Die Autorin steht am Ufer des Zürichsees, hinter ihr sieht man das Opernhaus, sie ist zurück in Zürich um über ihr Zuhause zu schreiben.
Alle Fotos: Anna-Sophie Dreussi
Menschen

Homecoming: Zürich ist die Stadt, die mir zeigt, dass alles gar nicht so schlimm ist

Die Häuschen an der Limmat sind fein säuberlich aufgereiht – wie die Hähnchen- und Rinderfilets in den Kühlschränken der Globus Delicatessa.

Ich bin nicht in Zürich aufgewachsen. Ich habe aber einige Jahre dort gewohnt, bevor ich nach Berlin gezogen bin. In Zürich habe ich angefangen, jemand zu werden. Wenn die wachsenden Arme und Beine plötzlich proportional mit dem Körper übereinstimmen, dann darf man das mit dem Leben endlich mal ein bisschen ausprobieren. Zürich war also mal dafür da, damit ich etwas ausprobieren konnte. Und jetzt ist Zürich dafür da, damit ich etwas vermissen kann. Wenn ich sage: "Ich fahre nach Hause", dann meine ich Zürich.

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In Zürich wurde ich cool, das findet zumindest ein Freund von mir. Er kennt sogar den genauen Moment. Als ich nach einer Garderobenschicht um 8 Uhr morgens bei einer Hausparty auftauchte, bei der man mit einer Leiter über den Balkon reinklettern musste. Auf dieser Leiter wurde ich also cool und eine halbe Stunde später sehr betrunken. Versucht habe ich es davor aber schon oft. Also das Coolwerden. Einen starken Drang cool zu sein, hatte ich das erste Mal, als ich S kennengelernt habe. Die Personen in diesem Text sind anonym, weil sie ihr Partyverhalten nicht offenlegen wollen.


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An S denke ich manchmal, auch wenn wir eigentlich kaum noch Kontakt haben. Im Sommer zum Beispiel. Im Sommer schaute ich diesen Film, in dem sich mittelmäßige, depressive Männer die ganze Zeit ermutigend auf die Schulter klopfen. Der Kinosessel klappte nach hinten, wenn ich mich zurücklehnte. Ich wollte dann gerne meine Füße aus meinen Schlappen ziehen und sie auf den Sitzlehnen der Reihe vor mir abstützen. Doch dann entschied ich mich dagegen. Denn bei mir würde das nicht cool aussehen, sondern so als könnte ich mich nicht benehmen. Eine Frau wie S könnte das. Ihre Wohnung liegt im Kreis 1. Ich hatte ganz in der Nähe in einem Imbiss für gesunde Salate und Bowls gearbeitet und das ständige Lächeln gelernt. 

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Im Kreis 1 gibt es die Bahnhofstrasse, die Banken, Bänkerinnen, Eile, selbstgerechte Unhöflichkeit und Telefonieren, während man sich eine teure Bowl zum Mittagessen bestellt. Hier nahmen sich alle zu wichtig, deshalb tat ich es auch, wenn ich S besuchte. Als ich mal bei ihr Zuhause war, saßen meine Zähne ganz fremd in meinem Mund. Wir hatten irgendwas gezogen und sie hatte kein Toilettenpapier mehr und wir suchten mit vollen Blasen stundenlang nach irgendwelchen Servietten. Der Boden ihrer Wohnung war schief und manchmal zeigte sie mir gebundene und gedruckte Bücher, in denen sie ihre Gedanken gesammelt hatte. Ich war neidisch, aber statt sie aus einem Neid heraus blöd zu finden, wollte ich unbedingt, dass sie mich toll findet. Vielleicht würde ich irgendwann auch Gedanken haben, die so wichtig sind, dass andere Leute sie lesen müssen. Im Kreis 1 habe ich das ständige Lächeln und das Mich-wichtig-nehmen gelernt. Vielleicht auch maßlose Selbstüberschätzung.

