​Fünf Judenhasser für ein Halleluja: Wie ich in der U-Bahn verprügelt wurde

Silvester 2011 | Foto: Sascha Kohlamm | Flickr | CC BY-SA 2.0

Mit 14 Jahren verließ Shahak Shapira gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngerem Bruder Israel und landete in einer gottverlassenen NPD-Hochburg in Sachsen-Anhalt. 2015 wurde Shahak für 2,5 Minuten bekannt, nachdem er in der Berliner U-Bahn antisemitische Gesänge filmte und dafür von einer Horde junger Männer angegriffen wurde. Ein Mediengewitter war die Folge, PEGIDA solidarisierte sich, aus Israel kam die Empfehlung, in die Heimat zurückzukehren. Dann bot ihm ein skrupelloser Verlag an, für lächerlich viel Geld ein Buch zu schreiben. Er stimmte aus purer … ähm … “Leidenschaft” … zu. Nun schreibt er über seine Jugend als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt und über seine Familie. Seine Botschaft: Jeder entscheidet selbst, ob er ein rassistisches Arschloch ist oder nicht.


Dies ist ein Auszug aus den Kapiteln “Silvester” und “Back to the Prügel” aus Shahaks Buch DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SCHREIBEN DÜRFEN!

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“Mensch, das ist ja fast wie zu Hause hier!”, schreie ich, um die Explosionsgeräusche der Silvesterraketen zu übertönen. Alle lachen. Die meisten kennen mich erst seit einigen Stunden, doch sie wissen schon, was ich mit “zu Hause” meine. Obwohl mich der liebe Jehova mit einer überaus arischen Tarnung ausgerüstet hat, ist meine jüdische Herkunft eines der ersten Dinge, die man über mich erfährt.

“Hey, ich bin Shahak.”

“Du bist was?”

“Shahak. Das ist ein Name. So heiße ich.”

“OK. Und dein Vorname?”

“Das ist mein Vorname.”

“Oh, ach so, sorry! Wo kommt das her?”

“Aus dem Hebräischen.”

“Wo ist das denn?”

“Es ist eine Sprache. Aus Israel. Ich komme aus Israel.”

“Ach Quatsch! Du bist doch ganz blond!”

“Ja, pass auf, die haben uns damals Wasserstoff statt Zyklon B in die Gaskammer geblasen.”

An dieser Stelle findet das Gespräch meist sein Ende.

In besonders lauten Umgebungen wie in Clubs oder auf Konzerten schreie ich auch gern irgendeinen willkürlichen Namen ins Ohr meines Gegenübers, meistens “Gandalf” oder “Adolf”. In der Regel können sie mich sowieso nicht hören und nicken mich einfach freundlich an.

Seit zwei Stunden ist es 2015 in Berlin, aber eigentlich sieht es hier gerade mehr nach Damaskus aus. Explosionen an jeder Ecke, keine Taxis, dafür aber umso mehr Krankenwagen und jede Menge bewaffneter Irrer auf den Straßen, die ihren Freischein zum kopflosen Verhalten ausnutzen, um anderen wortwörtlich den Kopf abzuknallen. Gerade erst zwei Stunden zuvor, pünktlich zum Jahreswechsel, stand ich im Badezimmer einer großen Altbauwohnung in Kreuzberg mit einer Flasche Wodka in meiner Hand und desinfizierte die blutende Augenhöhle einer jungen Frau, nachdem von der Straße eine Silvesterrakete in Richtung unseres Balkons abgefeuert worden war und sie mitten ins Gesicht getroffen hatte.

Während die anderen Gäste der Hausparty etwas ratlos wirkten, schnappte ich mir die grüne Moskovskaya, die ich selbst mitgebracht hatte, und tränkte ein weißes Verbandstuch mit dem klaren Destillat. Der Wodka ist ein guter Kompromiss: mit sieben Euro die Flasche für eine Hausparty nicht zu schade, mit 40% Alkoholgehalt nicht so ein billiges Gesöff wie Gorbatschow. Kaufen Sie keinen Wodka unter 40%, auch wenn Ihnen die Flasche mit 37,5% ironischerweise “des Wodkas reine Seele” verspricht – Sie sind besser als das.

