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"An der Waffe wäre ich nutzlos" – Ukrainer im Kriegsgebiet über den Ausnahmezustand

Ukrainer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht verlassen, um im Zweifelsfall gegen die russische Invasion ankämpfen zu können. Wir haben mit drei jungen Männern über diese Regel gesprochen.
Eine Collage zeigt drei junge Ukrainer, die sich mit uns über die Kriegssituation und den Ausnahmezustand in ihrer Heimat unterhalten haben
Alle Fotos bereitgestellt von den Interviewpartnern
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Seit Russland vor knapp vier Wochen die Invasion in der Ukraine gestartet hat, sind rund 3,5 Millionen Menschen aus dem Kriegsgebiet ins Ausland geflohen. Viele ukrainische Städte liegen in Schutt und Asche, und der russische Präsident Wladimir Putin hat die Bombardierung auf strategisch wichtige Orte wie Kiew ausgeweitet. Das bringt immer mehr ukrainische Frauen und Kinder dazu, in die Nachbarländer zu fliehen, wo sie sicher sind. Männer müssen hingegen bleiben.

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Seit der ersten Woche des Kriegs sind ukrainische Männer zwischen 18 und 60 angewiesen, die Ukraine nicht zu verlassen und das Land zu verteidigen. Zwar werden derzeit nur Reservisten und Wehrpflichtige ins Militär eingezogen, aber im Zweifelsfall können alle Männer zum Dienst an der Waffe gezwungen werden. Das hat dazu geführt, dass viele Frauen und Kinder von ihren Partnern, Vätern und Brüdern getrennt wurden und keine Ahnung haben, ob und wann sie sie wiedersehen werden.

Viele Ukrainer wollen für ihr Land einstehen, andere wünschen sich, ins Ausland fliehen zu können. Wir haben mit drei Männern aus dem Kriegsgebiet gesprochen.

Dmitri Koloah, 34: "Ich habe mich damit abgefunden, dass Krieg herrscht und dass der Ausnahmezustand verhängt wurde"

Ein bärtiger Mann mit schwarzem Kapuzenpullover sitzt mit seiner rothaarigen Katze vor einer gemusterten Tapete und schaut in die Kamera

Die Situation in der Ukraine ist schlimm. Einige Städte wurden belagert, einige sind komplett zerstört. Selbst die vor Kurzem noch relativ sicheren Gegenden im Westen des Landes sind inzwischen nicht mehr wirklich sicher. Die Leute haben sich an den Krieg gewöhnt und Bewältigungsstrategien entwickelt

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Ich befinde mich derzeit im Westen der Ukraine. Von Kiew aus hierher zu kommen, war sowohl emotional als auch körperlich sehr schwer und hat mehr als 50 Stunden gedauert. Meine Familie ist immer noch in der Landesmitte und will nicht weg. Bei ihnen ist die Situation zum Glück relativ entspannt, aber zehn Kilometer von ihrem Haus entfernt befindet sich ein Militärflughafen, der schon dreimal bombardiert wurde. Meine Eltern haben Angst.

Ich kann der Armee wegen fehlender Erfahrung nicht beitreten. An der Waffe wäre ich nutzlos. Weil ich keine Art von militärischer Ausbildung habe, wurde ich auch in die allerletzte Mobilisierungskategorie eingeteilt. Es wäre gut, wenn ich die Ukraine verlassen und irgendwo arbeiten könnte, um meine Familie finanziell zu unterstützen. Alle meine Verwandten haben ihre Jobs verloren. Aber es ist jetzt nun mal, wie es ist. Ich habe mich damit abgefunden, dass Krieg herrscht und dass der Ausnahmezustand verhängt wurde. Ich versuche jetzt, einen Job als Komponist oder Sound-Designer zu finden.

Jeder Ukrainer und jede Ukrainerin trägt diesen Spirit zur Rebellion, diesen Freiheitsgedanken in sich. Wir können uns nicht unterwerfen. Wir würde eher sterben, als in Gefangenschaft zu leben. Aber jeder hat einen eigenen Kampf auszutragen. Ich bin Künstler, und das ist mein Schlachtfeld.

Meinem Kater Misha geht es gut, aber seit einigen Tagen streiten wir uns immer mal wieder. Jeder verliert langsam die Nerven, auch die Tiere. Ich glaube, er will – genau wie ich – einfach nach Hause. 

