Wir beschweren uns beim Leben. Von dem wir wegen all der Einschränkungen gerade so wenig zu haben glauben. Doch während wir im Online-Yogakurs den herabschauenden Hund machen oder uns über Zoom bei Stadt-Land-Fluß betrinken, vergessen wir schnell, dass andere Menschen gerade viel mehr soziale Interaktion einbüßen. Die Generation, die während Corona am gefährdetsten ist, ist nicht gerade die Generation Facetime-fähiges-Handy. Wie ist es, alt zu sein, in einer gerade mehrheitlich digitalen Realität? Trotz Pandemie können wir jungen Menschen unserem Alltag relativ unkompliziert nachgehen. Die Pandemie gibt uns neue Regeln. Freunde treffen wir draußen auf Abstand. Homeoffice läuft über Video-Calls.
Vieles, was meine Großmutter in der Schweiz gerne tut, entfällt jedoch teilweise oder ganz: Kirche, Wandern mit ihrer Rentnergruppe, Sport und ehrenamtliches Arbeiten im Krankenhaus. Im ersten Lockdown hat sie die Zweige und Äste in ihrem Garten gesammelt, angezündet und dabei fast eine Tanne mit abgebrannt. Sie ist sehr schlecht darin, sich zu langweilen. Sie hat die rauesten Hände, die ich je gesehen habe. Und ich? Ich mache mir Sorgen.
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Bis zum 1. Dezember waren nur etwa 4.6 Prozent der Menschen, die in Deutschland an Corona gestorben sind, jünger als 60 Jahre. Freunde von mir sagen immer wieder den Satz: “Statistisch gesehen, kann uns das Virus kaum was anhaben.” Und sie rechtfertigen damit Homepartys im Lockdown. Doch statt Erleichterung löst diese Zahl etwas anderes in mir aus. Ein Gefühl der Verantwortung dafür, die ältere Generation vor Ansteckung zu schützen – und Wut, wenn Freunde diese nicht ernst nehmen.
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Im Sommer nach dem Lockdown rückte das soziale Leben wieder in die Nähe von Normalität. Man konnte sich zumindest einreden, dass es OK ist, wieder zu zehnt in lauten Bars Aperol Spritz zu trinken. Für die Großeltern-Generation blieb das Risiko jedoch gleich. Während wir uns jetzt im zweiten Lockdown befinden, hat für sie der erste nie wirklich aufgehört. Und die Gefahr zu vereinsamen wird für sie größer. Die Zahl der Alleinlebenden steigt im Alter. Ein Viertel der 65- bis 69-Jährigen lebt alleine. Bei den über 85-Jährigen sind es zwei Drittel.
In der Pandemie schreiben uns Zahlen oft unsere Gefühle vor. Ich habe Angst um meine Großmutter. Angst, dass sie krank wird oder ihr wegen der Einsamkeit die Decke auf den Kopf fällt. Schon vor der Pandemie habe ich sie regelmäßig angerufen. Einmal die Woche. Jetzt häufiger. Die Pandemie und die Machtlosigkeit gehen Hand in Hand. Genau wie das zu Hause sitzen fühlt sich das Telefonieren mit meiner Großmutter an, als wäre es nicht genug. Trotzdem ist Anrufen das Einzige, was ich gegen ihr Alleinsein tun kann.
Also wähle ich ihre Nummer, um sie zu unterhalten, um sicherzustellen, dass ihr nicht so langweilig wird, dass sie den Garten abbrennt. Und wahrscheinlich auch, um mich zu beruhigen. Ich muss wissen, dass sie alles noch ernst nimmt.
Sie sagt: “Ich habe keine Angst vor Corona.”
“Du musst trotzdem aufpassen”, ermahne ich sie.
“Ich war schon oft im Krankenhaus. Ich glaube an Gott. Er schützt mich.” Dann fügt sie an: “Im Urlaub war ich einmal so wütend, als wir nicht in die Kirche konnten. Manchmal bin ich wie ein Vulkan.”
“Meinst du, so wie Stromboli?”