An der Bahnhofstraße, Zürichs Einkaufsmeile, liegt der Globus. Das Kaufhaus beherbergt eine Parfümabteilung, Schmuck und Luxusmarken auf mehreren Stockwerken. Im ersten Untergeschoss befindet sich die Globus Delicatessa. Ein viel zu aufgeräumter Supermarkt ohne grelles Supermarktlicht. Alles ist teuer und sauber. Wenn man die Kühlschränke aufmacht, hat man das Bedürfnis, sie ganz sachte wieder zu schließen. Als Kind war ich hier manchmal mit meinen Eltern. Wir kamen immer nur für sehr spezifische Lebensmittel hierher. Käsecracker mit fragwürdigem Verpackung-zu-Inhalt-Verhältnis, "Tartufi dolci"-Pralinen, Honig aus der Provence. Ich stellte mir dann immer vor, wie es wohl wäre, den Wocheneinkauf hier zu machen. Jetzt mache ich das auch und beobachte die Leute, die volle Einkaufswagen durch die Gänge schieben. Château Lynch-Bages – 1.000 Franken die Flasche – klappert in ihren Einkaufswagen und blubbert durch ihren Verdauungstrakt. Vielleicht ist das das einzige, was den letzten Krümel Bescheidenheit in ihren Körpern bewahrt: den 1.000-Franken-Wein selbst in den Einkaufswagen zu laden und durch die Globus Delicatessa zu rollen und einem fremden Einkaufenden aus Versehen in die Kniekehlen zu brettern, wenn sie geistesabwesend am Olivenöl- und Essigregal vorbeischlendern und über Steuerhinterziehung, Nazigold und kosmetische Eingriffe nachdenken. Zuhause auf ihren Kücheninseln stehen die "Sophia Loren"-Rosen und der Datura-Zweig für 62 Franken. Sie injizieren sich Eigenfett in ihren Po. Und auf dem sitzen sie dann in ihren Zweit- und Drittdomizilen, wo manchmal ihre Freundinnen und Freunde vorbeikommen, die sich alle ihre Nase in dieselbe umoperiert haben. 

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Die Züricher Altstadt säumt die Limmat.

Von der Bahnhofstrasse ist es nicht weit bis zur Limmat. Der Fluss wird gesäumt von der Zürcher Altstadt. Es ist idyllisch trotz Nebel. Die Häuschen sind fein säuberlich nebeneinander aufgereiht – wie die Hähnchen- und Rinderfilets in den Kühlschränken der Globus Delicatessa. Beim Bürkliplatz fließt die Limmat aus dem Zürichsee. Auf der einen Seeseite das Opernhaus, auf der anderen verschneite Berge. Zürich ist höflich. Berlin will, dass jedes Gefühl laut ist. In Berlin bin ich, um zu übertreiben. Aber hier ist alles halb so schlimm. Zürich will wissen, was der ganze Lärm soll. Meine Welt bricht in sich zusammen oder ich bin unglücklich verliebt oder treffe dumme Entscheidungen und bin stolz darauf und die Berge, die man vom Zürichsee aus sieht, sind ruhig und verschneit und die Häuser neben der Limmat sind geordnet. Sie finden, ich soll mich mal beruhigen.

Ein paar Stege führen auf den Zürichsee, neben einem legt ein Schiff an.

Als ich in Zürich gewohnt habe, habe ich nie in der Öffentlichkeit geweint, weil ich da noch nicht wusste, dass man das darf. In Zürich war ich auch nie so richtig traurig, weil ich noch nicht wusste, dass das geht. Fürs Sorgenmachen brauche ich eine Stadt. Wahrscheinlich bin ich weggezogen, damit ich mich endlich mal ordentlich aufregen kann.

