das Chatfeld. Die Models tun dann so, als würden sie tippen. Als Übersetzerin sehe ich über die Kamera alles, was das Model macht. Und wenn der Kunde die Kamera eingeschaltet hat, natürlich auch alles, was er oder sie macht. In Wahrheit ist es ein wenig mehr als einfach übersetzen, vielleicht passt der Titel „Regisseur” besser: Ich chatte mit dem Kunden und schreibe dann dem Mädchen, was sie machen soll. Sie muss dann eigentlich nur noch ausführen, während ich versuche, den Kunden bei Laune zu halten.
Schalten viele Kunden ihre Kamera ein?
In den Privatchats schon rund die Hälfte, schätze ich. Als Übersetzerin ist das komisch: Du frühstückst vielleicht eine Schüssel Cornflakes, während auf dem Bildschirm gerade ein Großvater masturbiert.
Das ist ja schon Betrug: Der Kunde zahlt für einen Privatchat im Glauben, in trauter Zweisamkeit mit dem Model zu sein. Dabei sieht eine dritte Person zu. Wie stehen denn die Plattformbetreiber dazu?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob die davon wissen. Die Übersetzungen laufen zumindest immer inoffiziell ab und werden nicht über die Plattformen abgerechnet.
Dabei gehört doch Stöhnen und Sextalk sicher auch mit zu den Videochats. Reicht es den Kunden denn, einfach nur zu schreiben? Das kann doch unter Umständen behindern…
Sprechen geht natürlich in diesem Fall nicht. Dafür müssen wir uns gute Ausreden ausdenken. Manchmal ist das Mikro kaputt, manchmal die Verbindung zu schwach, was uns halt gerade einfällt. Meistens aber sagen wir, das Model sei zu schüchtern zu sprechen, was in der Tat oft stimmt. So kann es dann trotzdem stöhnen und Geräusche machen, und zwischendurch so tun, als würde es tippen.
Und fällt der Übersetzerschwindel nie auf?
Doch doch, das ist schon öfters vorgekommen. Einmal habe ich für ein russisches Mädchen übersetzt, der Kunde war ein etwa 30-jähriger Brite. Plötzlich bat er sie, nackt auf dem Bett zu tanzen. Das ging schneller als ich schauen konnte: Während sie schon rumhüpfte, sendete ich ihm eine Nachricht – das hat er natürlich gecheckt und daraufhin irritiert den Chat verlassen. Ein Franzose hat ganz anders reagiert, als er den Bluff aufdeckte: Er mochte die Konversation mit mir so sehr, dass er weiter mit mir schrieb und das Model fast ignorierte.
Wie ist es denn ansonsten: Sind die Geschichten der Models in den Chats frei erfunden?
Absolut nicht. Ehrlichkeit und Authentizität sind notwendig, keiner will beschissen werden. Außerdem ist es für mich als Model auch angenehm, mit meinen Kunden offen reden zu können. Aber klar, es gibt Ausnahmen. Ich weiß von einer Kirgisin, die vorgibt, in einem kleinen Dorf in Schweden als Austauschstudentin zu leben. Mein Ex-Freund kann schwedisch, er hat für sie übersetzt.
Wie verdient man denn als Camgirl Geld, und wieviel kann man verdienen?
Es gibt zwei Modi: den öffentlichen und den privaten Chat. Der öffentliche Chat ist erstmal gratis, von dort versuche ich die Kunden in den Privatmodus zu locken. Dort muss der Kunde pro Minute mit Credits zahlen – bei mir ist das rund ein Dollar, bei anderen um einiges mehr. Richtig erfolgreiche Models verdienen ihr Geld aber im öffentlichen Videochat über „Tips”. Das ist dann ähnlich wie eine Restaurantbestellung: BH ausziehen kostet zum Beispiel sechs Credits, auspeitschen 15. Mit dem vernetzten Vibrator OhMiBod kann die Stärke der Vibrationen sogar an die Höhe der Tips gekoppelt werden. Weil es im öffentlichen Modus teils hunderte Zuschauer gibt, machen gute Models mehr als 1000 Dollar am Abend.
Camgirl und Übersetzerin – ist das beides dein Hauptberuf?
Tagsüber arbeite ich in einer Online-Marketing-Agentur. Das Modeln mache ich so drei, vier mal die Woche Abends, damit kann ich mein Gehalt locker verdoppeln. Außerdem macht es mir ziemlichen Spaß: Ich kann dabei was trinken oder auf einem Trip sein und mit coolen Menschen reden. Mit manchen meiner Stammkunden bin ich sogar befreundet. Irgendwie.
Letzte Frage: Was ist das Lustigste, das dir beim Broadcasten je passiert ist?
Das war auf jeden Fall der Zwerg (lacht laut)! Ein Kunde, Italiener oder Pole, fragte mich einmal aus dem Nichts: „Würdest du lachen, wenn du einen nackten Zwerg tanzen siehst?” Das hat er dann auch getan, ich bekam einen dreiminütigen Lachkrampf. Zum Glück habe ich da als Übersetzerin gearbeitet.