Häftlinge besuchen einen Yogakurs in der JVA Heidering außerhalb von Berlin. Fotos von Julian Röder
Aus der The Road to Nowhere Issue 2015
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VERÖFFENTLICHT IN PARTNERSCHAFT MIT THE MARSHALL PROJECT
Vergangenes Jahr ließ sich Gregg Marcantel, der Justizvollzugsminister des US-Bundesstaats New Mexico, freiwillig für 48 Stunden in Isolationshaft stecken. Er war einer der wenigen, die so etwas tun würden, und es sah ihm sehr ähnlich: dramatisch, strapaziös, gut für eine Story. Seit er die Stelle ein paar Jahre zuvor angetreten hatte, hatte Marcantel sich dafür eingesetzt, die Zahl der Häftlinge zu reduzieren, die täglich 23 Stunden in ihre Zellen eingesperrt werden. Er wollte ein besseres Verständnis dafür entwickeln, was sie durchmachen. In einem Interview sagte er: „Es gibt Dinge, die muss man einfach fühlen, schmecken, hören und riechen.”
Die Videoaufnahmen von seinen zwei Tagen in einer dreieinhalb mal zwei Meter großen Zelle zeigen Marcantel, einen ehemaligen Polizisten mit Bodybuilder-Figur, im gelben Häftlingsanzug mit orangefarbener Mütze. Er hört Schreie und Lärm vor der Tür, er schreibt in ein Notizbuch, er stochert in gummiartigem Fleisch herum. Sein Gesichtsausdruck wechselt zwischen Langeweile und Neugier. Er liest Elie Wiesels Holocaustmemoiren Die Nacht und ein Businessbuch namens Boundaries for Leaders.
Auch wenn sie die meiste Aufmerksamkeit erregte, war diese Aktion nicht Marcantels einzige Bemühung, die Isolationshaft zu thematisieren. Seine Behörde arbeitet mit der New Yorker NGO Vera Institute of Justice zusammen, um ein Programm namens Restoration to Population umzusetzen. Dieses würde es Isolationshäftlingen mit Verbindungen zu Gefängnisbanden erlauben, ihrer Mitgliedschaft abzuschwören und durch gute Führung aus der Isolationshaft zu kommen. Ein weiteres Programm würde es Informanten sowie jungen und schwachen Häftlingen, die zu ihrem eigenen Schutz isoliert sind, ermöglichen, zusammen in einer normalen Verwahrung zu leben. Die Zahl der Bundeshäftlinge in Isolationshaft in New Mexico ist zwischen Ende 2013 und Juni 2015 von 10,1 Prozent auf 6,9 Prozent gesunken.
Das war ein bescheidener Sieg—und kein sonderlich riskanter: Die Eindämmung der Isolationshaft führt nicht so schnell zu aufgebrachten Bürgern wie etwa finanzielle Ausgaben, um Häftlingen ein Studium zu ermöglichen. Marcantel wurde von Progressiven dennoch kritisiert, da er gegen ein bundesstaatenweites Verbot der Isolationshaft für geistig Kranke stimmte. Doch in der positiven Berichterstattung positionierte sich Marcantel als reformorientiert und dennoch konservativ genug, um nicht als zu „verbrecherfreundlich” zu gelten.
Marcantel machte seinen Plan zur Reduzierung der Isolationshaft auf clevere Weise schmackhaft: Anstatt sich auf Menschenrechte zu konzentrieren, sprach er von öffentlicher Sicherheit. Er sagte dem Albuquerque Journal zum übermäßigen Einsatz der Isolationshaft: „Damit wird nichts weiter erreicht als ein sozial isolierter Mensch, der dann in Ihre Wohnviertel zurückkehrt” und dort weitere Verbrechen begeht: In einer Studie wurde festgestellt, dass solche Häftlinge mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit erneut straffällig werden. „Wir müssen alles in unserer Macht tun, um Menschen besser aus dem Gefängnis zu entlassen, als sie bei ihrer Aufnahme waren.”
Marcantels Argument, dass Gefängnisse die Wiedereingliederung ernst nehmen müssen, um Verbrechen zu reduzieren und die Öffentlichkeit zu schützen, ist zu einem der Hauptpunkte in der aktuellen Diskussion um die Reform der US-Strafjustiz geworden, in der Journalisten, Politiker und Experten von einem noch nie da gewesenen Maß an Kooperation entlang des politischen Spektrums sprechen.
