Fotos von Atossa Araxia Abrahamian
1863 veröffentlichte Edward Everett Hale eine Kurzgeschichte namens The Man Without a Country. Die als abschreckendes Beispiel gedachte Geschichte handelt von Philip Nolan, einem Oberleutnant der US-Armee, der sich in einem Tobsuchtsanfall von Amerika lossagt.
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Im Gegenzug verdonnert ihn ein Richter dazu, den Rest seines Lebens auf See zu verbringen, von verschiedenen Schiffen befördert, ohne Nachrichten aus seinem Land. Nolan tritt seine Reise ohne jede Reue an, aber mit der Zeit macht ihm die Staatenlosigkeit zu schaffen. Er vermisst sein Heimatland mehr, als dass er sich nach seiner Familie oder dem Gefühl von festem Land unter den Füßen sehnt. Kurz vor seiner Seebestattung bittet er ihm zu Ehren um einen Grabstein: „In Erinnerung an Philip Nolan, Oberleutnant der Armee der Vereinigten Staaten. Er liebte sein Land, wie noch kein Mann es geliebt hat, aber kein Mann hat vom ihm eine größere Missachtung verdient.“
Das alte Seemannsgarn vom „Mann ohne Land“ ist seit Hales Zeiten rigoros überarbeitet worden. Seinem Land den Rücken zuzukehren, ob im wirklichen Leben oder fiktiv, ist keine weltbewegende Scheidung mit fast biblischen Konsequenzen mehr—es ist normal (oder zumindest nicht ungewöhnlich), dass Menschen im Ausland leben, zwei oder drei Staatsbürgerschaften besitzen oder alle Verbindungen zum Land ihrer Geburt abbrechen.
Wenn die Märkte und Technologien, die uns umgeben, immer globaler werden, ist es nur natürlich, dass sich die Menschen ebenfalls globalisieren.
Die meisten Menschen trennen sich jedoch nicht von einer Nation, um dann ganz allein als Ein-Mann-Nation umherzuziehen. Selbst in unserer sogenannten flachen Welt, in der Freihandel und blitzschnelle Kommunikationswege reale Grenzen wie Überbleibsel aus der vordigitalen Vergangenheit erscheinen lassen, bleibt der Stoff unserer Existenz ein aus Nationen bestehendes Flickwerk. Staatsangehörigkeit ist elementar, und staatenlose Menschen sind meist mittellos und entrechtet. Ihr Recht auf Staatsbürgerschaft wird ihnen verwehrt—sei es von einem repressiven Regime oder aufgrund eines schwerwiegenden bürokratischen Fehlers. Große internationale Organisationen helfen diesen ehemaligen Staatsbürgern dabei, ihre Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten. Staatenlosigkeit ist schlichtweg keine Status, den man freiwillig annimmt.
Doch es gibt eine bemerkenswerte Ausnahme: Mike Gogulski, ein 41-jähriger Hacker, Anarchist und ehemaliger US-Staatsbürger. Ende 2008 spazierte er in die amerikanische Botschaft in Bratislava, Slowakei, und gab seine Staatsangehörigkeit auf; später verbrannte er zur Bekräftigung seinen Pass. Er ist mit großer Wahrscheinlichkeit der einzig heute lebende Mensch, der sich freiwillig erfolgreich in die Staatenlosigkeit begeben hat.
Heute ist er ein Online-Aktivist, der auf seinem Blog nostate.com über anarchierelevante Themen wie die kränkelnde Kryptowährung Bitcoin oder die nicht mehr existierende Untergrund-Handelsplattform Silk Road schreibt. 2011 bin ich erstmals über Gogulskis Texte gestolpert, als ich das Thema „Aufgabe der Staatsangehörigkeit“ recherchierte. Die Zahl der US-Bürger, die ihren Pass abgeben, war—und ist nach wie vor—am Steigen. Regierungszahlen belegen, dass in den vier Jahren vor 2013 die Fälle von Staatsbürgerschaftaufgabe von wenigen Hundert auf mehr als 3.000 pro Jahr angestiegen sind.
