Ich bin noch keine zehn Minuten Polizistin, schon tut mir der Rücken weh. Beide Handgelenke schmerzen. “Was für ein Scheißjob”, denke ich.
Es ist Sonntagnachmittag in Berlin-Kreuzberg. Und ich bin bei einem Aktionstraining von Extinction Rebellion, einer Klimabewegung, die im Oktober 2018 in Großbritannien entstand, die aber auch in Deutschland immer größer wird. Ich verfolge deren Protestaktionen nun schon seit einigen Monaten. Denn ich mache mir Sorgen.
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Wenn ich mir vorstelle, wie ich mich in absehbarer Zukunft mit anderen hungrigen Menschen in Berlin-Kreuzberg um die letzte Ratte streite, die wir in den Büschen am Landwehrkanal erlegt haben, weil es im Supermarkt nichts mehr zu essen gibt, dann wird mir angst und bange.
Wie ich darauf komme? Die Chancen, dass es uns gelingt, die Klimakrise aufzuhalten, sind gering – vor allem dann, wenn wir mit unserem CO2-Ausstoß so weitermachen wie bisher. Was dann passiert, sieht nicht rosig aus, wie die Verfasser eines ziemlich gruseligen Berichts des australische Thinktanks Breakthrough National Centre for Climate Restoration schreiben.
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Die Prognose lautet: Das Klima wird sich um mehr als 1,5 Grad erhitzen. Die Polkappen werden schmelzen. Der Meeresspiegel steigt. Die Permafrostböden tauen auf und entlassen noch mehr CO2 in die Atmosphäre. Die Durchschnittstemperatur steigt weiter. In vielen Ländern wird es an vielen Tagen im Jahr so heiß, dass es für Menschen tödlich enden kann. Extreme Wetterphänomene wie Hurricanes, Fluten und Dürren nehmen zu. Infolgedessen fliehen immer mehr Menschen aus dem so genannten Globalen Süden, natürlich auch nach Europa. Forscher sagen auch bei uns langfristig Nahrungsmittelknappheit und politische Unruhen, möglicherweise Bürgerkriege und sogar den Zusammenbruch der Staaten voraus.
Ich will etwas tun. Aber ich weiß nicht so genau was. Bloß brav auf die Straße zu gehen, wird vermutlich nichts bringen, denke ich. Also bin ich nun hier, bei Extinction Rebellion.
Für den 7. Oktober haben die Aktivistinnen und Aktivisten zum “Aufstand gegen das Aussterben” aufgerufen. Zeitgleich mit anderen Aktionen weltweit wollen sie Straßen und Plätze in Berlin blockieren – und die Blockaden mit bunter Straßenfestatmosphäre, Workshops und kostenloser Verpflegung so lange wie möglich halten, um die größtmögliche Aufmerksamkeit zu generieren. Anders als die Fridays-for-Future-Bewegung, deren Teilnehmerinnen in erster Linie demonstrieren, setzt XR auf Zivilen Ungehorsam. Eine aktivistische Form der politischen Partizipation, zu deren Gründungsvätern Henry David Thoreau, Gandhi und Martin Luther King, Jr. gehören. Ich bin heute hier, um zu lernen, wie man das macht.
Extinction Rebellion bedeutet so viel wie “Rebellion gegen das Aussterben”. Ich will nicht aussterben. Muss ich also auch rebellieren?
Das Prinzip ist einfach: Um auf ein moralisches Unrecht hinzuweisen – in diesem Fall die Klimakrise, das massenhaft Aussterben von Tierarten und die Tatenlosigkeit der Politik –, verstoßen die Teilnehmenden symbolisch gegen politische Normen – in diesem Fall die Vorgabe, dass eine Gruppe von Menschen, die sich öffentlich hinsetzt, als unangemeldete Versammlung gilt, die möglicherweise den Verkehr aufhält. Das ist nicht erlaubt. Eine Bestrafung nehmen die Protestierenden dabei bewusst in Kauf. Ihre Hoffnung: Die Aufmerksamkeit und der gesellschaftliche Druck steigen, bis die Politik nicht mehr anders kann und etwas unternimmt. Soweit die Theorie.
