Der Schweizer Fotograf Willy Spiller flog 1977 nach New York. Im Gepäck hatte der damals 30-Jährige Geld für vier Wochen: Er blieb mehrere Jahre. Sein Fotobuch Hell on Wheels, das jetzt erscheint, zeigt Fotos aus der New Yorker Subway in den Jahren 1977 bis 1984. Willy Spiller dokumentierte mit seiner Kamera die Fahrten durch den gefährlichen Untergrund zur Zeit des ersten Raps und Schlaghosen.
VICE: Warum bist du Fotograf geworden?
Willy Spiller: Es ist die amüsanteste Art der Existenzsicherung. Ich arbeite nicht gerne und dachte, Fotografieren, das ist es. Ich lag damit nicht falsch und bin immer noch überrascht, dass ich Geld für etwas bekomme, das ich so gerne mache.
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Du bist in Zürich aufgewachsen und in den 70er-Jahren nach New York gereist. Wie kam das?
Nach der Fotografieausbildung an der ZHdK habe ich zuerst als Lokalreporter bei einer Zeitung in Zürich gearbeitet. Ich beschloss nach New York zu gehen, nur mal um zu schauen. Das war 1977, ich war gerade 30 Jahre alt und es gefiel mir sofort.
Vom beschaulichen Zürich in die Weltmetropole New York. Wie war die Ankunft?
Ich hatte Angst. Vor allem wegen der Filme, die ich gesehen habe. Alle Gebäude rund um den Flughafen waren zerfallen—es wirkte auf mich wie im Krieg. Ich kannte nur den Namen des Chelsea Hotels. Das Hotel war damals legendär, vor allem legendär schmuddelig: Ein verpisstes Lavabo, eine vergammelte Matratze und Fenster, die sich nicht richtig schliessen liessen. Doch war mir das so egal, wartete doch draussen das grosse Abenteuer auf mich. Und es fing gleich an: Als ich staunend an der Strassenecke stand, kam einer auf mich zu und blaffte mich an: “Was gaffst du?” Ich war zwar eingeschüchtert, ging aber subito in einen Diner und bestellte Bacon and Eggs, das Einzige, was ich kannte. Die ältere Servierdame sagte zu mir: “Sunny Side Up, Sweetheart?” Ich verstand gar nicht, was sie meinte und ich verstand lange auch nicht, wie New York funktioniert.
Du bist trotzdem geblieben?
Ich hatte Geld für vier Wochen. In den frühen 70er-Jahren war Europa wegen des Vietnamkriegs gegen Amerika. Auch ich wäre damals nie in die USA gereist. Dann schlug es um und New York wurde zur Weltmetropole. Vor allem wegen der Musik und der Mode. Ich fotografierte für europäische Zeitungen und ich kam zur richtigen Zeit: Meine Bildreportagen des neuen Lifestyles verkauften sich bestens.
1979 gab es im New Yorker U-Bahn-System 250 Verbrechen pro Woche. Fotograf Bruce Davidson, der das Fotobuch Subway herausgab, stieg ausgerüstet, als würde er in einen Kampf ziehen, in den Untergrund. Du auch?
Nein, ich war eher dandymässig unterwegs. Natürlich hatte ich Angst. Es war ein beliebter Sport, Leute auf das Gleis zu schubsen, wenn der Zug einfuhr. Ich wurde auch Zeuge einer solchen Situation.
Wurdest du nie ausgeraubt oder bedroht?
Ausgeraubt nie, aber gepackt: Ich hatte ein Foto geknipst. Plötzlich rannte ein riesiger Mann in einem Tanktop auf mich zu. Es war heiss, seine schwarze Haut glänzte wegen des Schweisses. Er schrie: “Did you take my picture?!” Ich überlegte fieberhaft, was ich antworten sollte, “Ja” oder “Nein”. Ich entschied mich für: “Yes, I did”. Er rammte die Faust neben meinen Kopf in die Scheibe und schrie: “Very good! You gonna be rich with this picture because I am gonna be famous!”
Wurde er berühmt?