Diese Reformen haben viele Unterstützer, darunter finanzpolitisch Konservative, die in der Inhaftierung gewaltloser Straftäter eine Geldverschwendung sehen, Evangelikale, die überzeugt sind, zu lange Haftstrafen würden den Menschen ihre Chance auf Erlösung rauben, Libertäre, die in dem riesigen Strafjustizsystem ein Beispiel für zu große Regierungseinmischung sehen, und Progressive, die Verbrechen als Ergebnis rassistischer Ungerechtigkeit und mangelnder Sozialhilfe für Arme und geistig Kranke bezeichnen. Es kann schwierig sein, so viele verschiedene Ideologien unter einer gemeinsamen Ausdrucksweise zu einen, und so tendiert die Terminologie dazu, vage zu sein: „intelligenter Umgang”, „bewährte Methoden” oder „evidenzbasiertes Vorgehen”. Doch die Hauptziele sind die Verkleinerung der Gefängnisbevölkerung und die Vermeidung ihrer Rückkehr in die Kriminalität.
In Westeuropa sind sowohl die Inhaftierungs- als auch die Verbrechensraten viel kleiner. Das Vera Institute nahm 2013 eine Gruppe von US-Justizvollzugsbeamten mit auf eine Gefängnisführung in den Niederlanden und Deutschland. Dort lernten sie, dass die Haftstrafen in ganz Europa deutlich kürzer sind als in den USA und dass die Wiedereingliederung der Häftlinge eine viel wichtigere Rolle spielt. Es gibt pro 100.000 Einwohner in Deutschland weniger als 100 Häftlinge, während es in den USA 600 Häftlinge pro 100.000 sind. Wenige Deutsche verbringen mehr als 15 Jahre im Gefängnis.
Zwar ist die niedrige Verbrechensrate in Deutschland nicht direkt auf die therapiefokussierten Gefängnisse zurückzuführen, doch die Forscher am Vera Institute sind überzeugt, dass Einblicke in deutsche Gefängnisse den Amerikanern bei der Verbesserung ihrer eigenen helfen können.
Als das Institut anfing, die Führung durch deutsche Gefängnisse für Juni 2015 zu planen, lud es Marcantel und andere führende Strafjustizbeamte mit Interesse an Reformen dazu ein. Nicholas Turner, der Präsident des Instituts, hoffte, dass bei der einwöchigen Exkursion unerwartete Bande entstehen und Weichen für politische Kollaboration in den USA gestellt würden.
An einem Sonntagmorgen diesen Juni kamen die zwei Dutzend Mitglieder des International Sentencing and Corrections Exchange verschlafen in Berlin an. Außer Marcantel hatte das Vera Institut die Oberhäupter der Gefängnissysteme in Connecticut, Tennessee und Washington eingeladen sowie zwei Bezirksstaatsanwälte, einen ehemaligen Häftling, einen Historiker, einen Rechtsprofessor, mehrere Gesetzesanalysten und einflussreiche Aktivisten von beiden Seiten des politischen Spektrums.
Marcantel wirkte bei der Vorstellungsrunde in einem Privatraum eines Berliner Restaurants lebhaft. Alle zählten die Universitäten, Agenturen oder Thinktanks auf, die sie vertraten. Die Akademiker verwendeten nüchterne Fachsprache, während Craig DeRoche von der evangelikalen Organisation Justice Fellowship davon sprach, was Leute „im Herzen” hatten. Marcantel war der Erste, der einen Witz riss, als er sich mit „Hi, ich heiße Gregg und ich bin Alkoholiker” vorstellte.
Jeremy Travis, der Präsident des John Jay College of Criminal Justice der City University of New York, erklärte, dass die deutsche Herangehensweise an die Inhaftierung sich stark vom aktuellen amerikanischen Ansatz unterscheide, obwohl dies nicht immer der Fall gewesen sei. In den 1960ern seien die Inhaftierungsraten in Europa und den USA grob vergleichbar gewesen, doch dann sei die der USA angestiegen. Von den 1970ern bis zum Ende der 1990er gab es in vielen europäischen Ländern keine Änderung der Inhaftierungsrate, die größer als 50 Prozent gewesen wäre, doch in den USA stieg sie in diesem Zeitraum um circa 300 Prozent an.