Das hat vor allem mit neuen Steuergesetzen zu tun, nach denen US-Bürger verpflichtet sind, jährlich ihre Bankkonten und ihr Einkommen anzugeben, ganz gleich, ob sie in den Vereinigten Staaten leben oder nicht.
Aber Gogulski hatte andere Beweggründe. Aus seiner Sicht hat man ihn nicht gefragt, ob er Amerikaner sein wolle. „Glaubst du, ich würde aus freien Stücken eine Beziehung zur US-Regierung eingehen, außer, wenn jemand eine Knarre auf mich richtet? Niemals!“, sagt er bei einem Glas Whiskey und vielen Bieren in der Progressbar, einem Hackerraum in Bratislava, wo er oft abhängt. Gogulski, der am Rande eines Orangenhains in der Vorstadt Winter Park in Florida aufgewachsen ist, sieht keinen Sinn darin, sich an der Demokratie zu beteiligen. Punkt. „Demokratie wird einem so verkauft: Die Leute können wählen gehen, um die Regierung ihrer Wahl zu bestimmen, aber das ist eine Lüge“, erklärt er, während er im Raum umhertigert. „Wir können vielleicht an den Rändern rumflicken, aber das zentrale Prinzip von Staaten—das auf Mord, Raub und Vergewaltigung beruht—bleibt bestehen.“
Obwohl sich gegen diese Einschätzung kaum etwas einwenden lässt, bedeutet der Schritt in die Staatenlosigkeit eher mehr Probleme als Lösungen. Das größte Problem ist Mobilität: Eine staatenlose Person kann zwar gemäß den Personenverkehrsfreiheiten der EU in Europa umherreisen, kann aber den Schengen-Raum nicht verlassen, ohne ein Visum zu beantragen—ein Vorgang, der einen monatelangen bürokratischen Aufwand mit sich bringen kann. Das andere Problem ist der ganze Papierkram: Ohne Staatsbürgerschaft stellen alltägliche Dingen wie das Ausstellen eines Führerscheins oder das Eröffnen eines Bankkontos eine weitaus größere Geduldsprobe dar, als das normalerweise der Fall wäre, und in Drop-Down-Menüs und auf Regierungsformularen gib es so gut wie nie die Option „staatenlos“. Zudem können Menschen ohne Land nicht den Schutz einer Regierung beanspruchen, wenn sie im Ausland in Schwierigkeiten geraten (aber was bedeutet „Ausland“ wenn man nirgendwo her kommt? Wir sind von Staatlichkeits-Semantik umgeben.)
Es ist nicht weit hergeholt, die Staatenlosigkeit, in die sich Gogulski aus Gewissensgründen begeben hat, als anstößig oder taktlos zu empfinden: Als die moralische Mission eines querköpfigen weißen amerikanischen Anarchisten, der aus einer relativ privilegierten Position heraus handelt. Würde man es wahrnehmen, wenn eine Textilarbeiterin aus Bangladesch dasselbe täte? Gogulski räumt ein, dass seine Situation nicht im Geringsten mit der anderer Staatenloser zu vergleichen ist. Er sieht seinen Schritt als einen Akt der Solidarität. „Staatsangehörigkeit ist ein Instrument der Klassenspaltung, ein Instrument der Hierarchie, ein Instrument der sozialen Kontrolle“, meint er. „Es gibt keine Gleichheit zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern.“
In Wahrheit kann man nur bis zu einem bestimmten Grad frei vom Staat sein. Gogulski nutzt Reisedokumente für Staatenlose, die ihm die slowakischen Behörden ausgestellt haben, und eine EU-Aufenthaltskarte, die wie ein Führerschein aussieht. Sein Dilemma entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wie so viele Bürger, die von ihren Regierungen angewidert sind, will er sich aus der Umklammerung der Staatsmacht befreien. Insbesondere will er sich von den Schreckenstaten, die die Vereinigten Staaten zu verantworten haben, distanzieren, und seine Staatenlosigkeit ist eine extreme Form der Ablehnung aus Gewissensgründen. Doch durch seine Staatenlosigkeit ist er nun in einer Situation, in der er weder einen König hat noch ein Land noch die Mittel, um die EU zu verlassen. Man kann die missliche Lage, in die Gogulski sich gebracht hat, auf viele Arten beschreiben, aber eine Beschreibung ist etwas anschaulicher als andere: Er hat sich ziemlich in die Scheiße geritten.