Ich treffe M zum Daydrinking. M ist schon lange mit mir befreundet und eigentlich nur, weil ihre vorherige beste Freundin Ms Mutter etwas Geheimes gepetzt hat. Ich war die Einzige, die dann übrig blieb. Wir schwänzten oft Schule und fuhren nach Zürich, um uns ohne Ticket auf Konzerte zu schleichen oder stundenlang in einem Starbucks zu sitzen. Und irgendwie machen wir gerade dasselbe wie damals. Sie sollte eigentlich für eine Klausur lernen und ich behaupte, gerade zu arbeiten.

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Wir treffen uns in der Kronenhalle Bar, weil man das so macht in Zürich. Das sagen mir Männer und Thomas Gottschalk. Der wird nämlich auf der Webseite zitiert. ("IN JEDEM FALLE KRONENHALLE!!! IMMER WIEDER - IMMER GERNE !") Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt haben sich manchmal hier getroffen. Oder Yves Saint Laurent, Andy Warhol, James Joyce. Und jetzt treffen sich alle hier, um irgendwie dazuzugehören. Hier sehen alle aus wie Tagesschausprecher oder NZZ-Journalisten. Sie hängen in ihren Stühlen und ihre mit Hemdknöpfen besetzten Bäuche über ihre Ledergürtel. 

In der Kronenhalle Bar stehen unsere Gläser auf einem roten Tisch, eine Person in weißem Hemd sitzt auf der anderen Seite des Tischs.

"Berlin: Anna hat schon wieder große Gefühle. Hm, blöd", ja, ich könnte es versuchen als Tagesschausprecherin. "Meine Damen und Herren, nun das Wetter: Zürich ist schön und unbeeindruckt."

Ein betrunkener Amerikaner in der Ecke sieht anders aus. Statt wie ein Tagesschausprecher sieht er aus wie ein Schauspieler mit der kleinen Nebenrolle "betrunkener Typ in einer Bar, der auf Streit aus ist", die nur dazu da ist, um zu zeigen, wie gut die Hauptfigur mit einer stressigen Situation umgehen kann. Er sagt, dass M. und ich tolle Mäntel haben. 

"You must be Instagram-famous." 

Ich nicke: "Yeah, we just escaped the paparazzi outside. They're such a hassle." Ich will ihm sagen, dass "Sophia Loren"-Rosen auf meiner Kücheninsel stehen und dass ich diesen Drink trinke für mehr Eigenfett und Brazilian Butt Lift. 

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Dieser Typ und wir und die Tagesschausprecher und NZZ-Journalisten – wir kippen uns Dry Martinis rein und nehmen uns wichtig und wissen, dass wir es besser wissen als alle. Was es genau ist, das wir besser wissen, wissen wir aber auch nicht genau. Nach zwei Stunden Hochstapeln gehen wir.

An der Langstrasse wollen wir kurz etwas essen. Irgendwann kommt ein anderer Freund dazu. L hat mir mal in einem zu langen Brief erklärt, dass er verliebt in mich ist, und ich habe ihm in einer WhatsApp-Nachricht gesagt, dass ich davon unbeeindruckt bin.

In Zürich fand ich die immer gleichen Männer toll. Sie tragen Hoodies gegen eine frühe Midlife-Crisis und wir treffen uns für unsere Dates in Clubschlangen statt im Kino. Wahrscheinlich schauen solche Typen sowieso nie Filme, sie sind zu beschäftigt damit, das beste Klo für Lines zu finden oder Praktis in ihren Werbeagenturen anzumachen. Aber wenn sie Filme schauen würden, dann solche, in denen Männer lange in die Kamera schauen und rauchen und energisch aus ihren Autos aussteigen und Autotüren zuknallen und ohne zu schauen Straßen überqueren. Und wären wir doch mal im Kino, würden wir uns während der Trailer-Vorschau mit Michelle Pfeiffer an den vielen Knien vorbei aus der Reihe drängen, damit ich auf Toilette mit ihnen rumknutschen kann und nicht über Michelle Pfeiffers Falten nachdenken muss. Ich habe Angst vor dem Älterwerden.