Entscheidungen des US-Kongresses—darunter vor allem der Violent Crime Control and Law Enforcement Act von 1994, oft einfach „Verbrechensgesetz” genannt—bestärkten Bundesstaaten darin, ihre eigenen Gesetze zu verabschieden, die die Zahl der Häftlinge erhöhten: „Three Strikes”-Gesetze, Mindeststrafen, strengere Drogengesetze, längere Haftstrafen, niedrigere Altersgrenzen für die Schuldfähigkeit, mehr Einschränkungen in der Bewährung. Die Verbrechensrate war dabei zu steigen, und nachdem eine Wahlkampagne von 1988 den liberalen Gesetzen unter Gouverneur Michael Dukakis die Schuld an der Vergewaltigung und dem Mord an einer Frau gab und so seine politische Karriere ruinierte, waren Demokraten ebenso begierig darauf, strengere Haftstrafen einzuführen, wie Republikaner. Zu dieser Zeit leitete Travis, von Präsident Clinton ernannt, das National Institute of Justice, eine Denkfabrik der US-Regierung. „Wir haben euch alle gefördert”, sagte er zu den Teilnehmern aus einem Dutzend US-Bundesstaaten, „damit ihr eure Gesetze ändern und die Leute länger im Gefängnis behalten konntet.”
Marcantel hörte aufmerksam zu. Seine Rolle in dieser Geschichte war mehr praktisch als politisch gewesen. Nach einer Zeit als Schweißer in den Ölfeldern seines Heimatstaats Louisiana und ein paar Jahren bei den Marines verbrachte er den Großteil seiner Karriere damit, als Polizist Mörder und Drogendealer durch New Mexico zu jagen. Er nutzte Horrorvorstellungen vom Gefängnis dazu, Kriminelle zum gegenseitigen Verrat zu drängen. Er redet heute noch mit angeberischer Nostalgie von dieser Zeit (einmal jagte er einen Drogenboss bis nach Alabama), doch er gibt zu, er habe selten daran gedacht, wo diese Straftäter landeten, nachdem er sie fasste. Wie die meisten Menschen stellte er sich diese Orte als eine Art weit entfernte Hölle vor.
Seit 2011, dem Jahr seiner Ernennung zum Justizvollzugsminister von New Mexico, hat er diese Hölle sehr gut kennengelernt. Gefängnisvergewaltigungen, mit denen Polizisten gern renitenten Verdächtigen drohen, „sind nicht mehr lustig”. 2012 meldeten 14 Prozent der Frauen in einem Gefängnis in New Mexico, sie seien in der letzten Zeit Opfer sexueller Übergriffe geworden. Marcantel versteht, wie die Bedingungen in den meisten US-Gefängnissen, kombiniert mit dem Mangel an Bildungsprogrammen dazu führen, dass die Männer und Frauen nach ihrer Entlassung immer wieder zurückkehren. 2012 stellte seine Behörde fest, dass in New Mexico „mehr als die Hälfte aller Häftlinge nach ihrer Entlassung innerhalb von fünf Jahren zurückkehrt”.
Jeder Bundesstaat hat seine eigene Geschichte der wachsenden Gefängnisbevölkerung, der sensationellen Verbrechen, politischen Dynamiken und Rechtfertigungen für Gesetze. 1980 kostete ein Aufstand im größten Bundesgefängnis New Mexicos 33 Insassen das Leben (siehe „Der Gefängnisaufstand von Santa Fe” auf Seite 88). Dies war die gewaltsamste Gefängnismeuterei seit der in der Attica Correctional Facility in New York neun Jahre zuvor. Marcantel erzählte anderen Teilnehmern der Reise, dieser Aufstand habe die verbreitete Meinung genährt, Wiedereingliederungsmaßnahmen seien nutzlos, da Häftlinge stets angriffsbereit seien.
Ein Grund für seine Teilnahme an der Reise war, dass er dem nicht zustimmte. Er wusste, dass Gefängnisse helfen können, Kriminelle zu transformieren und dass er mit der Leitung effektiver Gefängnisse „mehr gegen Verbrechen unternehmen kann als mit der Verbrecherjagd in den Straßen”.