Bratislava, Slowakei, wo der ehemalige US-Bürger Mike Gogulski als Staatenloser lebt
Wenn man sich mit ihm unterhält, würde man nie auf die Idee kommen, dass Gogulski seit einem Jahrzehnt nicht in den USA lebt. Er hat einen diffusen Ostküsten-Akzent, er kriegt die allermeisten Referenzen an die amerikanische Mainstream-Popkultur mit, und er verfolgt die US-Nachrichten wie jeder Ottonormalbürger. Er ist ungefähr 1,80 groß und wird langsam kahl. Er hat die Figur eines ehemals dürren Computer-Nerds, der nach einem Leben voller Chips und Cola das mittlere Alter erreicht hat. An einem guten Tag ist er warmherzig, umgänglich und sprudelt vor Ideen, die in Richtung Verschwörungstheorien tendieren. Er ist außerdem manisch-depressiv und neigt zu schwindelerregenden Höhenflügen und Phasen tiefer Niedergeschlagenheit, während derer er mit kaum jemandem kommuniziert, geschweige denn das Bett verlässt. Vor meinem geplanten Besuch bei ihm blieben meine hektischen E-Mails, Anrufe und Textnachrichten ungefähr drei Wochen lang unbeantwortet. In jenem Monat, so erzählt er mir später, hatte er eine niedergeschlagene Phase.
Doch während des ersten langen Wochenendes, das wir zusammen in Bratislava verbringen, ist Gogulski in prima Verfassung. Er raucht Kette, Philip-Morris-Zigaretten, die er für etwas mehr als 2 Euro das Päckchen bekommt, und im Laufe unseres ersten Abends leert er ohne Mühe eine Flasche Whiskey. Als dieser sich dem Ende zuneigt, beginnt er, eine Schublade nach Gras zu durchwühlen. Als er endlich einen Brocken gefunden hat, versteckt in einer riesigen Kondompackung, bastelt er aus einer Bierdose eine Pfeife.
Gogulski ist so was wie eine kleine Berühmtheit der Hacker-Anarchisten-Szene. Das ist sicherlich auf seine Staatenlosigkeit zurückzuführen. Er bekommt jeden Monat zwei oder drei E-Mail-Anfragen von Leuten, die Interesse daran haben, ihre Staatsbürgerschaft aufzugeben; die meisten von ihnen sind Amerikaner. Man kennt ihn zudem auch als Player in der Bitcoin-Community. Um seine Rechnungen zu bezahlen, betreibt er eine Anwendung, die Bitcoins wäscht oder „mixt“ und die digitale Spur der Kryptowährung noch weiter anonymisiert.
Kurz nachdem er sein Studium am Orlando College abgebrochen hatte, kam Gogulski mit dem Gesetz in Konflikt, als aufflog, dass er sogenanntes „Phreaking“—das Manipulieren von Telefonverbindungen—betrieben hatte: Er hatte ortsansässigen Firmen Ferngespräch-Minuten im Wert von mehreren 10.000 Dollar geklaut, um mit anderen Hackern zu kommunizieren. Seine Verhaftung im Jahr 1992 klingt, als sei sie direkt einer Kiffer-Komödie entnommen: Eine Undercover-Polizistin stellte ihm eine Falle, indem sie sich als Pizza-Lieferantin von Domino’s ausgab. Er wurde aufgrund des in Florida geltenden Anti-Kommunikationsbetrug-Gesetzes angeklagt. „Das war beschissen“, erinnert er sich, „der Wahnsinn. Auf der Titelseite neben den Nachrichten über die Rassenunruhen in Kalifornien zu stehen, ist ein furchtbares Gefühl. Ich dachte, ich käme ins Gefängnis.“ Sein Vater verkaufte seine Münz- und Briefmarkensammlung, um einen Anwalt zu bezahlen, der für Gogulski einen Deal aushandelte. Als Teil seiner 100 Sozialstunden hielt er im Rahmen von Polizei-Fortbildungen Vorträge über die „Hacker-Mentalität“.
