Kolosseum nennen ihn manche, diesen Kreisverkehr im Zentrum Berlins. Eine überirdische U-Bahn-Linie durchschneidet ihn mittig, ringsum stehen Hochhäuser. Geschäfte, Imbisse und viele ganz normale Anwohner gibt es hier, aber auch Drogendelikte, Diebstahl, Körperverletzung: Die Berliner Polizei führt das Kottbusser Tor als einen von sieben kriminalitätsbelasteten Orten.
Das erlaubt ihr, dort verdachtsunabhängig Menschen zu durchsuchen oder Personalien festzustellen. Im Februar soll nach langer Debatte eine Polizeiwache am Platz eröffnen. Die Polizei hofft dadurch auf mehr Kontrolle, mehr Überwachung. Dabei könnte sie eben damit bald das Sozialgefüge dieses besonderen Ortes in Berlin zerstören, meint Manuel Lossau.
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Lossau hat sich deshalb für sein Abschlussprojekt an der Ostkreuzschule für Fotografie vorgenommen, die Menschen zu treffen, die hier bald keinen Platz mehr haben könnten. Der Fotograf zeigt den Ort dabei als Organismus zwischen Elend und Lebensfreude. Bei ihm ist der Kotti, wie Berliner das Kottbusser Tor nennen, voller bunter Charaktere und Schmutz.
Wir haben mit ihm gesprochen.
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VICE: Warum der Kotti?
Manuel Lossau: Der Ort hat mich in den zwölf Jahren, die ich in Berlin lebe, immer begleitet. In meinem ersten Jahr habe ich dort ein Freiwilliges Soziales Jahr bei Fixpunkt absolviert, einer Anlaufstelle für Drogenabhängige, und bin so in Kontakt mit vielen Bedürftigen gekommen.
Was hast du da gemacht?
Niedrigschwellige Streetwork und sehr niedrigschwellige Drogenhilfe. Ich habe Nahrungsmittel und Utensilien für den Drogengebrauch ausgeteilt. Später habe ich dort auch als Erzieher und Streetworker gearbeitet.
Wie begann die Idee, das künstlerisch umzusetzen?
Ich habe mich schon immer für Menschen interessiert, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden und deswegen von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Außerdem habe ich meine Filme schon seit vielen Jahren bei Foto-Kotti entwickeln lassen. Daher die Verbindung zwischen meiner Fotografie und dem Kottbusser Tor.
Warum fasziniert dich der Kotti?
Es ist ein Ort, an dem sehr unterschiedliche Menschen sehr dicht zusammenkommen, ein Querschnitt der Gesellschaft. Hierdurch entsteht Druck, der künstlerisch interessant ist. Der Kotti ist immer im Wandel. Egal zu welcher Uhrzeit man dort hingeht, immer findet man ein ganz neues Setting. Und natürlich diese Authentizität des Untergrunds.
Was meinst du mit Authentizität?
Hier spielt sich das Leben ab.
Tut es das nicht überall?
In Berlin-Mitte zum Beispiel ist oftmals mehr Schein als Sein. Aber die Menschen, die immer am Kotti sind, sind nicht die, die ihn als Transitzone betrachten, sondern die ihn schon seit Jahren gewissermaßen bespielen, die sind einfach nah am Leben.
Die Menschen in Berlin-Mitte haben doch auch ein Leben.
Die Menschen am Kotti haben einfach andere Probleme. Sie spielen dir nichts vor. Die Menschen am Kotti beschönigen nichts, es geht ihnen nicht um das Aufrechterhalten irgendeiner Fassade. Sie sind hier zur Toleranz gezwungen.
Was ist der Unterschied zwischen den Menschen am Kotti und denen in Berlin-Mitte?
Am Kotti ist eine Kommunikation auf Augenhöhe möglich. Die Leute sind bereit, sich dir zu öffnen.
Sie sind dir nicht mit Skepsis begegnet?
Ich habe sehr viel Zeit dort verbracht und die Leute immer wieder getroffen. Am Anfang beäugen sie natürlich schon den Typ, der da mit der Kamera rumläuft. Aber irgendwann hatten sie verstanden, dass es mir zuerst darum ging, einfach Zeit mit ihnen zu verbringen, ohne dass unser Fokus auf dem Fotografieren liegt.
Dein Ziel war es, mit den Leuten rumzuhängen?
Genau dieses “Rumhängen” hat die Nähe erzeugt, die ich für meine Bilder brauche. Teilweise fiel es mir trotzdem schwer, diesen Mittelweg zwischen Nähe und Distanz zu finden, um mich von den Problemen der Menschen nicht zu sehr vereinnahmen zu lassen.
Was willst du mit den Bildern erzeugen?
Letztlich wollte ich ein Zeitdokument schaffen. Der Kotti ist ständig im Wandel. Ich will, dass man sich meine Fotos in zehn Jahren anguckt und die Menschen sieht, die heute dort gelebt haben.