Am folgenden Morgen stieg Marcantel in einen Bus, um die JVA Heidering außerhalb von Berlin zu besuchen, wo etwa 650 Männer inhaftiert sind. Die Gefängnisdirektorin Anke Stein empfing die Gruppe und gestikulierte beim Sprechen elegant in Richtung der offenen Korridore und riesigen Fenster. Amerikanische Gefängnisse sind meist voller Lärm und fluoreszierender Lampen und abgestandener Luft. Dieses Gebäude war ruhig, wie ein Unicampus kombiniert mit einem Museum für moderne Kunst.
Die Einrichtung wurde 2013 eröffnet, und obwohl sie sauberer und schöner als die meisten in Deutschland ist, gab die Atmosphäre dort einen Einblick in die deutsche Herangehensweise an Inhaftierung. Gero Meinen, der Leiter der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, erklärte der Gruppe, das „alleinige Ziel” seines Systems sei es, „Häftlingen nach der Entlassung ein Leben der sozialen Verantwortung zu ermöglichen”.
Laut Meinen sei es zwar teurer, in Deutschland eine Person zu inhaftieren (etwa 120 Euro am Tag, während es in den USA umgerechnet etwa 75 Euro sind), doch dank der geringeren Häftlingszahl (eine große Mehrheit der Haftstrafen hat eine Länge unter zwei Jahren) gäbe es mehr Ressourcen, um Beamten umfassende psychologische Kenntnisse zu vermitteln und Therapeuten zur Behandlung der inhaftierten Männer und Frauen einzustellen.
Die Männer in Heidering arbeiten in verschiedenen Jobs (viele sind in einer gefängnisinternen Fabrik für Autoteile angestellt) und müssen etwas von ihren Einkünften für die Zeit nach der Entlassung sparen. Sie dürfen ihre eigene Kleidung tragen und wenn sie keinen Freigang erhalten, dürfen ihre Partnerinnen und Kinder sie besuchen. Ein Sozialarbeiter kann Familienbesuche ohne Überwachung genehmigen, die in einem gemütlichen Zimmer mit Einbauküche, Kinderbett und Schlafsofa abgehalten werden. „Intimbesuch?”, fragte Marcantel die Direktorin Stein. „Natürlich”, antwortete sie.
Marcantel bemerkte das Fehlen von Überwachungskameras. „Versuche, eine zu finden”, sagte er. „Es gibt keine!” Er sprach mit Bernie Warner, dem Leiter des Gefängnissystems von Washington, der Zigarettenrauch roch—eine Rarität in US-Gefängnissen, wo rauchen meist verboten ist. Zusammen mit Scott Semple, ihrem Kollegen aus Connecticut, sahen sie abwechselnd in die Zellen. Jeder Insasse hatte seine eigene Zelle—das Wort „Zimmer” wäre wohl angemessener—mit Telefon und Doppelbett. Marcantel sprach die Beschreibung aus, die ihm im Laufe der Woche immer wieder über die Lippen kommen würde: „Ikea-mäßig.” Das Bad enthielt eine weiße Keramiktoilette, die einen starken Kontrast zu den Schüsseln aus rostfreiem Stahl bildete, die in amerikanischen Einrichtungen neben dem Bett an die Wand geschraubt sind.
Die nächsten vier Tage verbrachte er in einem Zustand des Staunens über die vielen Dinge, die deutschen Häftlingen zugänglich sind, von Dartpfeilen („Sie sind einfach überall!”) über Obst („Daraus kann man doch Fusel brauen!”) über Messer (es war kein Kommentar nötig—er blickte nur mit aufgerissenen Augen darauf). Hin und wieder seufzte Marcantel und sagte: „Ich denke, man bekommt von Menschen das, was man von ihnen erwartet.”
Nach der Führung durch Heidering setzten sich die Amerikaner zu einem Essen zusammen, das Häftlinge zubereitet hatten: Brathähnchen mit Bratgemüse. Alles war saftig und schmackhaft. Das Tischgespräch war chaotisch: „Sie trauen den Häftlingen mit Messern?”, „Die Zellen sehen aus wie mein Zimmer im Studentenwohnheim!”