Man mag denken, dass eine staatenlose Person außerhalb der Gerichtsbarkeit aller Länder steht, aber Gogulski ist nicht von internationalem Recht ausgenommen. Osama bin Laden war z. B. staatenlos, nachdem ihm Saudi-Arabien 1994 die Staatsbürgerschaft aberkannt hatte; dennoch schaffte er es, der meistgesuchteste Mann der Welt zu werden (als tückischste Eigenschaft von al-Qaida gilt die fehlende Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat). Die slowakischen Behörden können Gogulski behandeln wie jeden anderen Einwohner auch.
Aber es ist nicht klar, wie es um die Gerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten steht. Die Tatsache, dass es noch keine Auslieferungen von der Slowakei in die USA gegeben habe, mache ihm Hoffnung, sagt er, aber er verfolgt die jüngste, mit Bitcoin in Verbindung stehende Verhaftungswelle sehr genau. „Mir ist klar, dass ich die Bitcoin-Wäsche sehr bald dicht machen muss“, meinte er nur wenige Wochen, bevor die Mt.-Gox-Bitcoin-Börse ihre Pforten schloss, worauf Bitcoins im Wert von Millionen von Dollar verschwanden. Anfang März meldet sich Gogulski, sein Geschäft sei von dem Drama nicht betroffen. „Nichts Neues zu berichten“, schreibt er in einer E-Mail, „ich komm über die Runden.“
Gogulski, der seine amerikanische Staatsangehörigkeit 2008 aus Protest gegen die Taten seines ehemaligen Landes überall auf der Welt aufgegeben hat
Aktivisten gehen eher selten in die Staatenlosigkeit, um ein Statement zu machen, aber Gogulski ist nicht der Erste, der dies getan hat: Garry Davis, Pilot im Zweiten Weltkrieg und ehemaliger Schauspieler am Broadway, wurde zum bekannten Friedensaktivisten, als er 1948 beschloss, jede Beziehung zu den Vereinigten Staaten aufzugeben. Zu dem Entschluss kam er, nachdem er Deutschland die Seele aus dem Leib gebombt und seinen Bruder im Krieg verloren hatte. Als der Krieg zu Ende war, erklärte Davis sich zum „Weltbürger Nummer Eins“ und blieb bis zu seinem Tod im Alter von 91 Jahren im letzten Sommer ohne Staatsangehörigkeit. Davis war ein Kind des Schützengrabenschocks und der berauschenden Tage des Nachkriegsinternationalismus und widmete sein Leben der Förderung einer „Weltregierung“, indem er mit Leuten wie Albert Camus uneingeladen zu Sitzungen der Vereinten Nationen erschien, um dort Reden zu halten. Er kampierte vor Botschaften und Konsulaten und landete mehr als einmal im Gefängnis, weil er illegal internationale Grenzen überschritten hatte.
Gogulski hat vor Davis viel Respekt, aber er ist kein Verfechter der Esperanto-flektierten Eine-Welt-Ideologie, die Davis vertrat. Gogulski sieht sich als Anarchist und Agorist—er hätte einfach gerne eine Welt ohne zentralisierte Regierung. Seiner Meinung nach würden Menschen sich, wenn man sie sich selbst überließe, in kleineren, gleichberechtigteren, weniger repressiven Gemeinschaften organisieren, worauf die Menschheit in einem Maße aufblühen würde, die unsere wildesten Träume übersteigt—eine hoffnungsvolle, wenn auch naive Vorstellung. „Irgendwie glaube ich immer noch daran, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, uns aus all den hässlichen Klemmen, in die wir uns reinmanövriert haben, zu befreien“, sagt er, und meint damit Gewalt, Krieg, Überwachung und Unterordnung. „Das ist eine autoritäre Geisteshaltung. Die Vorstellung, dass Gehorsam eine Tugend ist. Wenn man sich sowohl die Geschichte auch die Gegenwart anschaut, muss man nicht sonderlich klug oder reflektiert sein, um zu sehen, dass Menschen den furchtbarsten Dingen und Idioten gehorchen, und dass das Potential, das in ihnen schlummert, nie zum Tragen kommt, wenn sie weiterhin diesen üblen Konstrukten dienen.“
Die Wurzeln von Gogulskis Version dieser idealisierten Vision einer staatenlosen Gesellschaft kann man auf die utopischen Vorstellungen von einer Zukunft ohne Grenzen zurückführen, die in den frühen Tagen des Internets auftauchten.