Meinst du, die sind dann nicht mehr da?
Dort wird gerade ein Polizeipräsidium errichtet. Innerhalb der Bewohnerschaft sorgt das schon für Furore. Ich denke, es wird sich viel verändern und meine Fotos sollen das festhalten. Damit man sich an die Menschen erinnert.
Wie lange hast du da an dem Projekt gearbeitet?
Von 2020 bis 2022.
Wonach hast du die Leute ausgewählt, die du fotografiert hast?
Mir war es wichtig, die zu fotografieren, die immer da waren. Nicht die, die nur in der Mittagspause einen Döner essen kamen oder dort umsteigen. Es ging mir um die Leute, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben.
Zum Beispiel?
Da ist zum Beispiel Ercan, der Besitzer von Cafe Kotti. Oder der Reifenverkäufer, der seinen Laden dort seit den 90er Jahren hat. Viele der Menschen kannte ich auch noch von früher, einige sind aber auch bereits tot. So wie Ahmed.
Ahmed?
Ahmed ist der Mann im weißen Mantel. Er war charakteristisch für den Kotti. Früher hat er immer Reden auf einer Telefonzelle gehalten, für die Passanten. Es ging um seinen Weltschmerz und den Wandel am Kotti. Die Telefonzelle steht auch nicht mehr.
Wer ist der Mann, der wirkt, als wäre er uniformiert?
Der hat auch Reden gehalten, allerdings politische. Ich glaube, er sah sich als Fotograf, aber ich habe ihn nie fotografieren sehen. Die Kameras um seinen Hals waren eher Talismane. Er war Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK und wollte Passanten überzeugen, zu seinen Sitzungen zu kommen. Ich war nie da.
Und der Sheriff?
Ja, das ist der Sheriff. Er sieht mit seinen bunten Cowboystiefeln aus wie ein Sheriff, nennt sich Sheriff und vielleicht heißt er sogar Sherif. Er gehört zum Drogenmilieu am Kotti, hat es sich aber zur Aufgabe gemacht, für Ordnung zu sorgen. Ich habe schon beobachtet, wie er Streits unter Abhängigen geschlichtet hat.
Ist noch jemand auf deinen Fotos verstorben?
Die Frau, die so wild geschminkt ist. Ich weiß nicht, ob sie gestorben ist, oder einfach nur nicht mehr am Kotti ist. Sie war aber in den letzten zehn Jahren immer dort. Wir haben viel geredet. Sie ist Künstlerin und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den öffentlichen Raum zu verschönern. Sie hat also nicht nur sich bemalt, sondern auch Fassaden oder mysteriöse Symbole auf den Boden gezeichnet. Ihr Make-up war sozusagen die Erweiterung der Leinwand. Sie lebte schon lange auf der Straße und fand ihr Heil in der Kunst.
Aus deinen Fotos spricht auch viel Elend, wenn man etwa an die Krähen denkt, die Rattengedärme fressen. War das dein Ziel?
Das ist hart, ja. Ich wollte den Schmuddel nicht in den Mittelpunkt stellen, aber auch nichts beschönigen.
Wie die Drogen.
Genau. Ich weiß, dass viele Leute heroinabhängig sind und dass auch Crack immer mehr am Kotti ankommt, was in den letzten Sommern für viel Unmut und Chaos in der Szene gesorgt hat. Die Leute treten zunehmend aggressiver auf. Aber mir war es wichtig, den Kotti eben nicht als Drogenumschlagplatz und Kriminalitätsschwerpunkt darzustellen, sondern den Einzelschicksalen ein Gesicht zu geben. Wenn man den Menschen in die Augen sieht, erkennt man nämlich jede Menge Nähe und Wärme.
Die gibt es da auch?
Wenn man sie zulässt und sich auf die Leute einlässt, kann man Vertrauen und gute Gespräche finden. Der Kotti wirkt immer erst chaotisch und überfordernd, aber wenn man dort genug Zeit verbringt, kann man die schönen Seiten im Grau finden.
Dir ist nie etwas passiert dort?
Niemals. Im Gegenteil. Ich habe manchmal fotografiert und meinen Rucksack mit Kamera-Equipment an einer Ecke stehen lassen und die Leute haben selbstverständlich drauf aufgepasst, ohne dass ich darum bitten musste. Ich konnte ihnen auch meinen Hund anvertrauen, während ich fotografiert habe.
Stehst du jetzt also unter dem Schutz der Menschen dort?
Das würde ich so nicht sagen. Dafür ist der Ort zu groß und die Sozialstruktur zu komplex.
Was macht die Strahlkraft des Kottis für all diese Leute aus, warum kommen sie alle dorthin?
Ich denke, dass die Leute einfach einen Ort suchen, an dem viel passiert, an dem Bewegung herrscht. Wahrscheinlich hilft die Schnelllebigkeit beim Verdrängen. Stillstand wird schnell überfordernd, weil es das Alleinsein verstärkt.
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