Seit 2016 bereist der britische Fotograf Mark Neville die Ukraine, um dort den Alltag zu dokumentieren. Ende 2020 ließ er London schließlich komplett hinter sich und zog nach Kiew.
Neville, der 2020 für den “Photography Foundation Prize” der Deutschen Börse nominiert war, legt bei seinen Fotobüchern immer Wert auf einen sozialen Anspruch. “Zu Büchern entwickelt man eine emotionale Beziehung, die bei Zeitungen oder dem Internet nicht vorhanden ist”, sagt er. “Es können noch so viele Diplomatinnen und Diplomaten über einen Krieg diskutieren, manchmal braucht es nur ein Lied oder ein Gedicht, um die Sichtweise der Öffentlichkeit zu einem Konflikt zu verändern.”
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Dieser Ansatz zieht sich wie ein roter Faden durch Nevilles Karriere und zeigt sich wohl am deutlichsten in seinem Werk Battle Against Stigma (2015-2018). Nachdem er drei Monate lang britische Fallschirmjäger in Afghanistan begleitet hatte, kehrte Neville mit einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Hause zurück. Zwei Jahre lang machte er eine Therapie. Mit seinem Fotobuch wollte er auch anderen helfen und verteilte es an gemeinnützige Organisationen, die sich gegen Obdachlosigkeit und für mentale Gesundheit einsetzen. So kam Neville mit dem Militärkrankenhaus in Kiew in Kontakt, was schließlich zu seiner langjährigen Beschäftigung mit der Ukraine führte.
Jetzt – mit mehr als 100.000 russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine – will Neville mit seinem neuesten Buch Stop Tanks with Books die internationale Gemeinschaft aufrütteln. 750 Bücher werden an Menschen geschickt, die für die Zukunft der Ukraine eine wichtige Rolle spielen – Politikerinnen, Botschafter und Parlamentsmitglieder, aber auch Prominente und Medienvertreterinnen. Zudem kann man Neville eine E-Mail schicken, damit wirklich jeder zur Unterstützung der Ukraine ein Exemplar von Stop Tanks with Books bekommt. “Das ist meine Art der Gegenwehr”, sagt der Fotograf. “Denn der Krieg wird nicht mit der Ukraine enden.” Wir haben mit Neville über sein Projekt gesprochen.
VICE: Wie ist die Stimmung in Kiew?
Mark Neville: Angespannt. Die Währung ist im Keller, die Geschäfte laufen zäh. Es ist nicht schön, jeder hat schon einen Plan für den Fall, dass die Bomben fallen. Meistens beinhaltet dieser Plan eine Fluchttasche mit Walkie-Talkies, Ausweisdokumenten und Dollars. Gleichzeitig sind die Restaurants voll. Wenn die Gefechte Kiew erreichen, werden die Leute nicht fliehen. Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat, dieser Auseinandersetzung hat also schon einen Grund.
Du kamst 2015 mit der Ukraine in Berührung, als das Militärkrankenhaus von Kiew nach einem Exemplar von Battle Against Stigma fragte. Was war dir davor über das Land bekannt?
Nur wenig. Ich wusste, wo sich die Ukraine befindet, hatte aber keine Ahnung vom Krieg. Russische Propaganda hatte den Konflikt immer als Bürgerkrieg zwischen Ost- und Westukraine dargestellt. Das ist jedoch nie der Fall gewesen. Leider wurde diese Fehlinformationen von der westlichen Presse verbreitet. Ich bin froh, dass sich daran etwas geändert hat, aber seit 2014 wird viel zu wenig berichtet. Der Konflikt bestimmt hier jeden Tag, um die 2,5 Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Teil des Problems – was ich mit meinem neuen Buch auch berichtigen will – sind geläufige Fehlannahmen über die Menschen in der Ukraine. Ein Beispiel: Viele Leute glauben, dass es hier eine riesige rechtsradikale Bewegung gebe. In jedem Land gibt es eine rechte Bewegung! Man kann also von einem grundsätzlichen Missverständnis und einer Angst gegenüber der Ukraine sprechen.
Wie lief deine erste Reise in die Ukraine?
