Eine Nacht in Berlin, im KitKat etwa, im Berghain oder auf der Pornceptual, wirft Fragen auf. Wer ist der Mann, der in Lederhose auf Knien an den Pissoirs vorbei robbt? Wer steckt unter der Latex-Schweinemaske? Was macht die halbnackte Neon-Elfe mit dem Leuchtstab eigentlich beruflich?
Die Fotografin Kseniya Apresyan ist diesen Fragen nachgegangen. Sie hat Raverinnen und Raver porträtiert: in ihren Fetisch-Ausgehoutfits und in ihrer Arbeitskleidung. Die so entstandene Serie Dresscode dokumentiert nicht nur die zwei Seiten unterschiedlichster Menschen, sondern auch die einer ganzen Stadt.
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Kseniya selbst stammt aus Moskau. Vor fünf Jahren ging sie das erste Mal in Berlin feiern, es hat sie direkt erwischt. Mittlerweile lebt sie seit zwei Jahren in Berlin, jobbt als freie Art Direktorin für Kosmetikunternehmen und Spirituosenhersteller, nebenbei studiert sie Fotografie. Tagsüber. Nachts geht sie feiern. In den Clubs trifft sie Menschen in Leder, Lack und Kettenhemd – und lernt so Labortechniker, Touristenführer und Kundenbetreuerinnen für ihre Fotos kennen.
Diese Menschen nennt Kseniya ihre “Helden”. Sie möge das Wort “Model” nicht, sagt sie im Gespräch mit uns, damit gehe die Persönlichkeit dahinter verloren. Wir zeigen die Serie erstmals einem größeren Publikum.
VICE: Kseniya, wann verkleiden sich die Menschen auf deinen Fotos: Wenn sie zur Arbeit gehen oder in den Club?
Kseniya Apresyan: Auf jeden Fall sind sie nachts mehr sie selbst. Es ist etwas Besonderes für sie. Die Musik, ihr Look und wie sie sich fühlen, das alles soll eine Einheit bilden. Da geben sie sich noch mehr Mühe als im Job.
Wann entstand die Idee, beide Seiten zusammenzubringen?
Ein Typ, den ich in einem Club getroffen hatte, erzählte mir die verrücktesten Geschichten. Und irgendwann wurde mir klar, dass er in einer Botschaft arbeitet. Bei ihm zu Hause im Schrank hing ein weißes Hemd neben dem nächsten. Mich hat schockiert, wie groß der Kontrast zwischen einer Person bei Tag und bei Nacht sein kann.
Bei dem Projekt geht es um eine essentielle Frage: Wer ist dieser Mensch? Wer ist er für sich selbst? Manche führen Doppelleben mit zwei Persönlichkeiten.
Wie äußert sich das?
Das Outfit bestimmt, wie sich Leute vor der Kamera geben. In ihren Clubklamotten bewegen sie sich viel feiner, zeigen mehr Emotionen. Der Bankangestellte etwa war eine gewöhnliche Person. In Strapsen und High Heels wirkte er plötzlich total mit sich im Reinen. Er zeigte keine Scheu.
Einige der Abgebildeten sind kaum aus der Schule raus, andere könnten ihre Eltern sein. Hast du einen Unterschied zwischen ihnen bemerkt?
Die Leute, die schon sehr viel ausgegangen sind, sind wählerischer geworden. Sie beklagen, dass die Szene sich kommerzialisiert. Früher war alles mehr im Untergrund. Generell sehe ich allerdings kaum Unterschiede zwischen den Alten und den Jungen.
Was hat diese Menschen nach Berlin gebracht?
Die Leute sind teilweise von hier, andere sind Expats. Einige wenige sind wegen des Nachtlebens nach Berlin gezogen, die meisten aber wegen der Liebe oder einem neuen Job.
Du selbst stammst aus Russland.
In Moskau wäre so was nicht möglich. Die sozialen Klassen grenzen sich dort sehr voneinander ab. Niemand würde in so einem Outfit rausgehen, wenn er gesehen werden könnte. Ich habe etwa eine Zeit lang Informatik studiert. Es war undenkbar, dass einer meiner Kommilitonen zu so einer Party gehen würde. Aber hier in Berlin können sich sogar die Start-up-Typen ausleben.
Wie gehst du mit Dresscodes in deinem eigenen Leben um?
Ich arbeite als Grafikdesignerin, ich muss nie etwas Offizielles anziehen. Mein schwarzes Kleid aus dem Club trage ich manchmal auch auf der Arbeit.
Und was hast du über dich selbst beim Feiern in Berlin gelernt?
Ich bin freier geworden. Für mich ist das Nachtleben hier das Modell einer perfekten Gesellschaft. Im Club ist jeder glücklich. Du erfährst keinerlei Ablehnung, kannst nahezu alles tun, was du willst. Und die Leute unterstützen sich gegenseitig. Deshalb wollen sie so oft wie möglich dabei sein, deshalb hören sie nicht auf, auszugehen, während andere das nur einmal im Monat machen.
Fetisch-Kleidung, Latexkleider und Rave-couture liegen heute auch außerhalb der Clubs im Trend. Die Szene wird kommerzialisiert.
Auf dem Flohmarkt siehst du manchmal Leute, die ihre Klamotten verkaufen: “So kommst du ins KitKat!” Aber bei meinen Helden kommt dieser Stil von innen heraus. Sie kopieren niemanden, Trends sind ihnen egal.
War es eigentlich einfach, diese Leute zusammenzubekommen?
Ein paar waren miteinander befreundet. Der Rest kam über einen Aufruf zu mir, den ich in eine Facebook-Gruppe für KitKat-Fans gepostet hatte. Vorher hatte ich selbst im Club Leute angesprochen und ihnen meine Visitenkarte mitgegeben. Aber irgendwann haben die das fast immer vergessen. Ich weiß auch nicht warum. (lacht)
Kannst du durch das Projekt jetzt einfacher erkennen, wer da nachts vor dir steht?
Etwa ob jemand eine Kindergärtnerin ist? Nein, das bleibt auch für mich unberechenbar.
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