“Ich sehe nur einen grauen Fleck”, schrie das Mädchen in Panik. Ich holte ein iPhone aus meiner Hosentasche und flashte mit dem Kamerablitz in ihr Auge. “Die Pupille reagiert, das ist schon mal gut!” Natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich da tat, aber irgendjemand musste souverän bleiben, damit das arme Mädchen keine ernsthafte Panikattacke bekam. “Keine Sorge, der Krankenwagen dürfte jeden Moment kommen.” Ich wischte ihr das Blut aus dem Gesicht, verpasste der Schnittwunde über ihrem Auge einen frischen Wodka-Aufguss und bedeckte sie mit einem provisorischen Verband.

Kein vergnügungssteuerpflichtiger Termin so weit, aber immer noch besser, als alleine zu Hause rumzuhocken. Bis zum Anbruch des letzten Abends des Jahres 2014 hatte nämlich alles danach ausgesehen, als würde ich den Jahreswechsel mal wieder alleine von meiner Couch aus betrachten wie schon in vielen Jahren zuvor. Am letzten Tag des Jahres 2012, meinem ersten Tag in Hamburg, hatte ich es tatsächlich geschafft, Silvester zu verschlafen. Ich hatte mich also schon auf eine weitere Silvesternacht mit Facebook und YouPorn gefasst gemacht, tragischerweise neben Heiligabend die einzige Nacht im Jahr, in der man nicht mal Essen kommen lassen kann, ohne sich dem mitleidigen Gesichtsausdruck des Lieferjungen auszusetzen.

Es hat ja schon was, wenn der erste Mensch, der einem im neuen Jahr begegnet, gleich eine große Salami-Pizza mitbringt, doch wie verhält man sich in einer solch misslichen Situation? Schreit man “Gesundes Neues!” und umarmt den Mann? Und was ist trauriger: Silvester eine Pizza zu liefern oder eine zu bestellen? Klare Sache, der Lieferant wäre nur beruflich alleine unterwegs. Ich hingegen wäre aus rein privaten Gründen einsam.

Zum Glück aller potenziellen Beteiligten wurde mein Gedankenstrang von dem Ton unterbrochen, der Tag für Tag Herzen auf der ganzen Welt höher schlagen lässt: dem iPhone-Nachrichtenton. Es war Nick, ein in Berlin lebender Australier. “Hey, any plans for tonight?”, schrieb er. Menschen mit Würde hätten an dieser Stelle und zu so später Stunde vielleicht irgendwelche tollen Alibi-Pläne erfunden, um soziale Integrität vorzutäuschen, doch ich antwortete schlicht: “Ah, du bist meine Rettung!”, und brach die Bestellung auf pizza.de ab.

Nachdem die Rettungskräfte das verletzte Mädchen abgeholt hatten, ging die Party unermüdlich weiter. Gegen halb drei in der Früh machte sich der besonders feierwütige Kern auf den Weg zu einer anderen Party im Prenzlauer Berg, ich als Ehrenmitglied jedes feierwütigen Kerns ganz vorne mit dabei. Laufen also ein Israeli, ein Australier und acht Niederländer Richtung U-Bahn …

Wir weichen den Raketen und Böllern aus, die aus allen möglichen Richtungen in alle möglichen Richtungen fliegen. Die Straßen sind selbst für Berliner Verhältnisse sehr verdreckt, überall liegen die bunten Verpackungen der Pyrotechnik, und das Schießpulver in der Luft riecht wie damals, als ich noch klein war und meine Spielzeugpistole mit roten ringförmigen Zündplättchen auflud. Ich frage mich, warum die Menschen in Deutschland so viel Geld ausgeben, bloß um eine Nacht lang eine vage Vorstellung davon zu bekommen, wie sich das Leben in Syrien tagtäglich anfühlt. Schließlich finden wir einen Unterschlupf in der U-Bahn-Station Hallesches Tor.

Zwei Minuten später hält ein überfüllter Zug. Die Türen öffnen sich, und wir quetschen uns rein. Alle Sitzplätze sind belegt, also stehen wir im Gang. Noch bevor sich die Türen schließen, werden die Geräusche der übrigen Fahrgäste von einem lauten Gesang übertönt:

“Fuck Israel! Fuck Israel! Fuck Israel! Fuck Juden!”