„Aber was bringt Gogulski heute dazu, all das zu tun? Ich komme immer wieder auf die Tatsache zurück, dass kein Nationalstaat irgendjemandem wirklich eine Zukunft verspricht“, sagt Eugene Holland, Professor an der Ohio State University und Autor von Nomad Citizenship, einem Buch über alternative, postnationale Formen von Zugehörigkeit. „Diese Bewegungen entstehen, weil der Nationalstaat keinen Horizont mehr für progressiven Wandel bietet.“ Ich frage Holland, was seiner Meinung nach diese persönliche Abkehr von Staatsangehörigkeit verändern könne. Holland lacht: „Es ist eine dramatische Geste und ein persönliches Opfer, mit dem er seinen Standpunkt verdeutlicht. Und sie unterstreicht, wie unfrei wir sind, weil der Nationalstaat Staatsangehörigkeit monopolisiert und Bewegung kontrolliert“, sagt er. „Aber sie kann nichts ändern. In symbolischer Hinsicht ist Gogulski erfolgreich, denke ich. Aber in materieller Hinsicht hat er nur seine Freiheit geopfert. Das ist nobel. Aber es ist für niemanden eine positive Bereicherung.“
Der Weltbürger Garry Davis hält seinen Ausweis. Foto von Yale Joel/Time Life Pictures/ Getty Images
Gogulski kam 2004 nach Bratislava, als seine damalige Freundin, Stephanie Wilbur, dort einen Job als Englischlehrerin antrat. Ungefähr zur selben Zeit begann er, sich stärker mit seinen politischen Einstellungen zu befassen. „Als wir das Land verließen, herrschte eine grausame Zeit in der amerikanischen Geschichte; im Fernsehen Bilder aus Abu Ghuraib, die Kriege, Tod und Zerstörung, bezahlt von unseren Steuergeldern“, erinnert sich Wilbur. „Wir wollten nicht mehr daran teilhaben. Und als wir umzogen, begann Politik in Mikes Leben eine viel größere Rolle zu spielen … wahrscheinlich, weil er mehr Zeit hatte.“ Im Jahr darauf verließ Stephanie Bratislava—sie wollte die Welt sehen, mehr reisen—aber Gogulski, so sagt sie, hatte beschlossen, dass er genug gesehen hatte. Also blieb er und arbeitete bei mehreren multinationalen Firmen als Leiharbeiter in der Systemadministration. 2008 hatte Gogulskis Frustration mit den Vereinigten Staaten einen Siedepunkt erreicht—„als die Suppe begann, sich über den gesamten Herd zu verschütten“ ist seine bevorzugte Analogie. Er beschloss, dass der einzige Weg, seinen anarchistischen Idealen treu zu bleiben, der Schritt in die Staatenlosigkeit war, und dann darüber zu bloggen, um die Welt daran teilhaben zu lassen.
