Screengrab: Skype
Am 22. Juni 2013 schickte Valery Spiridonov folgende E-Mail an den italienischen Arzt Sergio Canavero:
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„Lieber Doktor Sergio!
Ich bin ein 29-jähriger Mann mit Muskelschwund. Ich habe mich so gefreut, als ich in den Zeitungen von ihrer Forschung an Kopftransplantationen gelesen habe! Bitte sagen Sie mir: Welche Ressourcen benötigen Sie für eine erfolgreiche Operation? Kann ich Ihnen nützlich sein? Ich bin bereit, an jeglichen Experimenten teilzunehmen, falls Sie mich brauchen.
Herzlich,
Val”
Diese kurze E-Mail könnte den russischen Programmierer und Grafikdesigner zum weltweit ersten Patienten einer experimentellen Kopftransplantation machen, die für das Jahr 2017 geplant ist (obwohl viele Experten aus dem medizinischen Bereich sehr skeptisch sind, ob die Operation jemals wirklich klappen wird).
Spiridonov leidet an der Werdnig-Hoffmann-Störung, einer unheilbaren Muskelschwundkrankheit. Die meisten Menschen mit dieser Krankheit erleben ihren 20. Geburtstag nicht; er weiß, dass seine Tage gezählt sind. Eine komplette Kopftransplantation, so glaubt er, wäre seine einzige Chance auf ein längerfristiges Überleben.
Ich selbst habe den Großteil des vergangenen Wochenendes damit verbracht, diese Nachricht mit meinen Freunden zu erörtern: Manche fanden die Vorstellung zu eklig, um sie zu erörtern, andere waren komplett fasziniert. In jedem Fall waren die Reaktionen unmittelbar und existentialistisch. Wird er sterben? Warum sollte er das tun? Es fühlte sich komisch an, das Schicksal dieses Mannes so beiläufig zu diskutieren.
„Ich zeige Ihnen, wie ich mich in meinem schwachen Körper fühle.”
Schnell durfte ich feststellen, dass Spiridonov momentan ziemlich schwer zu erreichen ist. Zeitweise bekam er so viele Anrufe, dass er bei einem Fernsehauftritt sein Handy ausstellen musste, damit es nicht ständig klingelte.
Als ich Spiridonov endlich für ein Skype-Interview erreichte, bemerkte ich verwundert, dass er ziemlich gut gelaunt war für einen Mann, der sich seinen Kopf abhacken und auf einen anderen Körper kleben lassen will.
Hey Val, vielen Dank für deine Zeit. Ich weiß, das alles muss gerade total verrückt für dich sein. Bist du müde?
Nur ein bisschen erschöpft wegen des ganzen Presserummels um mich. Ich bin gerade aus Moskau zurückgekommen, habe ein paar Stunden geschlafen und versucht, die ganzen E-Mails und Nachrichten zu beantworten. Es war echt viel.
Wie viele Journalisten haben dich angerufen?
Oh, bestimmt hunderte. Ich musste mein Handy ausschalten, während ich vor der Kamera stand. Was gerade um mich herum passiert, ist ziemlich fantastisch.
„Irgendjemand muss es ja tun”
Hast du solche Reaktionen erwartet?
Ich war schon darauf vorbereitet, dass es so sein könnte. Ich fürchte mich nicht vor Aufmerksamkeit, weil ich schon vor diesem Experiment ziemlich viel in der Sozialarbeit tätig war. Ich habe auch in der Politik gearbeitet und gehe schon länger einem ganz normalen Job nach, in dem ich viel mit Menschen zu tun habe. Ich habe keine Angst vor Kameras und Leuten.
Wieso hast du dich jetzt entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen? Du hättest es als Geheimnis ja auch für dich behalten können, wenn du gewollt hättest.
Das ist ein Experiment von enormem Ausmaß, vergleichbar mit der Mission des ersten Menschen im Weltraum oder des ersten Menschen auf dem Mond. Es ist ein wissenschaftlicher, technologischer und biologischer Durchbruch, den wir nicht einfach so geheimhalten können—die Leute müssen doch wissen, was gerade geschieht und welche Möglichkeiten sich auftun. Ich muss den Leuten berichten, dass diese Art von Operationen von Patienten gewünscht werden: von hundertausenden Menschen, denen es noch viel schlechter geht als mir.
Die Operation soll in zwei Jahren stattfinden. Musst du dich irgendwie darauf vorbereiten?
Ich muss nichts Spezielles tun. Ich rede mit Leuten, beschreibe, was passieren wird. Ich zeige ihnen, dass es nur sehr begrenzte Möglichkeiten für mich gibt und wie ich mich in meinem sehr schwachen Körper fühle. Menschen wie ich benötigen eine Menge Aufmerksamkeit von anderen. Wir brauchen Fürsorge und Unterstützung. Wir sind völlig abhängig von Verwandten. Es ist deprimierend, wie sehr wir von der Hilfe anderer abhängig sind. Jeder muss das wissen. Wir kämpfen jeden Tag.
Canavero und ich bereiten und auf eine Konferenz mit den berühmtesten Neurochirurgen der Welt in Annapolis (Maryland) in diesem Sommer vor. Er wird dort eine Präsentation halten und ein paar Geheimnisse lüften. Da er möchte, dass ich mitkomme suche ich jetzt nach finanzieller Unterstützung. Ich habe einen Job, ich habe Geld. Ich bin Programmierer. Aber eine Reise in die USA ist für mich unerschwinglich, weil ich nicht nur für meine Tickets bezahlen muss, sondern auch für die meiner Freunde, die mir helfen, mich zu bewegen.