60 Menschen sind an diesem Sonntag zum Kunstquartier Bethanien gekommen. Das Wetter ist schön. Das Training wird spontan nach draußen verlegt. Im Stuhlkreis sitzen wir auf einem gepflasterten Platz und blinzeln in die Sonne.
Altersmäßig ist die Gruppe heterogen: zwei Menschen unter 18 sind ebenso dabei wie zwei Männer um die 50, die in den 80er Jahren schon mal auf ähnliche Weise protestiert haben. Die meisten anderen sind zwischen 20 und 40 und haben, so wie ich, kaum Erfahrung mit Blockaden.
In der Mitte unseres Stuhlkreises steht Tori, 20 Jahre, schwarze Leggings, schwarzes Shirt, bunte Socken mit Mohrrüben darauf, und erklärt mit lauter Stimme, welche Anschuldigungen einem möglicherweise von staatlicher Seite drohen, wenn man die unangemeldete Versammlung auch nach der dritten Aufforderung durch die Polizei nicht verlässt.
Ich weiß jetzt, dass ich mein Handy am besten zu Hause lasse, damit es die Polizei bei einer möglichen Festnahme nicht durchsuchen kann; ebenso wie alles, was mir als Waffe oder als Wille zur Gewaltbereitschaft ausgelegt werden kann. Dazu zählen auch Glasflaschen und ein Fahrradhelm. Wichtig: den Perso dabeihaben, weil eine Verweigerung der Personalien unter Umständen als Ordnungswidrigkeit gelten kann. “Außerdem ist das Teil der XR-DNA”, sagt Tori. “Wir stehen mit Gesicht und Name zu unseren Handlungen, weil wir davon überzeugt sind, dass es richtig ist, was wir machen.”
“XR”, wie die Kurzform des Namens heißt, hat schon einige erfolgreiche Aktionen hinter sich. Vor allem in London, wo die Bewegung entstand. Über sechstausend Menschen blockierten dort im April eine Woche lang die Brücken der Stadt. Wenige Tage später erklärt das britische Parlament den Klimanotstand – die erste von drei Forderungen, die das dezentral organisierte Bündnis hat. Aber auch in Berlin tut sich was. Im April 2019 hielt Gruppierung für kurze Zeit die Oberbaumbrücke zwischen den Stadtteilen Friedrichshain und Kreuzberg besetzt. Im Zuge des weltweiten Klimastreiks am 20. September hatte die Berliner Ortsgruppe den Potsdamer Platz für ein paar Stunden blockiert. Gegen zehn Uhr Abends wurden die Protestierenden von der Polizei weggeschafft.
Ich weiß jetzt, dass ich mir die Nummer einer Organisation namens Ermittlungsausschuss, kurz EA, mit Filzstift auf den Arm schreiben werde, bevor es los geht. Sie leistet rechtlichen Beistand, habe ich gelernt. “Solltet ihr festgenommen werden und in der Gefangenensammelstelle, kurz Gesa, landen, stehen euch zwei erfolgreiche Anrufe zu”, erklärt Tori. “Einen dieser Anrufe macht ihr beim EA, weil die aufpassen, dass ihr nicht verloren geht.” Bis zu 48 Stunden darf mich die Polizei festhalten; zumindest in Berlin. In anderen Bundesländern aufgrund von verschärften Polizeigesetze auch länger. Aussagen machen oder etwas unterschreiben soll ich nicht. “Fun Fact”, sagt Tori gut gelaunt, “Minderjährige müssen von ihren Eltern aus der Gesa abgeholt werden.”
Ich treffe Tori in der Mittagspause bei einem Falafel-Sandwich. Tags zuvor hat die Studentin schon einmal ein Aktionstraining gehalten. Ebenfalls mit 60 Menschen. Statt wie anfangs nur ein Mal im Monat, finden die Trainings in Berlin mittlerweile zwei Mal pro Woche statt, die Nachfrage wächst. “Im Frühjahr waren wir stolz, wenn zu unseren Plena 40 Leute kamen”, sagt Tori. “Zu den Trainings kamen vielleicht 16 Leute. Und guck dir an, wie viele es mittlerweile sind.”
