Als ich vor ungefähr acht Jahren Xatar kennenlernte, erzählte er mir eine Geschichte, wie er als kleiner Junge auf dem Gymnasium war und dort keinen Anschluss fand. Er hatte keine Freunde dort, wurde geschnitten und zu keinem einzigen Geburtstag eingeladen. Er war der einzige Ausländer in seiner Klasse, weil seine Eltern darauf bestanden hatten, dass er nicht im Bonner Stadtteil Brüser Berg zur Schule gehen sollte, sondern dort, wo die Kinder von der Hardthöhe hingingen, die Beamtenkinder, die Kinder der Regierungsmitarbeiter. Bonn war damals noch Hauptstadt und Regierungssitz dieser Republik und auf der Hardthöhe saß das Bundesverteidigungsministerium. Der Stadtteil Brüser Berg lag zwar nur einen knappen Kilometer davon entfernt, trotzdem hatten die Kinder aus den unterschiedlichen Schichten wenig miteinander zu tun. Xatar war alleine, seine Kumpels waren alle auf der Hauptschule im sozialen Brennpunkt und somit aussortiert. Nur bei ihm wurde darauf bestanden, dass er eine bessere Ausbildung kriegen sollte.
Spaß machte das nicht. Die Lehrer ließen ihn spüren, dass sie ihm nicht allzu viel zutrauten und die Kinder aus dem Verteidigungsministerium ließen den stillen, unauffälligen Jungen aus der schlechten Gegend einfach links liegen. Irgendwann sollte sich das dann ändern, aber es änderte sich erst, als Xatar anfing, kleine Päckchen mit in die Schule zu bringen und sie an seine Klassenkameraden zu verkaufen. Es änderte sich dann, als er sich eine Lederjacke kaufte und bekannt wurde, dass er diese und jene Geschäfte machen würde. Es änderte sich erst dann, als er zu dem asozialen Kanacken wurde, den die anderen von ihm erwarteten. Ab diesem Zeitpunkt wurde Xatar geschätzt und zu den Partys eingeladen. Ab diesem Zeitpunkt war es cool und auch ein bisschen gefährlich, mit ihm rumzuhängen. Dass er das Gymnasium dann in der elften Klasse verlassen musste, was wahrscheinlich ebenfalls mit dem neuen Lebenswandel zu tun hatte—die meisten seiner damaligen Mitschüler und Lehrer dürfte das nicht weiter gejuckt haben, passte das doch mehr ins Bild, als wenn der Schwarzkopf die Matura gemacht hätte.
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Ein paar Jahre später dann eine andere Geschichte. RTL II hatte sich überlegt, eine Show zu starten, in der sich absolute Volltrottel als Experten in irgendeinem Fachgebiet ausgeben sollten. Innerhalb von 14 Tagen sollten ihnen unterschiedliche Trainer so viel Wissen verabreichen, dass sie andere Experten von ihren Fähigkeiten überzeugen konnten. Das Ganze hieß Der Bluff und war wahrscheinlich von irgendeiner Spielshow aus den USA geklaut. Erste Folge: Xatar, Ali As und (yeah) Deso Dogg sollten einem Lyrikstudenten aus Tübingen in Deutschland beibringen, wie man ein richtig harter Straßen-Rapper wird. Der Typ war ein richtiger reaktionärer Nerd und hat Xatars Kopf gefickt, was man sich immer noch anschauen kann, in Ausschnitten, die auch heute noch durchs Netz geistern.
