Eine Standard-S-Bahn-Fahrt in Berlin läuft etwa so ab: Kopfhörer rein, Kaffee in der einen Hand, Handy in der anderen. Musik an, Welt rauscht vorbei. Es könnte auch eine Computeranimation sein—Start und Ziel sind einprogrammiert, der Weg läuft automatisch.
Manchmal denke ich über die Menschen nach, die wenige Zentimeter neben mir stehen: Was ist das für ein Buch, das du liest? Warum trägst du Pelz? Warum fragst du mich nach Geld? Heute stelle ich diese Fragen.
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Ich habe kein Ziel. Ich bleibe einfach 24 Stunden lang in der Berliner Ringbahn sitzen. Eine 37,5 Kilometer lange Bahnstrecke rund um die Berliner Innenstadt. Vorbei an 27 Stationen.
Weiter, immer weiter, würde Olli Kahn sagen. Ewige Wiederkunft des Gleichen, würde Nietzsche sagen. Schon wieder Ostkreuz, denke ich mir nach Runde 12.
Eine halbe Million Menschen steigen auf dieser Strecke jeden Tag zu. Hier fahren alle Altersgruppen, (fast) jede Schicht: Perlenohrringe und Jack-Wolfskin-Jacken steigen in Schöneberg zu; DB-Securitys beobachten nachts am Gesundbrunnen im Wedding die Lage. Hier gebe es jedes Wochenende Probleme, sagen sie mir.
Um eins kurz zu klären: Ja, ich saß tatsächlich 24 Stunden in der Ringbahn—von Samstag morgen bis Sonntag morgen, mit kurzen Unterbrechungen, um lebensnotwendigen Bedürfnissen nachzukommen, und abzüglich eines kurzen Ausflugs in die U-Bahn. Die erste Frage, die ich einem Menschen mir gegenüber stellte, war: “Warum lächelst du?” Fünf Stunden später traf ich eine Veganerin, die eine Pelzkollektion entwirft, 13 Stunden später ging ein besoffener Rassist auf einen Polen los.
24 Stunden, 21 Runden, sechs Geschichten.
Wenn du auf die roten Punkte klickst, öffnen sich Fotos von Menschen, die ich getroffen habe. Eine ganze Runde mit der Ringbahn dauert eine Stunde und sieben Minuten.
Runde 1, 9:10 Uhr: Luwam und Mbrak (17) aus Eritrea fahren zum Kirchenchor
Das Erste, was mir an Mbrak auffällt, ist ihr Tattoo, ein Kreuz auf der Innenseite ihres Unterarms. “Wir fahren zur Kirche”, sagt ihre Freundin Luwam. “Wir singen dort”, sagt Mbrak. Die beiden sind vor einem halben Jahr aus Eritrea nach Deutschland gekommen. Aus keinem Land Afrikas fliehen so viele Menschen wie aus Eritrea im Nord-Osten des Kontinents. Sie fliehen vor lebenslangem Militärdienst, Terror und Verfolgung. Dennoch machen sie gerade einmal zwei Prozent der Flüchtlinge in Deutschland aus. Flüchtlinge, wie Mbrak und Luwarm, die nun in der S-Bahn neben uns sitzen. Allein in diesem Jahr haben in Berlin schon gut 24.000 Menschen einen Asylantrag gestellt, im vergangenen waren es noch mal mehr.
Im ehemaligen Flughafen Tempelhof entstand Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft. 2500 Menschen lebten dort. Vor dem LaGeSO campierten über Wochen hunderte Menschen. Wedding hilft, Kreuzberg hilft—in den Stadtvierteln schlossen sich Menschen zusammen, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Anfangs ging es um Unterwäsche, Zahnbürsten und Winterschuhe. Mittlerweile geht es für die Geflüchteten darum, einen Alltag zu finden. Luwam und Mbrak finden ihn in einer Kirche in Neukölln.
Die Gottesdienste in Eritrea seien anders gewesen—enthusiastischer, lauter—sagt Luwam. Mbrak versteht ihren deutschen Satz nicht, Luwam übersetzt ihn für sie. Dann stimmt Mbrak lachend zu. Zweimal in der Woche fahren sie zur Kirche: samstags zur Chorprobe, sonntags zur Messe. Es sei sehr schön, sagt Luwam. Sie sitzt nah an der Fensterscheibe, ihre Schultern sind leicht nach oben gezogen, sie sieht etwas schüchtern aus. Ihre Stimme und ihr Lachen aber sind laut.
“Wo hast du dir dein Tattoo stechen lassen”, frage ich Mbrak. “In Frankfurt, in einer großen Kirche”, sagt sie und fährt mit zwei Fingern über das kleine Kreuz. Die Bahn fährt an der Sonnenallee ein und die beiden steigen aus.