Wenn seine Freunde versuchen, seine Beweggründe zu erklären, weisen sie alle auf seinen unerbittlichen Gerechtigkeitssinn hin. „Seine Moralvorstellungen sind so instinktiv, dass er einfach nicht strategisch sein kann“, sagt William Gillis, der wie Gogulski ehrenamtlich am Center for a Stateless Society tätig ist, einem Think Tank, der sich der Förderung von „Marktanarchie“ verschrieben hat, einer politischen Philosophie, die die Selbstorganisation eines Kibbuz mit Ideologien, die von den Freie-Markt-Theorien der Österreichischen Schule beeinflusst sind, in Einklang zu bringen versucht. „Er hat sich einem außergewöhnlichen Vorgang unterzogen, damit ihn die Vereinigten Staaten nicht mehr als einen ihrer Bürger erachten. Viele Menschen bieten dem Staat die Stirn, aber Mike war der einzige, der es verstand, das komplett durchzuziehen. Und er hat dabei gewaltige Opfer gebracht.“
„Es ist eher eine persönliche Frage: Willst du, dass diese Dinge in deinem Namen geschehen, ob es nun die Bombardierung einer Hochzeitsgesellschaft ist oder buchstäblich Millionen anderer Schreckenstaten“, erklärt mir Arto Bendiken, ein in Berlin lebender enger Freund Gogulskis über Skype. „Es geht nicht darum, dass es eine Auswirkung auf andere Leute außer ihm hat; aber von seinem persönlichen moralischen Standpunkt aus betrachtet, musste er aus dem System aussteigen.“ Als ich Gogulski frage, ob er seinen Schritt auf irgendeine Weise bedaure, wirkt er verblüfft. „Wie kann man den Menschen bedauern, der man geworden ist?“, fragt er. Die einzigen Dinge, die er angibt zu vermissen, sind mexikanisches Essen und Frühstückscafés, die rund um die Uhr geöffnet haben. „Orte wie Denny’s oder Waffle House haben eine besonderen Platz in meinem Herzen“, sagt er. „Das ist großartig. Ein Ort, an dem man zu jeder Tageszeit Omeletts und Eier und fettige Kartoffelpuffer bekommt?!“
Gogulskis Kater Charlie und sein EU-Haustier-Ausweis
Trotz all der symbolischen Gesten und Wut führt Gogulski ein ziemlich gesetztes Leben. „Ich bin im Großen und Ganzen recht zufrieden, hier zu sein“, sagte er. „Ich lebe mehr oder weniger in meinem Kopf.“ Letzten Sommer hat er in einer nichtstandesamtlichen, nichtreligiösen Zeremonie in der Progressbar seine Lebenspartnerin Eva geheiratet (Gogulski war bereits einmal in den USA verheiratet; er und seine Ex-Frau haben sich im Jahr 2000 getrennt, aber er hat zu ihr und der gemeinsamen Tochter keinen Kontakt). Als Braut und Bräutigam die Feier verließen, warfen ihre Familien und Freunde mit Hot-Dog-Brötchen statt mit Blumen—in der parodistischen Religion Diskordianismus ein Symbol für alle Nahrungsmittel, die in den großen Weltreligion zu bestimmten Zeiten im Kalenderjahre verboten sind (allen Anschein nach ist Gogulski ein absoluter Querkopf). Gogulski und Eva leben zusammen in seiner Mietwohnung, die zufälligerweise gegenüber der Internationalen Organisation für Migration liegt, der UN-Vertretung für vertriebene und staatenlose Personen. Sie ist vollgestopft, unordentlich und staubig und riecht stark nach Rauch und ein wenig nach Katzenpisse. Eva ist durch und durch Slowakin; sie arbeitet in der chinesischen Botschaft und bearbeitet Visa und andere Formulare. Rasse und Herkunft von Charlie, dem Kater, sind nicht bekannt, aber selbst er hat einen EU-Haustier-Ausweis, in dem sein Name, sein Geschlecht und sein Geburtstag aufgelistet sind.
Gogulski verbringt die meiste Zeit in seinem Wohnzimmer, das gleichzeitig das Schlafzimmer ist, steht meist erst am späten Nachmittag auf und bastelt an einem seiner neun Computer herum, die immer laufen. Er mag den USA vor Jahren den Rücken gekehrt haben, aber seine innere Uhr ist immer noch dezidiert an der Ostküsten-Zeit ausgerichtet.
Evas 16-jährige Tochter, die in der Nähe lebt, kommt ab und zu zum Abendessen vorbei; ihre beiden Chihuahuas sind oft da, und bald bekommen Eva und Gogulski ein fellloses Kätzchen. „Ich werde ihn Nube nennen“, verkündet Gogulski vergnügt.