Das war richtig bizarr. Das Krankenhaus schrieb mir in einer E-Mail von traumatisierten Veteranen aus Donbass. In postsowjetischen Ländern sagt man solchen Menschen normalerweise, dass sie sich nicht so anstellen sollen, und hat kein wirkliches Verständnis davon, wie sich psychische Gesundheitsprobleme äußern. Großbritannien hatte die erste Auslieferung meines Buchs beschlagnahmt, aber dieses postsowjetische Land war so fortschrittlich und bat mich um ein Exemplar. Das berührte mich, ich verspürte direkt eine tiefe Verbindung zur Ukraine und erkannte das Trauma der Menschen dort. Der Krieg spielt sich zwar 600 Kilometer von Kiew entfernt ab, aber man sieht es trotzdem in ihren Gesichtern. Darin konnte ich mich wiedererkennen, ich hatte ja auch gerade erst meine posttraumatische Belastungsstörung überwunden. Von da an bin ich jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit ergab, in die Ukraine gereist.
Du fotografierst jetzt seit mehreren Jahren in der Ukraine und in deinem Buch setzt du dich mit verschiedenen geografischen und kulturellen Bereichen des Landes auseinander – von Soldaten an der Front in Awdijiwka bis hin zu Raverinnen und Ravern in Kiew. Was haben die Menschen in deinen Bildern gemeinsam?
Es beeindruckt mich total, wie widerstandsfähig die Leute in der Ukraine sind. Ich habe mit Menschen geredet, die alles verloren haben, die dabei zusehen mussten, wie ihre Nachbarn getötet wurden, und die dringend Medikamente brauchen. Sie alle haben mich nie um Hilfe gebeten, sondern mir einen Tee gekocht und ihre Geschichte erzählt. Diese unglaubliche Belastbarkeit und dieser Stolz war bei allen Leuten, mit denen ich geredet habe, deutlich erkennbar.
Wie haben die Menschen auf deine Kamera reagiert?
Ich verwende eine große Analogkamera, das kann schon erstmal abschrecken. Ich frage vor jedem Foto um Erlaubnis und versuche, mich ein bisschen zu unterhalten. Wenn sie keine Lust haben, lasse ich es. Ich reise zudem immer an die gleichen Orte. Auf diese Weise können sich die Leute an mich gewöhnen. So habe ich es schon meine gesamte Karriere gemacht. Ich will nicht nur rein und wieder raus, sondern eine beständige Beziehung aufbauen.
Im Oktober 2020 bist du komplett in die Ukraine gezogen. Wie hat sich das auf deine Fotos ausgewirkt?
Ich sehe manche Sachen jetzt mit völlig anderen Augen. Ich glaube, ich habe mich von Klischees wegbewegt und interessiere mich viel mehr dafür, wie die Leute wirklich leben. Und das ist ganz anders, als man es in der westlichen Welt glaubt.
Was ist dir als Bewohner der Ukraine jetzt neu aufgefallen?
Im russischen Fernsehen hat ein Popstar gesagt, dass man die Ukraine zerschmettern werde. Das ist schrecklich. Allerdings macht man so etwas in der Ukraine jetzt seit acht Jahren mit. Als ich einmal in Odessa fotografierte, flogen Militärhubschrauber über den Strand, und Tausende Menschen hielten inne und schauten hoch zum Himmel. Als die Helikopter weg waren, gingen alle wieder schwimmen. Das ist die perfekte Metapher für den Alltag in der Ukraine: Die Leute machen einfach weiter. Natürlich bereitet einem die instabile Wirtschaft Sorgen, aber irgendwie muss man eben über die Runden kommen. Die angespannte Stimmung gefällt mir allerdings nicht. Was wird mit meinen Freunden passieren? Werde auch ich kämpfen müssen? Zu Großbritannien fühle ich mich nicht mehr verbunden. Ich lebe in Kiew. Das ist nicht mein zweites Zuhause, ich habe ja nur dieses eine. Deswegen ist dieser Konflikt auch für mich so persönlich.
Stop Tanks with Books erscheint im März und kann bei Nazraeli Press vorbestellt werden.