Ich wünschte, das Wort “Flüchtling” wäre weniger mit sinkenden Booten und Rassismus verbunden, und mehr mit Freundinnen, die zum Samstagmorgen-Chor gehen.
Runde 3, 11 Uhr: Özgün (22) liest das Buch “Die Weltordnung”
Zwei Runden um Berlin später setzt sich am Innsbrucker Platz Özgün auf den Sitz mir gegenüber. Vor ihm saßen dort eine Veranstaltungstechnikerin und eine Köchin, die zur Arbeit fuhren. Özgün fährt am Samstagvormittag zur Bibilothek, um zu lernen.
Eigentlich wollte er Geschichte studieren. Allerdings musste er seinen Eltern erklären, wohin sein Studium führt—zu welchem Job. Bei Geschichte war das schwer. “Versteh mich nicht falsch, meine Eltern unterstützen mich sehr. Aber im Ernst: Japanologie, Skandinavistik—wie kann ich damit Geld verdienen, einen Mehrwert erzeugen?”, fragt Özi. Er ist der Erste aus seiner Familie, der studiert. Das Wort “Mehrwert” in seinem Satz lässt es erahnen: Es wurde dann doch VWL. Im nächsten Semester will er zu BWL wechseln.
In der Ringbahn liest er das Buch Die Weltordnung vom ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger. “Das hat nichts mit Verschwörungstheorien zu tun, auch wenn der Titel ein bisschen so klingt”, sagt Özi. Es gehe um Handelsbeziehungen und Geopolitik. “Ich habe mir angewöhnt, mich für Wirtschaft zu interessieren, ich bin froh, dass ich studieren kann.” Ein bisschen neidisch sei er trotzdem auf Kinder von Akademiker-Eltern, die etwas studieren können, einfach nur, weil sie es interessant finden—ohne sich Gedanken zu machen, welchen Beruf sie danach damit erreichen können.
In der Generation von Özis Eltern waren noch 40 Prozent der türkischen Migranten ohne Schulabschluss. Heute haben nur noch 13 Prozent der jungen Leute aus türkischen Familien keinen Abschluss. Abitur, wie er es gemacht hat, haben aber die wenigsten: Gerade einmal 14 Prozent der Menschen mit türkischen Wurzeln—insgesamt sind es etwa 2,2 Millionen in Deutschland—haben Abi oder die Fachhochschulreife. Unter Menschen ohne Migrationshintergrund sind es mehr als doppelt so viele.
Özi schweigt, blickt aus dem Fenster. Er schaut auf sein Buch, dann wieder zu mir und sagt: “Meine Eltern sind türkisch, ich sehe türkisch aus, aber ich bin in Deutschland aufgewachsen. Manchmal fühle ich mich wirklich in Deutschland als Türke, und in der Türkei als Deutscher.” Allerdings komme das nicht aus ihm selbst heraus, sondern weil andere ihn so sehen.
Özgün nervt das Schubladen-Denken mancher Menschen. Aber irgendwo sei es ihm auch egal geworden, sagt er. Es gebe eben Menschen, die nur in Herkunftsländern denken, dagegen käme man kaum an. Dann steigt er an der Landsberger Allee aus und geht in die Bibliothek.
Am Bahnsteig warten Jungs mit türkisfarbenen Haarsträhnen, neben den Stühlen an der Station steht eine leere Flasche Schnaps.
Runde 5, 14:25 Uhr: Janine (25) ist Veganerin und entwirft eine Pelzkollektion
Janine hat pink-violette Haare, zwei Lippenpiercings. In München wäre sie damit das Ziel aller Blicke, in Berlin fährt sie einfach S-Bahn. In der Hand hält die 25-Jährige einen Kleidersack. “Was ist da drin”, frage ich. “Stoffe für eine Jacke”, antwortet Janine. “Ich entwerfe aserbaidschanische Pelzmäntel.” Alles klar.
Sie hat Modedesign studiert und schneidert. Den Job habe sie über eine Freundin bekommen, eine junge Designerin, die sich auf Klamotten im aserbaidschanischen Look spezialisiert hat, Jacken und Einzelstücke aus Seide, Leder und Pelz. Die letzte Woche des Projekts ist gerade angebrochen, Janine sieht müde aus. “Deadline-Stress”.
Ein kluger Mensch hat mal gesagt: In Hamburg hat jeder einen Beruf, in Berlin hat jeder ein Projekt. Einzelstücke in hoher Qualität im aserbaidschanischen Stil zum Beispiel.