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Wlad Tislenko, 32: "Ich bin unseren Beschützern, der ukrainischen Armee, sehr dankbar"

Ein junger Mann mit kurzen Haaren, Bart, Sonnenbrille und dunkler Winterjacke steht vor einer mit Graffiti beschmierten Wand und blickt in die Kamera

Ich bin in Kiew. Zwar wurden hier letztens mehrere Zivilgebäude bombardiert, aber es ist im Vergleich zur Front noch relativ sicher.

Ich will die Ukraine nicht verlassen. Ich bin da, wo ich sein will. Das ist meine Art, gegen die russische Invasion zu protestieren. Ich spreche Russisch und komme ursprünglich aus Donezk. Ich bin also ein gutes Beispiel dafür, dass Putins Behauptung, er müsse die Ukraine von Neonazis befreien, Bullshit ist.

Ich bin unseren Beschützern, der ukrainischen Armee, sehr dankbar. Sie schaffen es, einen viel stärkeren Gegner zurückzuhalten. Trotzdem glaube ich, dass ich unserem Land in einer zivilen Rolle gerade mehr helfen kann.

Ich versuche, meine tägliche Routine weiter einzuhalten. Es besteht aber das Risiko, dass Kiew angegriffen und vom Strom, Wasser und anderen notwendigen Ressourcen abgeschnitten wird. Ich konzentriere mich darauf, mich von diesem Risiko nicht beeinflussen zu lassen. Zudem helfe ich meinen Freunden und in der Nachbarschaft. Gerade viele ältere Menschen sind derzeit auf die Unterstützung durch uns jüngere Leute angewiesen.

Der Großteil meiner Familie ist nach Westeuropa geflohen. Ich bin froh, dass sie in Sicherheit sind, aber sie sind unglücklich über ihren Geflüchtetenstatus. Ich hoffe, dass die Menschen in Europa den Ukrainerinnen und Ukrainern gegenüber positiv bleiben und ihnen helfen, sie in ihre Länder zu integrieren. Der Krieg und seine Folgen werden uns vielleicht noch sehr lange beschäftigen.

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Oleksii Sobolew, 38: "Alle hier versuchen sich in etwas, das sie vor dem Krieg noch nie gemacht haben, um der Ukraine zu helfen"

Ein junger Mann mit kurzen Haaren, Schnurrbart und dunkler Jacke steht in einem Kellergewölbe und blickt in die Kamera

In der Ukraine geblieben zu sein, um zu helfen, bereitet mir viel Freude und ist interessant. Man spürt richtig, wie sich das Land an die Situation anpasst und anpackt. Alle hier versuchen sich in etwas, das sie vor dem Krieg noch nie gemacht haben, um der Ukraine zu helfen – egal ob es um humanitäre Hilfe oder um die Unterstützung von Unternehmen und der Armee geht. Das motiviert, und alle geben ihr Bestes. 

Am ersten Tag des Kriegs zog ich zusammen mit meiner Frau und unseren beiden jungen Töchtern in einen Vorort von Kiew zu meinen Eltern, wo schon acht andere Verwandte Unterschlupf gefunden hatten. Dort blieben wir elf Tage, dann kamen russische Panzer in den umliegenden Dörfern an. Daraufhin entschieden wir, meine Eltern, meine Frau und meine Kinder zu meiner Schwester in die Slowakei zu bringen. Ich habe sie bis zur Landesgrenze begleitet.

Ohne sie zurückzubleiben, war sehr traurig. Ich weiß ja nicht, wann ich sie wiedersehen werde. Das tut weh. Ich wurde richtig wütend und weinte.

Ich leite ein staatliches Unternehmen und muss hier sein. Wir organisieren für die Regierung Auktionen, bei denen staatliches Eigentum und Land versteigert wird. Das ist gerade in der jetzigen Situation wichtig, da die wirtschaftliche Aktivität in der Ukraine signifikant abgenommen hat.

Ich würde aber auch bleiben, wenn ich fliehen könnte. Ein Grund, warum die Ukraine sich so heftig wehrt, ist ja der Kampf um unsere Freiheit. Ich kann viel dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg früher gewinnt und dass meine Familie bald wieder vereint ist.

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