Ein deutscher Jude: Autor Shahak Shapira | Foto: Johann Sebastian Hänel

Diese ausgefallenen Lyrics wiederholen sich in Dauerschleife. Sie kommen von einer Gruppe, sieben junge Männer, die ihre musikalische Hetze mit recht asynchronem Klatschen begleiten und mich an eine betrunkene Bande im Bierzelt eines Heimatfestes erinnern würden, wenn sie nicht so orientalisch aussähen. “Fuck Juden! Fuck Israel! Fuck Juden! Fuck Israel!”, grölen sie munter weiter. Niemand unter den anderen Passagieren des überfüllten Zuges scheint sich daran zu stören. Manche oxidieren weiter ungestört vor sich hin, andere vertiefen sich, peinlich berührt, in ihre Smartphones, als müssten sie plötzlich die Friedensverhandlungen zum syrischen Bürgerkrieg in einem Gruppenchat mit Assad und ISIS auf WhatsApp führen. Nick schaut mich besorgt an. Ich wiederum schaue mir diese Männer an und frage mich, ob sie wohl jemals einen leibhaftigen Juden gesehen haben.

“Hey! Wir wollen das nicht hören!”, sage ich, doch sie wollen mich auch nicht hören und singen einfach weiter. Ihre Sitznachbarn, ein großer rothaariger Mann mit einem ebenso rothaarigen Bart und ein weniger großer dunkelhaariger Mann mit weniger Bart, beide in ihren Dreißigern, fordern nun ebenfalls ein Ende der Hetze.

“Jetzt hört doch mal auf …”, sagt der große Rothaarige leicht genervt und erlangt damit die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Judenhasser. Prompt werden die beiden Beschwerdeführer von der Gruppe umzingelt und eingeschüchtert. Abwechselnd schreien sie “Yallah!” oder “Khalas!”, während der dunkelhaarige Mann mit wenig Bart vergeblich versucht, mit einem unbehaglichen Lächeln eine Eskalation zu verhindern. Ich möchte näher ran, doch einer von ihnen stellt sich mir in den Weg.

Er trägt ein kariertes Hemd und einen unglaublich bescheuerten schwarzen Hut, der aus einem Michael-Jackson-Video stammen könnte und da auch wirklich hätte bleiben müssen. Michael Jackson rät, wir sollten uns lieber nicht mit seiner Crew anlegen. Schließlich seien sie betrunken und wüssten auch gar nicht, was sie da täten. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob er uns beschwichtigen oder bedrohen will, beschließe aber recht zügig, dass es mir egal ist, und hole mein Handy raus. Nachdem mir das iPhone in dieser Nacht schon treue Dienste als medizinische Lampe geleistet hatte, muss es nun als Videokamera herhalten.

So eine Handy-Kamera, das ist schon eine praktische Sache. Menschen benehmen sich anders, wenn sie wissen, dass sie gefilmt werden. Vor allem wenn sie unfreiwillig gefilmt werden. “Nimm mal deine Wichse runter!”, ruft einer von ihnen. Da ich kein wachsartiges Putzmittel hochhalte, schlussfolgere ich nach nur kurzer Analyse, dass er wohl mein Handy meint. “Nein!” Ich weigere mich, meine Wichse runterzunehmen. Ein richtiger Mann steht zu seiner Wichse! Einen Moment später stecke ich sie aber doch noch ein, damit mir ja keiner meine kostbare Wichse aus der Hand wegschnappt. Der Kerl möchte meine Widerspenstigkeit mit Prügel bestrafen, wird aber von seinem Kumpel zurückgehalten, also spuckt er mich an. Er trifft auch, und zwar genau ins Gesicht.

Ich spüre, wie der fremde Speichel mein Kinn runtertropft. Es ist ekelhaft, aber es ist vor allem erniedrigend. Der Zug hält nun Bahnhof Friedrichstraße, unser Ziel. Ich muss meine gesamte Willenskraft zusammenraffen, um mich nicht von Nicks Griff loszureißen und mit einer geballten Faust dem Spucker entgegenzurennen, doch dann schaue ich mir die Menschen hinter mir an, mit ihren unschuldigen niederländischen Augen, die eine authentische Schlägerei in der Berliner U-Bahn sicherlich nicht als eines der Highlights ihrer Reise verbuchen würden, und lasse mich fast widerstandslos aus dem Wagen schleifen.

Nach einigen Schritten auf dem Bahnsteig flüstert mir Nick mit besorgter Stimme zu: “Die steigen jetzt auch aus.”

“Pfff, sollen sie doch! Wo sind sie de … ”

Ich drehe mich langsam um: Vor mir haben sich fünf Männer im Halbkreis aufgebaut. Links von uns steht noch die U-Bahn mit offenen Türen, einige Meter hinter mir haben sich meine Freunde auf dem Bahnsteig zerstreut. “Lösch das Video”, sagt einer nur. Er sieht kräftig aus, trägt eine schwarze Bomberjacke und einen kurzen Bart. Seine Haare sind an den Seiten fast abrasiert, genau wie die der vier anderen Bomberjackenträger an seiner Seite. Ich schlage einen Kompromiss vor: “Wenn ihr uns jetzt in Ruhe lasst, werde ich das Video löschen.” Werde ich natürlich nicht, aber hey, manchmal muss man auch seine Friedensfühler ausstrecken. Er starrt mich an, und ich halte dem Blick stand. Dann nickt er und dreht sich um.