“Warum Pelz?”, frage ich sie. “Das ist vorgegeben”, sagt Janine. “Es ist ein bisschen seltsam, weil ich selbst Veganerin bin.” Ich schaue auf den Pelz um ihren Hals. Sie sieht meinen Blick. “Oh, der ist von meiner Oma, der lag ewig mit Motten in einer Kisten, dem tut es nicht weh, wenn ich ihn noch ein bisschen spazieren trage.”
Aber eine ganze Pelz-Kollektion als Veganerin? “Ich würde mir selbst keinen Echtpelz kaufen”, sagt sie. Aber für die hochwertigen Produkte, die sie sie herstellen soll, sei Pelzimitat keine Option. “Ich habe nur Kaninchen verwendet, die ohnehin vom Jäger geschossen wurden, um den Bestand zu reduzieren. Kein Tier ist für die Jacken gestorben.”
Runde 6, 15:45 Uhr: Patrick (27) fragt mich nach Geld—warum?
Als die Worte “Nächste Station: Ostkreuz” die sechste Runde einleiten, sind fast sieben Stunden vergangen. Zwei Menschen wollten in dieser Zeit die Obdachlosenzeitung verkaufen, drei Menschen haben mit fast identischen Worten nach Geld gefragt, etwa so: “Hallo, ich bin der Olli und ich bin seit dreieinhalb Jahren obdachlos. Es fällt mir wirklich nicht leicht, Sie jetzt zu belästigen, aber vielleicht haben Sie ja ein bisschen Kleingeld übrig. Jeder Cent hilft.”
Einer von ihnen ist Patrick, 27. Er sieht gesund aus, ist groß, auf seinen Fingern hat er das Wort “BOOM” tätowiert. “Jugendsünde”, sagt er und lächelt freundlich. Auf seinem Arm prangt ein Tattoo vom Seestern Patrick aus Spongebob. In einem Ohrläppchen hat er einen Tunnel, am anderen war offensichtlich mal einer, das Ohrläppchen ist unten durchgerissen. “Kann ich eine Runde mit dir mitlaufen?”, frage ich. “Klar”, sagt er. An der Schönhauser Allee endet seine S-Bahn-Tour für heute. Zehn bis 35 Euro bekommt er in einer Stunde, in der er nach Geld fragt. Eigentlich verkauft er die Obdachlosenzeitung Straßenfeger, aber dafür muss er erst zehn Stück für sieben Euro einkaufen. “Die musste ich gerade zusammenbekommen”, sagt Patrick.
Laut Schätzungen sind rund 11.000 Menschen in Berlin obdachlos, mit dem Verkauf von Obdachlosenzeitungen können sie Geld verdienen. “70 Cent im Einkauf, ein Euro fünfzig im Verkauf”, sagt Patrick.
Wir steigen um in die U-Bahn, weil er zum Alexanderplatz fahren will, um einen Freund zu treffen. “Hast du eigentlich eine Fahrkarte?”, frage ich ihn. Hat er, eine Monatsmarke. “Viele andere, die nach Geld fragen, haben keine”, sagt er. “Aber die sind auch drauf, geben ihr Geld für Heroin aus. Ich bin seit vier Jahren sauber, mache eine Methadon-Kur.” Bis vor einem halben Jahr hat er eine Wohnung gehabt, jetzt ist er wieder obdachlos. “Es ist scheiße, wenn man plötzlich wieder in diese Situation zurückgeworfen wird.”
“Wo schläfst du, wenn es jetzt kalt wird?”, frage ich. “Es gibt viele Notunterkünfte”, sagt Patrick. “Die sind aber ziemlich übel, oder?” Das weiß ich aus $icks Erzählungen. $ick spricht auf YouTube über seine Vergangenheit, seine Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit. In einem Video erzählt er, er habe es nicht eine Nacht in der Notunterkunft ausgehalten, weil es so gestunken habe. Patrick sieht gepflegt aus, ich wundere mich. “Es geht”, sagt er, “einige Drogen-Notunterkünfte sind ganz gut.” Er steigt aus, ich fahre zurück zur Ringbahn.
Mit mir steigt an der Schönhauser Allee ein gut trainierter Typ mit Bio-Limonade in die Bahn ein, an der Prenzlauer Allee kommen zwei Bartträger mit Bier in der Hand dazu. Drei weitere Runden später benutzt ein Junge an der Frankfurter Allee das S-Bahn-Fenster als Spiegel und überprüft sein Outfit. Der Samstagabend rückt näher.