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In Zürich habe ich damit angefangen. Mit dem Älterwerden. In Zürich habe ich auch angefangen, jemand zu werden. Manchmal, wenn ich dann zurückkomme, schaue ich nach, ob ich immer noch jemand bin. Wahrscheinlich schon.

Vor einer Weile hat meine Mitbewohnerin zu mir gesagt: 

"Ich sehe heute irgendwie anders aus."

"Das passiert mir oft. Bis jetzt hat aber noch niemand was gesagt." Es ist Pandemie und irgendwie sehen wir ganz oft anders aus. Heute irgendwie nicht. Zürich sieht gleich aus und ich auch.

Auf einem goldenen Tisch stehen Gläser, eine Zigarettenschachtel, Tabak ein Feuerzeug und eine Kerze.

In einer Bar an der Langstrasse reden wir über Pandemie und alle Geheimnisse, die uns einfallen: "Jemand ist in mich verliebt und ich glaube, ich bin auch zurück verliebt, aber es wäre mir jetzt etwas unangenehm, das hier zuzugeben." Nur nicht übertreiben.

Die Autorin steht vor einem Neonschild, auf dem eine Frau zu sehen ist.

Als wir an der Langstrasse unsere Sabich-Rollen essen, sagt ein Business-Typ vor der Imbissbude zum anderen: "Willst du auch was?" 

"Ne", antwortet er. "Sonst werde ich später nicht betrunken." Und ich bin fast ein bisschen neidisch, weil ich glaube zu wissen, dass mir heute nichts Spannendes mehr passiert. Aber hier passiert alles aus Versehen. 

Für das Versehen ist M nicht mehr dabei und wir gehen weiter in einen Club, in dem ich mal gearbeitet habe und die dummen Entscheidungen aufgereiht habe wie die leeren Flaschen auf den Ablagen neben der Tanzfläche. Ich glaube, es gibt keinen besseren Ort. L kennt Leute und dann passiert doch noch ein Abend ganz aus Versehen. Ich lache mehr, als ich muss, und L und ich schauen einander die ganze Zeit an mit Augen, die sagen: "Weißt du, was ich meine?" Und dann grinsen und nicken wir, obwohl wir gar nichts wissen. Um 3 Uhr gehe ich und Zürich und ich sind weicher als sonst. Wir wissen wahrscheinlich beide, dass die Müdigkeit auf dem Weg, aber noch nicht ganz bei uns angekommen ist.

Ich laufe alle Umwege, die mir einfallen. Ich gehe am Hauptbahnhof vorbei, an den Tramstationen Sihlquai und Bahnhofquai. Vom Central aus gehe ich noch mal den Fluss entlang. Der Weg ist Teil meines alten Heimwegs. An manchen Donnerstagen legte ich den Weg zu Fuß zurück, weil die Trams nicht mehr fuhren. Irgendwann gehe ich die Gassen hoch ins Niederdorf. Hier kann man ganz gut Kaffee trinken und genervt aussehen, nachdem man einen Mittag lang von Leuten mit Handy zwischen Ohr und Schulter angeschnauzt wurde. Im Cabaret Voltaire zum Beispiel. Da traf ich manchmal L oder M. Dann drehe ich wieder um, gehe zurück zum Fluss. Die Häuser sehen immer noch aufgeräumt aus. Ich wahrscheinlich nicht. Auf einem Lieferwagen steht "Es ist Freude bei den Engeln Gottes über jeden Sünder, der umkehrt von seinen bösen Taten" und ich fühle mich fast ein bisschen bestätigt in meinem Nachhausegehen. 

Vielleicht ist das jetzt mein Liebesbrief an Zürich. Ganz laut, mit großen Gefühlen. Aber Zürich bleibt schön und unbeeindruckt. 

Der Zürichsee gesäumt vom Opernhaus.

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