Dr. Matt Lodder ist Hochschuldozent für Kunstgeschichte, er leitet die Abteilung für American Studies an der University of Essex in Großbritannien. Vor ein paar Jahren ist dem 40-jährigen Tattoo-Historiker etwas sehr Bizarres passiert: Ein ihm völlig unbekannter junger Mann klaute nicht nur Lodders akademische Arbeiten, sondern gab sich bei Konferenzen und Vorträgen auch als der Dozent aus. Vor Kurzem erzählte Lodder die Geschichte bei Twitter, woraufhin sich viele Akademiker und Akademikerinnen aus der ganzen Welt mit ähnlichen creepy Erfahrungen bei ihm meldeten. Für uns lässt der Dozent das ganze Fiasko noch einmal Revue passieren – ein Fiasko, über das er heute aber fast schon lachen kann.
Ende 2017 erfuhr ich, dass jemand meine Arbeiten und meine Identität dazu genutzt hatte, um die Menschen in seinem akademischen und persönlichen Umfeld zu täuschen. Diese Person war ein Student aus den USA, mit dem ich persönlich quasi nie etwas zu tun gehabt hatte.
Videos by VICE
Aber nicht nur ich war betroffen, der Student klaute auch Arbeiten von anderen Akademikern und Akademikerinnen aus meinem Freundeskreis. Natürlich arbeiten wir in einem ziemlich nischigen Feld, es gibt nur wenige Menschen, die sich so eingehend mit der Geschichte von Tätowierungen auseinandersetzen. Dementsprechend gibt es auch nicht sehr viele qualitativ hochwertige akademische Arbeiten und Werke zu dem Thema. Deshalb bekomme ich oft E-Mails von Leuten, die sich für dieses Gebiet interessieren. Und ich versuche, immer zu helfen, und teile meine Forschungen und Arbeiten – selbst die noch nicht veröffentlichten – mit diesen Leuten. Ich glaube, dass ich so auch vor ein paar Jahren auf diesen Typen reingefallen bin.
Er schrieb mich und viele andere Kolleginnen und Kollegen unter einem falschen Namen an und bat um Hilfe bei einem Artikel für ein Studierendenmagazin. Eigentlich sind solche Mails für uns relativ normal, aber hier mussten wir wegen der ungewohnten Kürze und des Tons doch die Augenbrauen hochziehen.
Wie gesagt, ich helfe anderen Leuten gerne weiter und beantworte ihre Fragen zu meinem Forschungsgebiet. Also fragte ich ihn, was er wissen wollte. Ich bekam nie eine Antwort. Im Laufe der Jahre schrieb er mir immer wieder unter neuen Namen und mit anderen E-Mail-Adressen. Die Wahrheit fand ich leider erst viel später heraus. Ich dachte zum Beispiel auch, ich schreibe mit einer Frau, die an einer Doktorarbeit über Tattoos arbeitete, weil er mich mit der E-Mail-Adresse seiner Mutter kontaktiert hatte. So teilte ich unbewusst einige meiner Arbeiten mit ihm, alles in gutem Glauben.
Mithilfe meiner und der Arbeiten von anderen Leuten schaffte es der Typ, sich an seiner Universität einen guten Ruf zu erarbeiten – einen Ruf, der komplett auf Lügen basierte. Seinen Dozenten erzählte er zum Beispiel, dass er in London bei Konferenzen auftrat und Vorträge hielt. In Wahrheit hielt ich diese Vorträge. Außerdem gab er bei seinen Uni-Aufgaben immer meine Arbeiten ab, ohne diese überhaupt großartig zu verändern. Bei einem Artikel, den ich für ein Magazin geschrieben hatte, fügte er beispielsweise nur ein paar Fußnoten hinzu und reichte das Ganze als Teil seiner Abschlussarbeit ein. Später erfuhr ich, dass er dafür eine sehr gute Note bekommen hatte – immerhin ein schöner Ego-Boost für mich.
Je weiter ich nachforschte, desto schlimmer wurde es.
Die ganze Zeit klaute er dazu noch Textausschnitte und Sachen von den Websites und Social-Media-Profilen meiner Freunde und Kolleginnen – vor allem von Dr. Anna Friedman, einer ehemaligen Akademikerin und Tattoo-Historikerin, und Dr. Gemma Angel, einer Dozentin mit Fokus auf die Geschichte und Anthropologie europäischer Tätowierungen. Er folgte niemandem von uns in den sozialen Medien, aber unsere Profile schaute er sich trotzdem regelmäßig an. So erwischten wir ihn ja erst: Er machte den Fehler und likte bei Annas Profil über die Geschichte von Tattoos eines der Bilder. Durch seinen auffälligen Usernamen landete sie schließlich auf seinem Account.
Dieser Account war im Grunde eine Eins-zu-eins-Kopie ihrer Instagram-Seite. Es gab allerdings auch Fotos von ihm, auf denen er ein bisschen so angezogen war wie ich. Die dazugehörigen Bildbeschreibungen waren verschiedene Texte, die eigentlich Anna und ich geschrieben hatten. Ich dachte mir nur: “Was soll das? Das ist total unverschämt.” Dann realisierten wir erst das Ausmaß des Ganzen. Da wurde ich richtig sauer. Ich meine, wie dreist kann man sein und einfach die Arbeiten von anderen Menschen als die eigenen ausgeben?
Je weiter ich nachforschte, desto schlimmer wurde es. Irgendwann stieß ich auf ein Video, in dem der Typ einen Vortrag hält – und zwar genauso angezogen wie ich. Manchen Leuten fiel auf, dass er sogar meine Gestik und meine Art zu reden nachahmte. Ich weiß, dass ich nicht der einzige Mensch auf der Welt bin, der Denimhemden trägt. Aber im Gesamtkontext konnte das kein Zufall sein. Vor allem, weil er da ja Sachen vortrug, die ich geschrieben hatte. Er ließ sich sogar die gleichen Tattoos stechen wie ich – wenn auch ziemlich beschissen.