Runde 15, 23:20 Uhr: Ein besoffener Rassist geht einen Polen an
Ein stark betrunkener Mann steigt zu. Blond, Mitte vierzig. Er schimpft auf einen Mann ein, der mit ihm zugestiegen ist: “Scheiß Ausländer”, schreit der blonde Mann. “Scheiß Polacke, alles macht ihr kaputt, 700 bis 800 Euro zahlen wir euch im Monat. Scheiße bist du! Raus mit dir!” Im Abteil wird es still. Ein dunkelhäutiger Mann steht ruhig auf und stellt sich einige Meter neben den Pöbelnden. Der Mann, der beschimpft wird, sieht aus, als müsste er gleich vor Wut weinen. Er springt auf. “Scheiß Ausländer hast du gesagt”, sagt er aufgebracht. Seine Stimme ist gebrochen. “Spring mich an, komm”, ruft der blonde Mann laut und aggressiv. Das macht der Mann mit Bart nicht. Er steigt aus. Die Türen schließen.
Ein Typ in Parka bricht das Schweigen im Abteil und ruft dem betrunkenen, blonden Mann zu: “Du bist so ein Opfer, du bist einfach nur ein Opfer.” Bei der nächsten Station, der Greifswalder Straße, springt auch der Pöbler aus der Bahn kurz bevor die Türen schließen. Zwei Freunde und ich haben mittlerweile die Polizei gerufen. “Ein aggressiver, stark betrunkener Mann hat einen anderen Mann fremdenfeindlich beschimpft”, sagen wir. “Was macht man in so einem Fall?” Der Polizist sagt: “Nächstes Mal zieht ihr die Notbremse.”
Runde 17, 01:30 Uhr: Ode an die jugendliche Vorfreude auf die Nacht, oder einfach: Ringbahnsaufen
Es ist spät geworden, ein paar weitere Freunde sind mittlerweile aus ihren Löchern gekrochen, um mich auf meiner endlos scheinenden Kreisfahrt wach zu halten. Freundlicherweise haben sie Bier mitgebracht. Ich bin also fast so gut gelaunt wie die Jungs Anfang 20, eine Bank weiter, die eine großartig bescheuerte, wunderschön unnötige Wette beginnen: Sie binden mit vielen Knoten die Schnürsenkel ihres Freundes zusammen. Ein anderer soll die Knoten innerhalb von drei Minuten wieder aufmachen, wenn er es in dieser Zeit schafft, muss der Zusammengeknotete ihm zwei Bier ausgeben.
Erst höre ich den Typen, der eigentlich die Knoten lösen soll, nur lachen, dann sehe ich, dass er nur noch mehr Knoten macht. “Scheiß auf die zwei Bier”, sagt er. Er hat so viel geknotet, dass es unmöglich scheint, die Schnürsenkel je wieder zu entwirren. Dann muss die Gruppe raus, der Zugeknotete hüpft und fällt, hüpft und fällt. Immerhin lacht er dabei auch.
Rückblick. Der Junge, den ich ganz am Anfang gefragt hatte, warum er lächelt, sagte: “Da steht eine Frau im Darth Vader Kostüm.” Sie blieb nicht die einzige Fantasy-Figur, die mir während der Fahrt begegnete: Am Bahnhof Messe Nord stand eine Frau in königsblauem Quidditch-Mantel neben Jungs-Gruppen mit Bierdosen. Neben der Erotik-Messe Venus fand gerade die Comic-Messe statt.
Es ist seltsam, dass S-Bahn-Fahrten mit Ziel oft langweilig sind, wenn man aber um der Fahrt Willen fährt, eröffnet sich das ganz große Kino. 24 Stunden, so lange könnte ich mich auf keinen Film konzentrieren. In der Ringbahn wurde es keine Minute langweilig. Anders gesagt: Nach vier Stunden Theater bin ich schon eingeschlafen, die Ringbahn hat mich 24 Stunden lang wach gehalten.
Ein Anfang Zwanzigjähriger neben mir hingegen ist der Müdigkeit erlegen: Er schlief während meiner letzten Runden hinter seinem Fahrrad zusammengesackt auf den Sitzen. Ich versuchte mehrmals, ihn aufzuwecken—ohne Erfolg. Aber ich wusste, dass auch die dritte Kreisfahrt ihn nicht umbringen wird. Für mich endete meine Fahrt schließlich.
Runde 21, 8:30 Uhr
21 Mal bin ich an jeder Station vorbeigefahren. Doch es war nicht, wie ich erst dachte, die ewige Wiederkehr des Gleichen nach Nietzsche. Es erinnerte mich eher an den Spruch eines Griechen, an Heraklit: “Du kannst nie zweimal in denselben Fluss steigen.” Keine Fahrt ist gleich. “Panta rhei”, würde Heraklit sagen, “alles fließt”. Lothar Matthäus würde hinzufügen: “I look not back, I look in front.”
Ich steige aus. Die Ringbahn fährt weiter.
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