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Wie Rechte einen "Messerangriff" in einer Berliner U-Bahn für eine Hetzkampagne nutzten

Ein Deutscher mit Eisernem Kreuz als Tattoo sticht auf einen anderen Mann ein. Doch ehe die Polizei die Tat aufklären kann, wütet das rechte Internet bereits gegen "Südländer" und "Kanaken".
Collage: imago | STPP, imago | Ralph Peters | VICE

Nach jedem Messerangriff lassen sich im Internet die gleichen Mechanismen beobachten: Während Politiker zur Besonnenheit und Geduld aufrufen und Linke darauf verweisen, dass die Herkunft des mutmaßlichen Täters keine Rolle spiele, kann es dem rechten Internet nicht schnell genug gehen, "Moslem!" zu rufen. So wurde ein vermeintlicher Messerangriff in der Berliner U-Bahn-Linie U7 zur vielleicht perfidesten Fake News des Jahres.

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Am vergangenen Dienstag verbreitete sich die Nachricht, wonach ein Mann einen anderen auf Höhe U-Bahnhof Bayerischer Platz in Berlin-Schöneberg mit einem Messer angegriffen habe. Das ist zweifellos tragisch, und zwar unabhängig davon, wer hier wen angegriffen hat. Doch statt die Ermittlungen abzuwarten, setzte sich die rechte Spekulationsmaschine in Gang und schuf ihre eigene Wahrheit: Der Täter ist Moslem, das Tatmotiv Terror und die Medien verschweigen uns das alles bewusst.

So schrieb der Twitteraccount @wolfisegrimm am Freitag, also drei Tage nach dem Angriff: "U7 Bayrischer Platz in Berlin: Südländer mit Messer. Schwerverletzte. U-Bahn 2,5 Stunden unterbrochen. Keine Meldung in Medien wert." Dazu ein verwackeltes Twittervideo, auf dem Polizisten einen Mann in der leeren U-Bahn abführen, während Schaulustige das Geschehen beobachten. Der Tweet wurde über 630-mal verbreitet. Ein anderer schrieb: "Kanake stach wild um sich, mehrere Personen verletzt. Der gleichgeschalteten #Lückenpresse ist das keine Meldung wert." Zahlreiche reichweitenstarke Portale wie die Epoch Times und weitere Accounts stürzten sich auf die Meldung wie Hyänen auf Antilopenkadaver, darunter auch @DoraGezwitscher, ein Nutzer, der fast 8.000 Menschen erreicht und den auch BILD-Chefredakteur Julian Reichelt gern mal retweetet.


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"Für uns ist das unschön und ärgerlich"

Das Problem: Es gab einen Angriff in besagter U-Bahn. Nur nicht ganz so, wie ihn sich das rechte Internet herbeigesehnt hätte. Der Polizei zufolge ist es in der U7 tatsächlich zu einem Streit zwischen zwei "gebürtigen Berlinern" gekommen sein. Weil ein 37-Jähriger mit der Tätowierung eines Eisernen Kreuzes im Wagen saß, soll ihn ein 23-Jähriger als "Fascho" bezeichnet haben. Das Eiserne Kreuz ist ein Kriegsorden, den der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. Anfang des 19. Jahrhunderts als Tapferkeitsauszeichnung verlieh – das NS-Regime belohnte damit im Zweiten Weltkrieg auch Massenmörder. "Hierauf entbrannte Gerangel", schreibt die Polizei in einer Mitteilung, "in dessen Zuge der eben noch als 'Fascho' Beleidigte der anderen Person mit einem bisher unbekannten Tatmittel seitlich in den Oberkörper gestochen haben soll."

Am Bayrischen Platz schritt die Polizei ein und verhaftete den 37-jährigen. Der Täter war also weder Südländer noch allem Anschein nach Muslim, sondern ein Deutscher. Sowohl seine politische Gesinnung als auch der Tatgegenstand, den die Polizei aktuell nur als "spitzen Gegenstand" umschreibt, seien aktuell "Gegenstand der Ermittlungen", wie ein Sprecher der Berliner Polizei VICE bestätigte. Ein "südländisches Aussehen" könne man ebenfalls nicht bestätigen.

"Auch wenn uns bewusst ist, dass jede Person ihre individuelle Wahrnehmung hat, kursieren in den sozialen Medien mittlerweile falsche Darstellungen", schreibt die Polizei weiter. Bis die Polizei erklären konnte, was wirklich geschehen war, war die Nachricht in den weiten Welten einer Filterbubble allerdings schon zur Gewissheit geworden. "Für uns ist das unschön und ärgerlich", sagte der Polizeisprecher gegenüber VICE. Zu einer Richtigstellung kam es bis heute auf keinem der rechten Accounts.

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