Marcantel lenkte das Gespräch in seiner Ecke auf die öffentliche Sicherheit: Er war immer noch nicht so sicher, ob man US-Häftlingen mit so vielen Freiheiten trauen konnte, doch kleine Details wie das Tragen der eigenen Kleidung würden ihnen vielleicht helfen, sich ein Gefühl der Verbundenheit mit der Gesellschaft zu bewahren. Vielleicht ließen sich Dinge, die der Öffentlichkeit als „Annehmlichkeiten” erscheinen würden, als Mittel zur Reduzierung der sozialen Isolation der Häftlinge verkaufen, mit der sich Rückfälle in die Kriminalität vermeiden lassen, so Marcantel. Immerhin, erklärte er, würden diese Ex-Häftlinge irgendwann „hinter dir in der Supermarktschlange stehen, ob es dir gefällt oder nicht”.
In seiner Nähe saß Khalil Gibran Muhammad, Historiker und Autor von The Condemnation of Blackness, ein Buch darüber, wie die frühe amerikanische Bevölkerung dazu kam, dunkle Haut mit Kriminalität zu assoziieren. Er runzelte die Stirn, als er das mit der Supermarktschlange hörte; er dachte, Marcantel würde damit meinen, jedes Verbrechen würde von einem schlimmen Monster begangen, das von der Gesellschaft ferngehalten werden müsse, bis es „repariert” sei. Er erklärte, massive Ungleichheit und die Finanzverbrechen der Wall Street würden Bedingungen erschaffen, unter denen „Menschen aus unzähligen Gründen mit größerer Wahrscheinlichkeit verzweifelt sind und schlimme Dinge tun”.
Marcantel nickte, um eine gewisse Nervosität zu überspielen. „Ich stimme zu”, sagte er schließlich, „aber es gibt gewisse Dinge, die verboten sind. Und wenn wir nur diese Ebene betrachten und nicht die philosophische—”
Muhammad unterbrach: „Ich will das nicht als philosophisch abtun. Es gibt Gesetze, die das Verhalten an der Wall Street regeln. Doch das verfolgen wir nicht strafrechtlich.”
„Sie haben recht”, sagte Marcantel. „Was ich sagen will, ist … wenn Menschen [ins Gefängnis] kommen, dann landen sie aufgrund gewisser egoistischer Entscheidungen dort.”
Dies war nicht das erste Mal, dass Marcantel kriminelle Handlungen als „egoistisch” bezeichnet hatte. Nach Jahren als Polizeiermittler war das einfach zu seinem Weltbild geworden.
Shaka Senghor, der 19 Jahre wegen Mordes in Michigan inhaftiert war, davon einige Jahre in Isolationshaft, saß in der Nähe und aß seine Portion Hähnchen. Am ersten Tag hatte er die Gruppe ermahnt, bei der Betrachtung der Rechtfertigung der Masseninhaftierung in den USA die Bedeutung der Hautfarbe nicht zu vergessen („der schwarze Mann als Buhmann”). Nun richtete er eine Frage an Marcantel: „Was ist mit Missbrauch?” Viele Kinder, die missbraucht werden, begehen als Erwachsene Verbrechen, und das könne man schließlich kaum schlicht als „Egoismus” bezeichnen.
„Natürlich kann Missbrauch eine Rolle spielen”, sagte Marcantel schnell. „Doch es gibt einen freien Willen, und daher sind es immer noch egoistische Entscheidungen … Würden Sie sagen, die meisten Häftlinge sind nicht aufgrund egoistischer Entscheidungen im Gefängnis?”
„Ich denke, sie haben schlechte Entscheidungen getroffen”, sagte Senghor.
„Fast jeder Insasse, mit dem ich je gesprochen habe, hat gesagt, er habe sich egoistisch verhalten”, erwiderte Marcantel.
„Weil Sie das Gefängnissystem leiten”, sagte Senghor, „erzählen sie Ihnen, was Sie hören wollen.”
Der Gesetzesanalyst Marc Levin, Direktor einer Koalition namens Right on Crime und eine zentrale Figur unter den konservativen Unterstützern der Gefängnisreform, mischte sich ein. Er sagte, das wahre Problem in den USA sei „die Annahme, dass wir Verbrechen verhindern, indem wir Menschen im Gefängnis das Leben schwer machen”.
Immerhin saßen sie gerade in einem Gefängnis, in denen es den Insassen nicht elend ging, in einem Land mit einer niedrigen Verbrechensrate. Ein Mitglied der Gefängnisverwaltung sagte, die „Ursachen der Straffälligkeit” würden für jeden Insassen individuell beurteilt. Die einzelne Person würde zwar noch verantwortlich gemacht, was vielleicht mit Marcantels Ansichten zum Egoismus vereinbar ist, doch das bedeute nicht, dass ihr wie in den USA ihre Rechte und ihr Platz in der Gesellschaft aberkannt würden.