Die Show hatte auf jeden Fall einen sehr unfreiwilligen Unterhaltungswert, wurde nach der ersten Folge aber leider eingestellt. Der Bluff funktionierte nicht. Der Lyrik-Trottel konnte nicht überzeugen, obwohl er eine Karl-Kani-Hip-Hop-Uniform verpasst bekommen hatte. Die Sendung wurde zu einem großen Flop. Eine Erzählung blieb mir allerdings im Gedächtnis haften. Mitten in den Dreharbeiten wurde der zartbesaitete junge Mann, der natürlich Mitglied in einer Burschenschaft war und gerne Volkslieder sang, von Zweifeln gepackt. Er bekam eine richtige Krise und wollte hinschmeißen. Xatar erzählte mir, dass er aufstand und gehen wollte, weil ihm diese ganzen asozialen Menschen zu viel waren, weil ihm diese Härte zuwider war, weil ihn das alles ankotzte, mit was für Typen er da die ganze Zeit zu tun haben musste. Er wäre auch weg gewesen, erzählt Xatar, wenn er ihn nicht zur Seite genommen hätte.
Xatar packte den Fridolin und fragte ihn, ob er Antonín Dvořák kennen würde. Natürlich kenne er Antonín Dvořák, antwortete der andere. “Nun gut”, sagte Xatar, “dann kennst du auch die Symphonie aus der neuen Welt.” “Natürlich kenne ich die Symphonie aus der neuen Welt”, sagte Fridolin. “Dann weißt Du auch, was Dvořák getan hat, um sie zu schreiben” fuhr Xatar fort und erklärte: “Dvořák lebte ein Jahr lang in den USA, die damals noch ganz jung waren. Er lebte im wilden Westen. Er lebte unter Cowboys, Nutten und Indianern. Er lebte mit richtigen Gangstern zusammen und dann ist er zurückgekommen und hat diese wunderbare Musik geschrieben. Er hat das alles benutzt, was er gesehen hat und genau so musst du das auch machen. Du musst hierbleiben und dir alles genau anschauen. Du musst das hier jetzt durchziehen und dann musst du nach Hause gehen und dann schreibst du deine Symphonie aus der neuen Welt!” Die Augen des jungen Studenten begannen zu leuchten. Er richtete sich auf. Er hob den Kopf. Er schaute in die Zukunft. “Das werde ich machen”, sagte er und stand auf. Ganz gerade stand er und mit fester Stimme sagte er: “Genau das werde er machen.”
Schnitt.
Die Szene war gefilmt worden. Der Kameramann hatte sie festgehalten. Sie stand zwar so nicht im Drehbuch der Scripted-Reality-Show, aber sie war gut. Xatar hatte einen Jackpot gelandet. Das war die beste Szene in der ganzen Serie, dachte er, doch sie wurde nie gesendet.
Später am Abend setzte sich die Aufnahmeleiterin der Serie zu Xatar und meinte, dass sie die Aufnahmen leider nicht verwenden könnten. Sie würden nicht ins Bild passen. Ein Kanacke, der Antonín Dvořák kennt, wo gibt’s den sowas? Xatar ist doch der harte Gangster. DAS wollen die Leute sehen. Die wollen doch keinen Ausländer sehen, der irgendwas von Antonín Dvořák erzählt. Glaubt doch kein Mensch. Und so verschwand die Szene im Giftschrank des Senders.
Wenn heute Der Holland Job von COUP erscheint, dann liefern Xatar und Haftbefehl genau das ab, was die Leute von ihnen erwarten. Zwei asoziale Kanacken auf der Jagd nach Patte. Wen interessiert es da, dass Haftbefehl anscheinend eine tiefe Zuneigung zum französischen Film Noir hat? Wen interessiert es, dass Xatar eine fast klassische Musikausbildung hat, mit Klavier und allem drum und dran. Das passt doch nicht ins Bild, genau wie Lukas, der in den Videos zum Holland Job den bilderfälschenden Neffen von Xatar spielt und der die Lücke im System aus Klischees, Beschreibungen und Selbstbeschreibungen darstellt. Genau wie Lukas, der zwar nur eine Nebenrolle spielt, im Endeffekt aber das entscheidende Puzzlestück darstellt.
Zwischen all der Ballerei gibt’s doch noch einiges zu entdecken. Augen auf!
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