Es heißt, man suche sich seinen Verein nicht aus. Der Verein selbst ist es, der einen aussucht. Fußball-Fans sind eben manchmal speziell. Ihre Freizeit und ihr gesamtes Geld gehen für ihren Verein drauf, sie setzen Beziehungen aufs Spiel oder schlagen sich die Köpfe ein. Alles für den Fußball, alles für den Klub.
Aber es gibt Fans, die sogar noch mehr riskieren, wenn es um ihre Liebe zum Fußball gibt. Sie werden Fan eines Vereins, obwohl dies offiziell verboten ist. Sie riskieren es, sich mit einem ganzen Staatsapparat anzulegen und in den Knast zu gehen. So ein Fan war Wolfgang Großmann. Wolle – ein Fan zwischen Ost und West heißt das Buch über seine unglaubliche Lebensgeschichte.
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Wolfgang Großmann, genannt Wolle, wurde 1957 in Mönchengladbach geboren. 1959 zogen seine Eltern in ein Dorf bei Dresden. Zwei Jahre später wurde die Mauer gebaut. Die Großmanns waren plötzlich in der DDR eingesperrt.
Als Jugendlicher geht Wolle zu Dynamo Dresden und wird in kürzester Zeit zu einer der wildesten Gestalten in der Kurve. Gleichzeitig entdeckt er seine Liebe zum Verein aus seiner Geburtsstadt. Er rennt mit einem Mix aus Dresden- und Mönchengladbach-Klamotten herum, provoziert die Stasi. Verwandte von der anderen Seite der Mauer bringen ihm stets frischen Nachschub: Trikots und Schals. Als Wolle dann auch noch Ausreise beantragt, weil er weg will “aus diesem Scheißland”, hat ihn die Staatssicherheit endgültig auf dem Kieker – was ihn nicht daran hindert, weiter den großen Fußball-Outlaw der DDR zu geben. Koste es, was es Wolle.
In den wilden Siebzigern gehören die Wochenenden dem Fußball. Frühjahrsfeste, schnelle Pferde und selbst die schönen Mädchen kommen erst auf den weiteren Positionen. Nichts kann ihm den Kick verschaffen, den ihm das Erlebnis Fußball bringt. Jeder Ausflug ist eine Reise ins Ungewisse. Denn die wilden Gestalten gibt es ja auch in diesen und anderen Städten und Fans eines erfolgreichen Großvereins wie der SG Dynamo sind überall verhasst.
Bei einem Spiel in Erfurt werden die Gäste aus der Elbstadt einmal von einer Übermacht nicht unbedingt freundlich gesinnter rot und weiß gekleideter Zuschauer eingekreist, das sieht nach schlimmer Mische nach Schlusspfiff aus. Doch ein waghalsiger Plan rettet die Dynamos. Unbeobachtet vom Gegner klauben die Dresdener alles auf, was ihnen die ins nackte Erdreich gekloppten Stufen im Block an möglichen Wurfgeschossen zu bieten haben. Auf einen Befehl hin (“Alles auf Rotweiss!”) schmeißen die Dresdener mit Steinen, Steinchen und Dreck und sich danach auf die perplexen und überrumpelten Erfurter.
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Zum Ende seiner zweijährigen Lehrzeit ist Wolle längst ein gestandener Stadiongänger. Er ist erst 18 Jahre alt, hat sich aber schon Respekt in der Szene verschafft. Weil er einer dieser Verrückten ist, die scheinbar keine Angst zu haben scheinen. Wenn er dann an Spieltagen morgens nach dem Frühstück durch Dresden-Neustadt läuft – West-Jeans, West-Jeansjacke, am Ärmel seinen Borussia-Aufnäher, in der Hand eine metergroße selbstgebastelte Dynamo-Fahne –, fühlt sich Wolle wie der König von Dresden.
1981 gründet Wolle gemeinsam mit anderen Verrückten den ersten Bundesliga-Fanklub der DDR, die “Dresdener Löwen 81”. Bei den mal als Geburtstagsfeier, mal als Mitgliederversammlung des Taubenzüchtervereins getarnten Treffen wird Bier getrunken, die westliche Fußballzeitung Kicker gelesen und Scheiße gelabert. Was Fußballfans halt so machen. Unglaublich, aber wahr: Die Stasi macht sich die Mühe und schleust gleich mehrere Inoffizielle Mitarbeiter (IM) in die Gruppe ein. Sie führt sogar die höchste Stufe der feindlichen Bearbeitung durch, einen sogenannten “Operativen Vorgang”. Die Spitzel halten fest:
“Inoffiziell wurde bekannt, daß sich unter der Bezeichnung ‘Dresdner Löwen 81’ eine Gruppe Jugendlicher zusammengeschlossen hat, die sich als Bundesliga-Fan-Club versteht. (…) Als Vorsitzender fungiert der Großmann, W. Er ist ein ehemaliger rechtswidriger Antragsteller. (…) Die Gruppe hält sich während der Punktspiele von Dynamo Dresden im sogenannten Fanblock des Dynamo-Stadions auf. Die Spiele werden regelmäßig besucht. Außerdem werden sich alle bietenden Gelegenheiten wahrgenommen, um an Spielen von Bundesligamannschaften in der DDR und im sozialistischen Ausland teilzunehmen. (…) Bei den Spielen werden umfangreiche Kontakte zu BRD-Bürgern angestrebt.”