XR setzt auf Masse. 3,5 Prozent der Bevölkerung müssten dauerhaft mobilisiert werden, um eine Systemveränderung zu erreichen, haben Forscherinnen berechnet, auf die sich die Gruppierung bezieht. In Deutschland wären das knapp 2,9 Millionen Menschen. Dass beim Klimastreik am 20. September 1,4 Millionen Menschen deutschlandweit auf die Straße gingen, wertet Tori als Erfolg. “Die Hälfte haben wir schon geschafft”, sagt sie.
Die von XR empfohlene Position, um sich wegtragen zu lassen, ist “das Päckchen”
Es ist Nachmittag, aus Theorie wird Praxis. Lektion Eins: Organisiere dich in einer Bezugsgruppe. “Eine Bezugsgruppe sind 6 bis 12 Personen, die man kennt und denen man vertraut, die einem in der Blockade emotionale Unterstützung bieten und die im Idealfall ähnlich weit gehen wollen wie du”, erklärt Leoni, ebenfalls 20, ein zierliches Mädchen mit blondem Haar. Die Risikobereitschaft in der Blockade ist grob in vier Level unterteilt. Level Null: nur zuschauen. Level eins: mit in die Blockade gehen, aber keine Konsequenzen tragen. Level zwei: wegtragen und damit auch potenziell festnehmen lassen. Level drei sind so genannte Lock-Ons oder Glue-Ons, also festketten oder festkleben. Anders als alles zuvor Genannte gilt das als Nötigung und damit als Straftatbestand. “Euer Wert bei XR hängt nicht davon ab, wie bereit ihr seid, Repressionen auszuhalten”, schiebt Tori schnell hinterher und betont das auch später immer wieder. “Es gibt viele andere Aufgaben, die ihr übernehmen könnt und die ebenso wertvoll sind.”
Ich überlege kurz und komme zu dem Schluss: Ich bin eine Zwei. Sich festnehmen zu lassen, ist bestimmt nicht witzig. Aber im Vergleich zu anderen Ländern kann einem dabei in Deutschland relativ wenig passieren. Man verliert Zeit und möglicherweise muss man eine Geldbuße bezahlen. Um die zu finanzieren, plant XR einen Soli-Fonds. All das ist ein Privileg, das Menschen im so genannten Globalen Süden, die die Klimakatastrophe zum Teil schon jetzt betrifft, nicht haben. Ich aber schon.
Lektion Zwei: Die von XR empfohlene Position, um sich wegtragen zu lassen, ist “das Päckchen”. Hinsetzten, Knie anziehen, beide Arme unter den Knien verschränken. “Wie ein Gürteltier, das sich zu einer Kugel formt”, sagt die Frau neben mir und lacht. Sie hat Recht. Wird man in dieser Position von zwei Leuten mit einem Griff unter Arme und Knien hochgehoben, fühlt man sich kompakt und deshalb an empfindlichen Körperstellen geschützt. Der zweite Vorteil sei rechtlicher Natur, sagt Tori: Anders als der “Nasse Sack”, eine Haltung mit ausgestreckten Gliedmaßen ohne Körperspannung, werde einem “das Päckchen” nicht so schnell als Widerstand gegen polizeiliche Maßnahmen ausgelegt.
Der Berliner Rechtsanwalt Alexander-Greco Koukoulas sieht das ein wenig anders. Er ist auf Versammlungsrecht spezialisiert. Weil ich sichergehen will, dass alles stimmt, was Tori und Leonie erzählen, habe ich alle Aussagen von ihm prüfen lassen. Koukoulas sagt: “Auch das Versteifen des Körpers kann als Widerstand ausgelegt werden. Wenn man bei einer späteren Verhandlung an einen Richter gerät, der möglichst viele aburteilen will, hat man Pech gehabt.”