Doch was würde die US-Bevölkerung davon halten? Die Amerikaner fragten sich in ihren Unterhaltungen in Deutschland immer wieder, ob eine Verbesserung der Haftbedingungen Empörung nach sich ziehen würde—oft wird von „Clubhotel-Knast” gesprochen—und politische Folgen hätte. Jeff Rosen, der Bezirksstaatsanwalt von Santa Clara, Kalifornien, sagte: „Ich kann mir nur schwer eine Wählerschaft vorstellen, die sich wünscht, dass Häftlinge würdevoll behandelt werden.”
Die Amerikaner setzten ihre Reformüberlegungen am nächsten Tag bei einem Besuch der JVA Tegel fort. Auf diesem alten Gelände mit seinen Stein- und Backsteingebäuden hielten die Nazis den Theologen und Dichter Dietrich Bonhoeffer gefangen. Die Deutschen sprachen wenig über die Vergangenheit, doch in den vorangegangenen Wochen hatten die Amerikaner das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin besucht. Marcantel würde später Deutschland voll Bewunderung als „eine Gesellschaft, die nach ihren Taten im Holocaust so viel Wert darauf legt, würdevoll mit Menschen umzugehen” beschreiben.
Nun lief er durch ein Gebäude in Tegel, in dem ein Programm namens „Präventivhaft” zu Hause war. Es war makellos sauber, mit weißen Wänden und Katzenfotos in der Nähe des Eingangs. Es gab einen riesigen Fitnessraum, ein Musikzimmer mit glänzenden Gitarren und einem Schlagzeug sowie eine Fahrradwerkstatt. Die Einheit war überraschenderweise für die gewalttätigsten Häftlinge: Männer, die ihre Strafen abgesessen hatten, doch die in den Augen der Gefängnisverwaltung trotz aller Bemühungen noch nicht bereit zur sicheren Wiedereingliederung in die Gesellschaft waren.
Kerstin Becker, die Leiterin des Programms, erklärte, die Männer hätten ein Recht auf so viel Freiheit wie möglich, da sie nicht länger zur Strafe, sondern nur zum Schutze der Öffentlichkeit verwahrt würden.
Die öffentliche Sicherheit beschäftigte die Amerikaner. Was, wenn jemand aus einem solchen Programm entlassen wurde und dann eine Vergewaltigung oder einen Mord beging? Marcantel malte sich das Szenario aus: Es war leicht vorstellbar, wie empört die Öffentlichkeit in einem solchen Fall wäre. Er fragte Becker direkt: „Was, wenn jemand straffällig wird?”
„Das wird vorkommen”, antwortete Becker. (Und das war es bereits—mehrere aus dem Programm entlassene Männer hatten Raub und Angriffe begangen.)
Marcantel fragte, ob das Programm daraufhin beendet würde. „Natürlich nicht”, sagte Becker. Sie wirkte verwirrt. Meinen, der Berliner Gefängnischef, meldete sich zu Wort. „Wir können nicht gefeuert werden”, sagte er. „Das Verfassungsgericht steht hinter uns, das stärkt unsere Position.”
Hier wurde ein großer kultureller Unterschied deutlich: Das deutsche Gefängnispersonal machte sich viel weniger Sorgen um die öffentliche Meinung als die Amerikaner. Michael Tonry, ein Rechtsprofessor an der University of Minnesota, der bereits in verschiedenen europäischen Ländern gelebt hat, versuchte, die Gründe zu erläutern. Er sagte, in weiten Teilen Westeuropas würden Richter und Staatsanwälte nicht gewählt und sähen es als „ihre Verantwortung, den Rechtsprozess vom Einfluss der öffentlichen Emotion abzuschirmen”.
„Die Gesellschaft empört sich also auch hier”, sagte Marcantel. „Es gibt hier trotzdem Leute, die sich ungerecht behandelt fühlen und die wütend sind, die zu Opfern geworden sind. Doch das System ist ein wenig mehr vor ihrem Einfluss geschützt.”