Das war ja fast zu einfach, denke ich mir. Doch auf halbem Weg ändert der Typ offenbar seine Meinung: Er dreht sich wieder zu mir und spuckt mich ebenfalls an. Diesmal trifft er nur meinen Schal. Dann stürmen die fünf auf mich los.

Seit dreizehn Jahren lebe ich in Deutschland. In diesen dreizehn Jahren musste ich viel hinnehmen: Beleidigungen, Drohungen, Schläge—nur weil ich ein Jude bin. Das hört heute auf. Den Scheiß lass ich mir keine Minute länger gefallen.

Ich wehre den Kräftigen mit einer Ohrfeige ab—findet er gar nicht gut. Für mich ist das ein freundlicher Kompromiss, schließlich hätte ich ja auch mit der Faust zuschlagen können. Die Angreifer wissen mein Zugeständnis nicht zu schätzen: Nun hagelt es Tritte und Fäuste aus allen Richtungen. Meine Knie sind gebeugt, und meine Ellenbogen verschließen sich wie ein Käfig um mein Gesicht. Eine Faust von links streift meine Kopfhaut, eine andere kommt von rechts und trifft mich an der Schläfe.

So weit fühlt es sich an wie ein ganz normaler Abend im Ring mit Zeki, meinem 120 Kilo schweren und zwei Meter großen ehemaligen Thaibox­-Trainer. Dreimal wöchentlich provozierte ich Zeki in meiner Zeit in Hamburg dazu, mich beim Sparring ordentlich durchzunehmen, und er freute sich, endlich einen genügend bescheuerten Schüler gefunden zu haben, bei dem er sich nicht zurückhalten musste. Es war ein gutes Geben und Nehmen zwischen uns, wobei ich vor allem nahm und er vor allem gab.

Nach einiger Zeit verstand ich allerdings, wie irrwitzig Thaiboxen doch für Juden ist. Warum für etwas Geld zahlen, was man auf der Straße jederzeit gratis kriegt? Ich stehe am Rande des Bahnsteigs, fange die Schläge und Tritte meiner Gegner gemütlich ab und warte auf den richtigen Moment, um zurückzuschlagen. Richtig überblicken kann ich die Situation nicht, da mir meine Deckung die Sicht versperrt. Dann ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich strecke meinen Oberkörper und hole zum Schlag aus, diesmal mit geballter Faust. In dem Augenblick zieht mich jemand durch die offenen Türen zurück in die Bahn. Es ist Nick.

Neben ihm steht der große rothaarige Mann mit dem roten Bart und versucht ebenfalls, etwas Platz zwischen uns und den Angreifern zu schaffen, die direkt vor den Türen des Zuges stehen. Nick knallt eine Glasflasche gegen die Kante des Bahnsteiges, um die Horde abzuschrecken. Sie stellen sich in einer perfekten Reihe vor dem Zug auf und spucken im Chor (spuckt man im Chor?) in unsere Richtung, während sich die elektrischen Türen zwischen uns langsam schließen. Wo holen die die viele Spucke her? Nehmen die etwa zu Beginn des Abends gezielt isotonische Getränke zu sich, um einer möglichen Dehydration entgegenzuwirken?

Dass die mittlerweile vollständig geschlossenen Bahntüren uns nun vor ihrem Speichelregen beschützen, scheint das Lamarudel nicht ganz begriffen zu haben. Sie spucken und spucken weiterhin fleißig gegen die Glasscheiben. Vielleicht ein Versuch, die Luftfeuchtigkeit mit ihren Körperflüssigkeiten dermaßen in die Höhe zu treiben, dass die elektronische Steuerung der Bahn versagt?

Trotz dieses brillanten Plans lässt sich der Zug nicht in die Knie zwingen und fährt langsam an. Wir rollen davon, und ich sehe noch den Typen mit dem Michael­-Jackson-­Hut, der mir mit einem zufriedenen Lächeln und lockerer Körperhaltung signalisiert: “Ich hab’s euch gesagt.”

Ich wiederum deute mit meinem Finger auf mein Handy, um ihm zu signalisieren, dass wir hier noch lange nicht fertig sind.

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