Keine Ahnung. Dafür hat sich ein Mädchen vom Titelbild des Buches wiedererkannt. Ihr Sohn macht jetzt einen grossen Wirbel auf Instagram. Er hat die Geschichte gepostet und jede Menge Kommentare erhalten. Vielleicht wird sie berühmt.
Auf dem Titelbild sind Schulmädchen in gleissendem Licht zu sehen …
Die Vogue in Amerika hat dazu etwas Lustiges geschrieben: “Die Girls seien offensichtlich ihren Uniformen entwachsen.” Das ist eine sehr schlüpfrige Bemerkung. Aber wenn du genau hinschaust, dann stimmt es. Sie benehmen sich zwar wie unschuldige Schulmädchen, aber ich behaupte, Erfahrungen sind vorhanden. Die ganze Szene wirkt unschuldig in diesem Tageslicht. Es hat sogar einen Balthus-Touch.
Was faszinierte dich an der U-Bahn?
Das Abenteuer. Das kennen wir Schweizer so nicht: Wir fahren Tram oder Bus. Die Subway war damals sehr geheimnisvoll. Sie war für mich das Theater des Lebens. Manche benutzten die Subway als Laufsteg, andere als Bühne und gewisse Gauner als Selbstbedienungsladen.
In einem Artikel über dich steht, dass du Sex and Crime magst, weil das Themen sind, die die Menschen am stärksten berühren. Wieviel Sex and Crime steckt in Hell on Wheels?
Jeder Betrachter kann für sich entscheiden, ob ihn die Fotos anturnen oder nicht. Das Buch enthält jedoch sicher Crime: Ich war überrascht über den Begleittext des Buches, der sagt, die Subway sei hier als rollende Disco dargestellt. Das Buch enthält immerhin Fotos von prügelnden Menschen.
Die Crime-Bilder sind aber in der Unterzahl. Ist das Buch beschönigend?
Das Gefühl habe ich nicht. Die Fotos dramatisieren nicht. Die Normalität ist genug spannend. Bruce Davidson dramatisiert, indem er blitzt und immer aus dem gleichen Blickwinkel fotografiert. Es sieht gefährlich aus, obwohl es das gar nicht ist. Er fragte die Leute auch, ob er sie fotografieren dürfe. In meinem Buch gibt es Beobachtungen von Leuten, die nicht mit dem Fotograf interagieren, sondern sich transportieren lassen. Das ist spannender.
Warum erscheint dein Buch Hell on Wheels erst jetzt?
1986 erschien mein Buch Subway—New York. Menschen im Untergrund. Miserabel gedruckt mit schlechtem Layout—ein Misserfolg. Heute sind diese Bücher verschollen, doch wenn eines auftaucht, dann wird es um 200 bis 300 Euro gehandelt. Es gibt anscheinend eine Fangemeinde.
Dein aktuelles Buch ist auch ein Zeitzeuge der damaligen Mode.
Ja, stimmt. Damals wäre es mir nie in den Sinn gekommen, das Warten auf dem Perron als Fashion-Catwalk zu sehen. Die Mode war zum Schreien, aber auch ich lief so rum. Latzhosen fand ich zwar das hinterletzte, dann lieber im Glitzer-Outfit. Die Nostalgie nach den 80er-Jahren ist gross, das erklärt auch den Riesenerfolg der Serie The Get Down.
Findest du die Serie gelungen?
In der gleichen Staffel gibt es qualitativ sehr unterschiedliche Folgen – vom kitschigen Schultheater bis zur raffinierten, schnellen Tanzszene. Der offensichtlichen Ehrgeiz, sehr authentisch sein zu wollen, ist mir persönlich zu penetrant. Aber die Musik ist der Hammer.
Was fotografierst du heute?
Im ÖV mache ich pausenlos Handy-Fotos. Eine gute Übung, es kommt nicht darauf an, was du anschaust, sondern was du siehst. Es braucht Überwindung, doch es gibt wunderbare Szenen. Im 31er-Bus Richtung Schlieren beispielsweise machen die Leute oft Spässe, wenn sie bemerken, dass ich sie fotografiere. Die Aufnahmen sind mein humorvolles, fotografisches Tagebuch zum Leben.
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