“Nein, der ist doch harmlos. Eher so wie Ätna.” Sie lacht.
Wir stehen uns nahe. Ich nenne meine Eltern schon immer beim Vornamen. Bei meiner Großmutter durfte und wollte ich das nie. Großmutter Carla heißt für mich nicht Carla, sondern Nonna. Oft spricht sie so sogar von sich selbst in der dritten Person.
Wenn sie mich anruft, fragt sie nicht, wie es mir geht. Sondern fährt nach der Begrüßung mit besorgten Tonfall fort und nimmt direkt das Schlimmste an: “Hast du noch nichts gegessen?”
Manchmal fragt sie, ob es bei mir gerade auch regnet. Und wenn es das tut, dann sind wir ganz froh, dass wir wenn schon nicht den Ort wenigstens das Wetter teilen.
Langweilig sei ihr nie, sagt sie mir heute am Telefon. Zweimal am Tag bete sie den Rosenkranz. Sie schickt Pakete mit Gebäck an Nonnen in einem italienischen Kloster. Weil sie heute noch eins zur Post bringen will, hat sie wenig Zeit zu telefonieren. Und sie erzählt mir, was sie diese Woche kochen will. Dienstags Lasagne (eine Schicht Fleisch, dann eine Schicht Spinat und so weiter), am Mittwoch Lachs mit Kürbisgnocchi und am Donnerstag gefüllte Carciofi und Kartoffelgnocchi. Ihre Mutter, meine Urgroßmutter, die während des ersten Lockdowns als 108-jährige verstorben ist, hatte mal in einem Radiointerview gesagt, dass das Geheimnis für ihr langes Leben die selbstgemachten Ravioli sind. Jeden Tag Pasta und keinen Platz für Angst.
Oder doch? Nonna sagt: “Manchmal habe ich Albträume. Ich koche so viel Essen, dass ich nicht mehr weiß wohin damit.”
Wie meistens sprechen wir heute auch nicht über das Jetzt, sondern über das, was war und das, was hoffentlich noch kommt. Denn gerade gibt es so viel Gegenwart, dass sie uns über den Kopf wächst, dass wir nicht wissen wohin damit. Ob ich mich noch daran erinnern könne, wie sie mir einen Pony geschnitten hat und meine Mutter danach drei Tage nicht mit ihr gesprochen hat? Oder wie ich als Kleinkind vom Sessel auf den Wohnzimmerboden geknallt bin? Weil das lange her ist und weil Pandemie ist, lachen wir darüber. Deswegen traue ich mich nicht nicht, sie zu fragen, ob sie einsam ist, wegen des Lachens. Weil wir uns gegenseitig davon ablenken, was gerade auf der Welt geschieht, und darauf konzentrieren, was wir kontrollieren können: den Inhalt unseres Kühlschranks oder Pastasoße.
Sie sagt, dass sie mich in Berlin besuchen will, um mit mir ins Kino zu gehen und zweimal am Tag zu kochen:
“Ich komme nächsten Herbst, dann haben die italienischen Artischocken Saison.”
Mit jedem Gespräch lerne ich erneut zu akzeptieren, dass ich nicht kontrollieren kann, ob sie sich die Hände desinfiziert, nachdem sie sich in der Bahn festgehalten hat. Aber ich kann ihr zuhören, wenn sie mir erzählt, welche Früchte sie als Kind in ihrem Garten gegessen hat. Oder wenn sie von den einzigen Dingen erzählt, die auch während Corona konstant bleiben. Olivenöl, Weißwein, vielleicht eine Frühlingszwiebel, Sahne. Eine Weißweinsoße bleibt auch während einer Pandemie eine Weißweinsoße.
Weil sie gut darin ist, viel zu tun zu haben, muss ich nie das Gespräch beenden. Zum Abschied sagt sie immer: “OK, Anna, ich lass dich.” Und weil sie auch ganz gut darin ist, Leute sehr doll zu umarmen, fügt sie dann an: “E ti abbraccio forte forte forte.”
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