“Ich kann nicht laufen, seit ich ein Jahr alt bin. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals gelaufen zu sein.”
Lass uns doch mal darüber reden. Die Presse hat ja immer wieder ausführlich berichtet, was dir passieren könnte und ob das überhaupt funktionieren könnte. Nur ganz wenige haben sich für dich persönlich interessiert. Wie sieht dein Leben aus?
Ich arbeite für Firmen, die Lernsoftware herstellen, Programme für Schulen, Programme für Kinder. Ich mache da hauptsächlich 3D-Grafiken. Ich arbeite über das Internet. Um neun Uhr morgens wache ich auf. Mein Nachbar hilft mir jeden Tag, aus dem Bett aufzustehen, weil ich das nicht selbst machen kann. Dann arbeite ich den ganzen Tag, weil ich meine Zeit nicht gerne mit unwichtigen Sachen verschwende. Ich gucke nicht viel fern, ich schaue noch nicht mal gerne Filme, also arbeite ich eben. Ich versuche, meine Dinge gut zu machen und während des ganzen Tages steht mir meine Mutter mit ihrer Hilfe zur Seite.
War das schon immer so? Deine Krankheit ist ja degenerativ, war sie jemals besser?
Ich bin nicht mehr gelaufen, seit ich ein Jahr alt war. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, jemals gelaufen zu sein. Ich habe keine sonderlich depressiven Gedanken, es ist ok, so zu leben. Ich habe mich daran angepasst. Ich gehe auch nicht oft zum Arzt. Die Ärzte können mir sowieso nicht helfen, wie es bei einer unheilbaren Krankheit nunmal so ist.
Verstehst du die Wissenschaft hinter der OP? Begreifst du, was mit dir passieren wird?
Ich bin kein Arzt, ich habe keine medizinische Ausbildung. Ich bin Programmierer. Ich verstehe Ingenieurstechnik, aber ich vertraue Canavero voll und ganz.
Also machst du dir keine Sorgen?
Ich mache mir über gar nichts Sorgen. Irgendjemand muss ja der Erste sein. Irgendjemand muss muss dahin gehen, wo zuvor noch niemand war. Der erste Astronaut hatte auch Angst, da bin ich mir sicher. Ich habe auch Angst, klar, aber ich begreife, dass es gemacht werden muss. Wenn es niemand versucht, wird es niemals passieren.
Die Operation soll 13 Millionen Euro kosten. Hast du Bedenken, dass niemand dem Arzt die Unterstützung vorfinanziert und es einfach nicht passieren wird?
Projekte dieses Ausmaßes sind wichtig für Staaten und Regierungen. Diese sollten dafür kämpfen und Canavero mit allen Mitteln unterstützen. Ich glaube, er sorgt sich nicht so sehr ums Geld, weil es eine Frage der Menschlichkeit ist. Das Experiment ist wichtig für die Zukunft der Menschheit.
Worauf freust du dich? Was möchtest du in deinem neuen Körper alles tun?
Nach dieser Operation, ob ich nun überlebe oder nicht, ob ich laufen kann oder nicht, wird es eine riesige wissenschaftliche Grundlage geben. Die Menschen werden lernen, wie man derart komplexe Vorgänge perfektionieren kann und das wird zukünftigen Generationen hoffentlich helfen. Das ist es also absolut wert.
Warum willst du bis 2017 warten, warum nicht schon jetzt?
Das Datum hat Canavero festgesetzt, ich weiß nicht, warum.
Wie oft sprecht ihr miteinander?
Wir besprechen uns ein- oder zweimal pro Woche. Wir reden über Pläne für die Konferenz und solche Sachen. Da wir meistens über Skype kommunizieren haben wir uns noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, aber er versteht meine Krankheit voll und ganz.
Weißt du, warum er ausgerechnet dich aus all den Menschen, die ihm geschrieben haben, ausgewählt hat? Er sagte, es gäbe hunderte Freiwillige.
Ich weiß nicht, vielleicht war ich der Erste oder offener als andere.
Was sagst du zu den Medienberichten und Ärzten die behaupten, die Operation würde nicht funktionieren?
Das lese ich gern. Ich mag die Kommentare dazu, die sind meistens positiv und die Leute wünschen mir Glück. Die Menschen verstehen, wieso ich das brauche. Ich freue mich, dass die meisten mein Unterfangen unterstützen.
Und die Risiken der Operation kenne ich alle. Natürlich hat das noch niemand zuvor versucht und niemand hat die Technologie, die Nervenbahnen des Rückgrats so zu verbinden wie Canavero. Sie haben Recht mit ihrer gesunden Skepsis, aber ich hoffe, dass Canavero diesen Sommer ein paar seiner Geheimnisse lüften wird.
Update (14.9.): Gegenüber RT terminierte Dr. Canavero den Eingriff nun auf den Dezember 2017 und erklärte außerdem, dass die Operation an der chinesischen Harbin Medical Universität stattfinden soll. Das medizinische Team soll ebenfalls zum Großteil aus chinesischem Personal bestehen.