Und als die Jungs bei einer Mondscheinfahrt auf der Elbe zu viel Party machen, schreibt ein zufällig anwesender NVA-Soldat der Stasi:
“Nachdem die Jugendlichen reichlich dem Alkohol zugesprochen hatten, begannen sie zu singen und später rumzukrakelen und zu schreien. Die Texte der gesungenen Lieder waren zum größten Teil auf die Fußball-WM gerichtet. Ein anderes Lied besaß folgenden Text: ‘Hängt die Roten, hängt die Roten, hängt die roten Fahnen raus.’ Es wurden Verse mit herabwürdigenden Worten gegenüber Teilnehmerländern der Fußball-WM und Hochrufe auf ‘Deutschland’ geschrien.”
In dieser Zeit erlebt Wolle seinen größten Erfolg als widerspenstiger Fußball-Fan. Am 16. September 1981 spielt Borussia Mönchengladbach beim 1. FC Magdeburg und irgendwie schaffen es Wolle und seine Freunde ins Teamhotel der Gladbacher, wo es von Stasi-Leuten nur so wimmelt. Draußen ist die Atmosphäre aufgeheizt. Polizisten prügeln mit Knüppeln auf Fans ein, die einen Blick auf die Stars aus dem Westen erheischen wollen. Aber Wolle lässt sich weder von der Polizei draußen noch von der Sasi drinnen aufhalten.
Wolle wagt sich noch eine Etage weiter nach oben. Und noch eine. Hier soll die Mannschaft untergebracht sein. Er klopft an eine der Türen, geht rein, schließt die Tür. Dreht sich um. Und schaut in die verdutzten Gesichter von Armin Veh und Lothar Matthäus, die gerade die drohende Langeweile mit einer Partie Backgammon verscheuchen wollen! “Hallo”, sagt Wolle und erzählt den beiden Fußballern dann in der Kurzversion von seiner Biografie. Matthäus und Veh sind perplex, aber auch gute Gastgeber. Sie fragen Wolle, wie das Leben so ist in der Zone. Warum er ausgerechnet Gladbach-Fan geworden sei. Und was wohl mit ihm passiert, wenn ihn später die Stasi einkassiert. Wolle ist das in diesem Moment völlig egal. Er ist jetzt hier, im Hotelzimmer von Armin und Lothar, die fasziniert seinen Geschichten lauschen.
Wolle bleibt nicht ewig, auch wenn sich die Ewigkeit in diesem Zimmer ganz gut ertragen lassen dürfte. Die Fußballer schenken diesem Wahnsinnigen Broschüren, Autogrammkarten, ein Kartenspiel – was eben gerade greifbar ist. Für Wolle sind es echte Schätze. Damit beladen, verabschiedet er sich und schleicht vorsichtig zurück ins Treppenhaus und von dort unbeobachtet zurück an den Tisch. Was für ein Abenteuer.
1983 lässt die Stasi den Fanklub hochgehen, alle Mitglieder werden verhaftet. Wolle kommt aber bald wieder frei. Seiner Frau hat die Stasi besonders zugesetzt, weil sie sich offenbar in den falschen Mann verliebt hat, muss sie ihren Arbeitsplatz wechseln, giftigen Leim auf Schuhsohlen verteilen und wird so lange gemobbt, bis sie zusammenbricht und nicht mehr kann. Die Behörden schrecken nicht mal davor zurück, ihr damit zu drohen, ihren 1982 geborenen Sohn Daniel wegzunehmen.
Doch dann, 1985, kommt endlich die Erlösung. Wolle und seine Familie dürfen endlich raus.
Er fährt direkt nach Mönchengladbach und steht schon einen Tag später beim Pokalspiel von Borussia Mönchengladbach in Solingen in der Kurve und weil man im Westen schon längst die Geschichte von “Gladbach-Wolle” kennt, wird er wie ein König behandelt und nach allen Regeln der Kunst abgefüllt.
Nach diesen genialen ersten Tagen verlief Wolles Leben im Westen aber nicht immer nach Plan. Seine Beziehung zerbrach. Er war in psychiatrischer Behandlung und plante sogar seinen Selbstmord. Er ist immer noch Fan von Borussia Mönchengladbach – diese Beziehung hat also gehalten. Aber Wolle schaut auch immer noch nervös in den Rückspiegel, wenn ihm ein Auto zu lange folgt.
Wolle – ein Fan zwischen Ost und West von Alex Raack ist im Tropen-Verlag von Klett-Cotta erschienen und kostet 16,95 Euro.