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So ist es wirklich, dein Kind gender-neutral zu erziehen

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Die Tochter darf mit Baggern spielen und der Sohn sich als Elsa Eisprinzessin verkleiden. Nicht wahnsinnig radikal, kein krasser reformpädagogischer Schritt. Trotzdem halten manche gender-neutrale Erziehung für widernatürliche Indoktrination oder gar Kindesmissbrauch. Ihre Argumente : Es gibt biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern; man solle Kindern nicht vorgaukeln, sie könnten ihre Identität frei wählen. Im Grunde genommen geht es bei gender-neutraler Erziehung aber vor allem darum, dem Kind selbst zu überlassen, wer es sein will.

Eine Studie von 2017 ergab etwa, dass Kinder in einem schwedischen gender-neutralen Kindergarten weniger in Rollenklischees dachten und eher bereit waren, mit Kindern des anderen Geschlechts zu spielen als Kinder in einem “traditionellen” Kindergarten. Der britische Psychologe Ben Kenward, einer der Autoren der Studie, war von den Ergebnissen nicht überrascht. “Die Kinder sind nicht schlechter darin, das Gender einer Person zu erkennen, sie denken nur weniger in Stereotypen”, sagt er.

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Wir haben mit drei Müttern gesprochen, die gender-neutral erziehen. Sie erklären, warum Leute sie immer noch für radikale Spinner halten. Amelia, Tochter einer der Frauen, meint: “Für mich ist es ein Privileg, gender-neutral aufgewachsen zu sein. Ich fühle mich dadurch frei.”

Evelijn und ihre Familie
Evelijn und ihre Familie | Foto: privat

Evelijn, 58: “Meine Kinder sollen ausleben können, wer sie sind”

Evelijn hat vier Kinder. Ein Sohn identifiziert sich als non-binär. Zwei Söhne identifizieren sich als männlich, ihre Tochter Amelia als weiblich.

“Ich war schon immer von queeren Menschen umgeben, ich bin in einer progressiven Familie aufgewachsen; meine Oma war Feministin. Darum habe ich mich schon immer in meiner Sexualität sehr frei gefühlt. Ich glaube nicht an das soziale und kulturelle Konstrukt von Gender. Deswegen sollten auch meine Kinder ausleben können, wer sie wirklich sind. Ich habe allerdings immer Pronomen verwendet und auch nicht das biologische Geschlecht meiner Kinder verleugnet. Aber ich habe meiner Tochter zum Beispiel nie gesagt, dass sie ein ‘braves Mädchen’ sein soll, oder meinen Söhnen, dass sie sich wie ‘echte Männer’ verhalten sollen. Alle meine Kinder sollten sich emotional frei ausdrücken können und selbst entscheiden, mit welchen Spielsachen sie spielen. Blau und Rosa waren bei uns einfach nur Farben. Sie hatten nichts mit Jungs oder Mädchen zu tun.”

Amelia
Amelia heute | Foto: privat

Amelia, 24: “Meine Mutter solle mir einen BH kaufen, riet mir mein Sportlehrer”

Amelia ist Evelijns Tochter. Sie ist mit ihren Brüdern gender-neutral aufgewachsen.

“Früher haben meine Mitschüler mir jeden Tag gesagt, dass ich irgendetwas nicht kann – nur weil ich ein Mädchen bin. Das hat mich aber nur noch mehr angespornt. Ich wollte ihnen unbedingt das Gegenteil beweisen. Ich hatte in meiner Kindheit immer das Gefühl, dass Erwachsene Mädchen und Jungen trennen wollen. Das führt nur dazu, dass Kinder Angst haben, mit dem anderen Geschlecht zu interagieren. Einmal sagte eine Jungsgruppe zu mir, ich könne nicht mit ihnen spielen, weil sie unter sich sein wollten. Das hat für mich gar keinen Sinn gemacht. Auch Eltern haben mich kritisiert. Meine Mutter solle mir einen BH kaufen, rieten mir etwa mein Sportlehrer und die Mutter eines anderen Kindes. Der Grund: Ich sei für den gemischten Sportunterricht unangemessen gekleidet. Gender ist nicht nur ein leerer Begriff für mich. Für mich ist es ein Privileg, gender-neutral aufgewachsen zu sein. Ich fühle mich dadurch frei.”


Auf Broadly: Warum eine Trans-Jugendliche ihre Schule verlassen musste


Dani: “Einige Leute glauben, dass wir unser Kind vernachlässigen”

Dani hat eine achtjährige Tochter.

“Egal ob Tanzen, Fußball, Mein kleines Pony oder Batman – wir sagen nie: ‘Das ist für Jungs, das darfst du nicht.’ Einige Leute glauben deswegen immer noch, dass wir unser Kind vernachlässigen oder misshandeln. Tatsächlich ermöglichen wir unserer achtjährigen Tochter einfach nur, neue Dinge zu entdecken. Ich finde ehrlich gesagt, alle Eltern sollten so handeln; dafür braucht man kein Spezialwissen oder abstrakte Ansichten. Matilda ist nicht wegen ihrer Identität verwirrt. Sie bezeichnet sich selbst als Mädchen, das betont sie auch. Aber sie mag auch Dinge, die laut der Gesellschaft ‘für Jungs’ sind – das ist alles. Ihr fällt allerdings auf, wie oft Mädchen und Jungs getrennt werden. Wenn sie sieht, dass Kleidung im Laden geschlechterspezifisch getrennt ist, redet sie mit ihren Klassenkameraden darüber, dass alle Farben für jeden da sind und dass Jungs auch pink tragen können. Meiner Tochter ist es viel wichtiger, was ein Kind spielt, als wer da gerade spielt.”

Cearrahs Sohn
Cearrahs Sohn | Foto: privat

Cearrah, 28: “Ich möchte nur, dass mein Sohn sich wohl fühlt”

Cearrah hat einen achtjährigen Sohn.

“In einer amerikanischen Kleinstadt ist es schwer, ein Kind gender-neutral zu erziehen: In seiner ehemaligen Schule sollte mein Sohn sich zum Beispiel umziehen, weil seine Kleidung ‘zu mädchenhaft’ war. Andere Kinder mobbten ihn. Der Rat der Lehrer: Ignorier’ es. Es wird ihn abhärten. Mit anderthalb Jahren begann mein Sohn, sich für Kleider und Glitzer zu interessieren. Damals hatte ich ihm noch stereotype Kleidung und Spielsachen für Jungs gekauft. Zuerst habe ich versucht, ihm diese Sachen weiterhin aufzuzwingen, aber das hatte keinen Zweck. Es brach mir das Herz ihn so traurig zu sehen. Schließlich half mir der Blog Raising My Rainbow, ihn besser zu verstehen. Seitdem darf er selbst bestimmen, was er trägt – und ist eins der glücklichsten Kinder, das ich kenne. Ich bin keine Radikale, die ihrem Sohn ihre Ansichten aufzwingt. Das verstehen viele Menschen nicht. Ich möchte nur, dass er sich wohl fühlt. Mein Sohn identifiziert sich als Junge und möchte mit ‘er’ angesprochen werden. Aber er ist nicht beleidigt, wenn Fremde ihn für ein Mädchen halten. Manchmal korrigiert er die Leute, manchmal nicht.”

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