Gogulskis Leben ist aufschlussreich—nicht weil es aufregend ist (es ist so ziemlich das Gegenteil), sondern weil es die Möglichkeit aufzeigt, ein Leben außerhalb oder zumindest am Rande einer gewöhnlichen sozialen oder wirtschaftlichen Existenz zu leben und gleichzeitig in einer technologisch fortgeschrittenen, urbanen Umgebung zu verbleiben. Er hat weder ein Land noch einen Job noch einen Chef; sein Einkommen verdient er hauptsächlich durch Werbung auf seiner Website und durch die Provisionen, die er für das Waschen von Bitcoins verlangt. Er besitzt vor Ort kein Konto und zahlt ausschließlich mit Bargeld oder Bitcoins. Sein Versuch, außerhalb der Beschränkungen eines traditionellen Nationalstaates zu leben, ist, bis zu einem gewissen Grad, erfolgreich: Er lebt in einer Art urbanem Into the Wild (eine Ausgabe des Buches liegt auf seinem Tisch, aber er meint, er habe es noch nicht gelesen). Doch momentan ist da nicht mehr als die Andeutung einer—ziemlich abschreckenden—Existenzmöglichkeit. Die Schuld liegt nicht bei Gogulski: Er hängt in einer Situation fest, in der seine Ideale so radikal unvereinbar mit dem Status quo sind, dass er nicht viel tun kann. Seine Bemühungen angesichts absoluter Vergeblichkeit sind bewundernswert—aber praktisch gesehen etwas deprimierend.
„[Gogulski] ist einer von vielen Menschen, die sich Gedanken über den modernen Staat gemacht und viele Voraussetzungen, auf denen er fußt, abgelehnt haben“, sagt James Grimmelmann, ein Jura-Professor an der University of Maryland, der zu technoutopischer Abspaltung geforscht hat. „Die Idee, dass Regierung Tyrannei bedeutet, ist alt. Aber durch Technologie hat sie eine sehr moderne Form angenommen. Man kann eine direkte Linie von der Aufgabe von Staatsangehörigkeit, zu Bitcoin und zu den Menschen, die von Datenhäfen träumen, ziehen. All dies sind Versuche, sich der Macht des Staates zu entziehen.“
Auf dem Papier ist diese Vision entschieden radikal. Sie weist einen komplett neuen Weg auf, in der Welt zu existieren; und auf jeden Fall lässt man die Welt auf originelle Art wissen, dass sie einen mal kann. Aber sie hat Schwachstellen: Zunächst einmal hat sich Bitcoin weder als sicher noch als anonym herausgestellt, wie seine Verfechter glaubten. Schon vor dem großen Bitcoin-Crash 2014 hatten Gogulski und Konsorten von der Währung als etwas gesprochen, was irgendwie passé ist—sie sahen in ihr weniger eine praktische Errungenschaft denn einen theoretischen Vorboten der Zukunft. Zweifellos werden sich Kryptowährungen weiterentwickeln und eine wachsende Zahl an dezentralisierten Transaktionen zwischen Personen ermöglichen. Aber die technologischen Möglichkeiten sind derzeit noch begrenzt und schränken den Abstand ein, den Gogulski vom Staat tatsächlich haben kann.
Die staatenlose Zukunft mag sich tatsächlich am Horizont abzeichnen. Aber im echten Leben kann man 2014 noch nicht wahnsinnig viel davon sehen. Gogulski ist staatenlos und in Bratislava, aber im Grunde genommen könnte er überall sein. Er segelt nicht auf den Weltmeeren umher wie der fiktionale Oberleutnant Philip Nolan, ziellos und gezwungen, sich mit seinen Taten auseinanderzusetzen. Auch reist er nicht um die Welt, um die Beliebigkeit von Grenzen aufzuzeigen, wie Garry Davis. Gogulski kann Europa nicht verlassen und hat nach eigener Aussage auch nicht wirklich das Bedürfnis danach. Er braucht die Welt nicht. Er hat das Internet, seine Community; die feste Hoffnung, dass Technologie uns alle befreien kann; einen Kater, der einen Pass hat, und eine Ehefrau, deren Beruf es ist, Visa zu bearbeiten.
Ist das die utopische Zukunft, auf die wir alle gewartet haben?