Für unsere Arbeiten bekam er gute Noten und Stipendien. Obwohl er scheinbar gar nicht versuchte, seinen Betrug groß zu verschleiern.
Von da an war es nicht mehr schwer, mehr über den Typen herauszufinden und zu schauen, was er noch als seine Arbeiten ausgegeben hatte. Zwar hatte er uns immer mit falschen Namen angeschrieben, aber zum Beispiel bei seinen Vorträgen benutzte er seinen richtigen Namen. Wir googelten diesen Namen und stießen auf sein Facebook-Profil und seine Website. Die war einfach nur eine Kopie von Annas Homepage, selbst die Biografie hatte er von ihr übernommen und einfach nur den Namen ausgetauscht. Auf den Bildern war er so angezogen wie ich. Dieses Nachmachen meines Stils und meiner Tattoos hat mich am meisten erschüttert. Tätowierungen sind ja oft ein Weg, um eine eigene Identität aufzubauen und sich von anderen abzugrenzen. Schon irgendwie witzig, dass er für seine eigene Identität meine Tattoos und letztendlich mein ganzes Leben kopierte.
Was mich ebenfalls total schockierte: Er hatte es geschafft, sein ganzes Umfeld reinzulegen. Für unsere Arbeiten bekam er gute Noten und Stipendien. Obwohl er scheinbar gar nicht versuchte, seinen Betrug groß zu verschleiern. Als wir seine Universität und seine Dozenten kontaktierten, hieß es erstmal, wie brillant er sei. Ich war zuerst verwirrt und dann richtig wütend. Trotzdem konnte ich nicht wirklich etwas unternehmen, denn an sich hatte er nichts Illegales getan. Es gehen ständig Leute ins Tattoo-Studio und lassen sich die gleichen Tätowierungen wie andere stechen. Das Ganze ist trotzdem creepy und unfassbar.
Dennoch hatte der Typ gegen die akademischen Vorschriften verstoßen. Zum Glück kümmerte sich die Universität schnell um die Sache. Wir konnte ja auch genügend Beweise vorbringen. Die Leute dort erklärten uns auch, wie er überhaupt die ganzen Plagiats-Checks und die anderen Vorkehrungen überlisten konnte. Er übernahm zum Beispiel Buchabschnitte, die noch nicht bei Google digitalisiert waren. Außerdem behauptete er, dass sein Computer kaputt sei und er seine Arbeiten deswegen nur ausgedruckt und nicht digital einreichen konnte. Als dann alles aufflog, schmiss man ihn von der Uni und strich alle seine Stipendien. Seinen Master konnte er vergessen. Und ich glaube, dass man ihm auch seinen Bachelor-Abschluss aberkannte.
Es ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen, den Typen zu konfrontieren. Eine Menge Fragen habe ich dennoch. Zum Beispiel, ob er wirklich dachte, damit durchzukommen. Oder warum er die geklauten Sachen öffentlich präsentiert hat. Ich meine, wenn er das Ganze nur für sein Studium verwendet hätte, wäre die Sache vielleicht nie aufgeflogen. Und wir hätten ihm ja auch weitergeholfen, wenn er uns ganz normal gefragt hätte. Eine direkte Antwort von ihm haben wir aber doch noch bekommen, als eine Freundin, ebenfalls Akademikerin, bei seiner Uni nachhakte, warum einer der Studenten dort unsere Arbeiten klaute. Da sagte er, dass er ja eigentlich gar nichts klaute, sondern sich nur eine Arbeitsgrundlage schaffte. Von so einer typisch soziopathischen Reaktion ließen wir uns aber nicht blenden.
Vielleicht ist er immer noch sauer auf mich und wartet nur auf den perfekten Moment, um bei mir zu Hause aufzutauchen.
Heute bin ich viel vorsichtiger, wenn mich jemand kontaktiert, den ich nicht kenne. Natürlich helfe ich Studierenden noch weiter, das ist ja mein Job, aber ich schicke niemandem mehr unveröffentlichtes Material von mir. Ich achte jetzt auch mehr auf Warnsignale. Zum Glück ist die Technologie inzwischen auch fortgeschrittener und Plagiate werden besser erkannt.
Rückblickend war das eine total bizarre Erfahrung. Dennoch habe ich mich während der ganzen Sache nie ernsthaft bedroht gefühlt. Wahrscheinlich, weil ich den Typen emotional nicht an mich ranließ und er sich auf einem anderen Kontinent befand. Hätte er in der Nachbarstadt gewohnt, hätte ich vielleicht anders gedacht.
Im Januar 2018 schrieb er uns eine Entschuldigungs-Mail, auf die wir aber nicht antworteten. Ansonsten haben wir nie wieder was von dem Typen gehört. Zwar existieren seine Social-Media-Profile noch, aktiv ist er dort aber nicht mehr. Vielleicht sitzt er im Gefängnis. Oder er hat wieder eine andere Identität angenommen. Vielleicht hat er sich auch gefangen und führt an irgendeinem sonnigen Ort ein schönes Leben. Wer weiß.
Ich habe mir in letzter Zeit viele Podcasts über Stalker angehört. Oft ist es so, dass diese Stalker nie von ihren Opfern ablassen. Ich habe also Glück gehabt. Wir haben im Grunde ja das Leben dieses jungen Mannes ruiniert. Vielleicht ist er deswegen immer noch sauer auf mich und wartet nur auf den perfekten Moment, um bei mir zu Hause aufzutauchen. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, wo der Typ heute ist. Aber ich glaube, dass das auch besser so ist.