Lektion drei: Leute wegzutragen, ist ein Scheißjob
Wir teilen uns in drei Gruppen auf. Aktivistinnen, Beobachtende und Polizei. Ich gehöre zur Polizei. Die Gruppe der Aktivistinnen, auf die ich nun ein bisschen neidisch bin, lässt sich sofort auf dem Boden nieder und beginnt übermütig zu singen. “Power to the people!”, singen sie in Ruf und Antwort. “The People got the Power!” Sie singen ziemlich laut. “Getting stronger by the hour.” So laut, dass man sonst kaum noch was versteht.
“Wollen sie selbst laufen oder müssen wir sie wegtragen?”, frage ich einen jungen Mann, der vor mir sitzt und grinst. Er schüttelt den Kopf. Seine Arme sind links und rechts bei den Nachbarn untergehakt. Ich packe seinen Oberarm und ziehe daran. Nichts passiert. Ich packe fester zu. Das fühlt sich falsch an. Ich kenne nicht mal seinen Namen. Nach ein paar Sekunden Gezerre habe ich seinen Arm frei bekommen und er hakt sich schnell unter den Knien ein. Gemeinsam mit einer anderen “Polizistin” wuchten wir ihn hoch. “Fuck! Ist das schwer”, stoße ich hervor und bin froh, dass wir den Typen zwei Meter weiter wieder absetzten können, bevor es los zum Nächsten geht. Realistisch sind zwei Meter im Ernstfall vermutlich nicht.
Drei Aktivisten trage ich so davon, danach tun mir Rücken und beide Handgelenke weh und ich sehe die Arbeit der Polizei in einem anderen Licht. Klar, niemand muss Polizist werden. Aber, Alter! Was für ein Scheißjob! Ich versteh, dass es derbe anstrengend ist, Menschen wegzutragen, dass man das womöglich nicht machen will. Vor allem dann nicht, wenn es echt viele Demonstranten sind.
Lektion vier ist deshalb: Nicht unterhaken. “Der Feind ist nicht die Polizei, sondern das System”, sagt Leonie. “Wir wollen nicht Personen bekämpfen, sondern Unrecht.” Absolute Gewaltfreiheit sei sowohl Haltung von XR als auch Strategie. Man wolle jedes Gegenüber, auch die Polizei, als potenziellen Gesprächspartner verstehen. Eine Haltung, die radikalere linke Umweltaktivistinnen nicht unbedingt teilen. Sich in der Blockade unterzuhaken, sei deshalb nicht ratsam, sagt Leoni. Denn das führe möglicherweise zu einer gewaltsamen Reaktion.
“Im Zweifelsfall ist Gewalt das, was in den Medien als Gewalt rüberkommt.”
Dasselbe gelte auch für die Kommunikation mit wütenden Autofahren, die wegen einer Blockade nicht vorwärts kommen, sagt Tori. “Wir erklären unsere Ziele, aber wir streiten nicht mit denen wegen ihres SUV.”
Der Tag hat Spaß gemacht. Ich habe viel gelacht und mich mit den Leuten wohl gefühlt; sogar erste Kontakte für mögliche Bezugsgruppen geknüpft. Was aber noch wichtiger ist: Hier habe ich das Gefühl, etwas tun zu können, statt alleine zu hause über den Weltuntergang nachzudenken und in Depressionen zu verfallen. Mag das alles am Ende auch noch so aussichtslos sein.
Die letzte Übung ist ein Spiel. Eine Person stellt sich in die Mitte und ruft einen Satz. Alle anderen zeigen durch räumliche Nähe an, wie sehr ihnen das entspricht. “Ich würde mich sehr gerne bei der Blockade festnehmen lassen”, rufe ich, ohne zu wissen, ob ich das wirklich ernst meine. Eine Frau stellt sich neben mich. Immerhin. “Ich will nach dem Aktionstraining bei einer Blockade mitmachen”, ruft Tori etwas unbestimmter. Sofort wird sie von allen anderen dicht umringt.
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