An jenem Abend saß Marcantel mit den anderen Amerikanern um ein Lagerfeuer. Sie waren zu einem Hotel in Mecklenburg-Vorpommern etwa zwei Stunden nördlich von Berlin gefahren. Marcantel erklärte der Gruppe, dass er sich noch immer frage, wie man Politikern und Wählern zu Hause den Wert des deutschen Umgangs mit Häftlingen erklären könne. Er hatte gehofft, um Amerikaner zu überzeugen, Statistiken nutzen zu können, klare und unmissverständliche Beweise für die Effektivität dieser Programme zur Verhinderung der erneuten Straffälligkeit. Wenn man den Abgeordneten einzelner Bundesstaaten Daten zur deutschen Rückfälligkeitsrate zeigen würde, könne man Ausgaben rechtfertigen, um Gefängnisse humaner zu gestalten.
Doch die Deutschen wollten nicht mitmachen. Europäische Akademiker verfolgen zwar die Rückfallrate auf dem Kontinent, doch sie warnen meist vor Vergleichen, da es so viele Variablen gibt. „Am Ende wird es immer Rückfälligkeit geben”, sagte Jörg Jesse, der Leiter des Justizvollzugs in Mecklenburg-Vorpommern, der Marcantel gegenüber saß. „Doch wenn jemand, der einst gewalttätig war, eine Pizza stiehlt, ist das ein Rückfall? Oder ist es nur ein Rückfall, wenn er auf dieselbe Art wie zuvor straffällig wird? Die Diskussion hat kein Ende.”
Aber die Daten aus Deutschland stimmen zuversichtlich. Das Bundesjustizministerium hat festgestellt, dass etwa 33 Prozent der 2007 entlassenen Häftlinge innerhalb von drei Jahren eines weiteren Verbrechens verurteilt wurden (und von diesen bekam etwa die Hälfte ein Bußgeld anstelle einer erneuten Haftstrafe). In den USA hat das landesweite Bureau of Justice Statistics festgestellt, dass fast 70 Prozent aller 2005 entlassenen Häftlinge innerhalb von drei Jahren erneut verhaftet wurden.
Bettina Muenster, die in Deutschland aufgewachsen ist und als Forscherin am John Jay College arbeitet, wandte ein, es gebe mehr zu bedenken als nur die Vermeidung eines Rückfalls. Ohne über Würde und Menschenrechte zu reden, sagte sie, würden US-Gefängnisse „aus den falschen Gründen” reformiert.
Marcantel hielt dagegen. „Die Menschen, die diese Systeme leiten, sind in ihrem Handeln eingeschränkt”, sagte er. „Wir sind hier alle einer Meinung, sonst wären wir nicht hier, aber wir müssen die Öffentlichkeit auf wirklich intelligente Art überzeugen.”
Am Nachmittag nach der Lagerfeuerdiskussion besuchten die Amerikaner die mechanische Werkstatt der Jugendanstalt Neustrelitz, ein ländlich gelegenes Gefängnis für junge Männer und Frauen. Ein junger Mann in Holzfällerhemd und Overall stand an einem großen Tisch und drehte ein Metallteil. Sein Haar war an den Seiten kurzgeschoren und oben zu einem kleinen Pferdeschwarz gebunden. Marcantel hielt inne und sah zu, wie der Mann Blaupausen studierte und Werkzeug aufhob, das mit seinem Nachnamen, Schulz, markiert war.
Fünf Jahre zuvor hatte Kai Schulz versucht, eine junge Frau in seinem Heimatort auf der Insel Rügen mit einem Messer zu töten. Nun stand in wenigen Monaten seine Entlassung bevor. Er erzählte den Amerikanern, bei seiner Ankunft in Neustrelitz habe er aus Angst versucht, seine Härte unter Beweis zu stellen und einen Ausbruchsversuch unternommen.
Schließlich sei ihm aufgegangen, dass dieser Ort, umgeben von Hügeln und Kaninchen und Pferden und Therapeuten, nicht wie die brutalen US-Gefängnisse aus dem Fernsehen sei. Er beschrieb den Amerikanern den Entschuldigungsbrief, den er dem Opfer geschickt hatte. Die Frage, ob sie geantwortet habe, verneinte er. „Ich verstehe vollkommen, warum sie sich nicht meldet. Es könnte sie negativ beeinflussen, mit mir zu reden”, sagte Schulz. „Aber ich weiß, dass ich nie vergessen werde, was ich getan habe.”
Schulz’ Besserung war so vorbildlich, dass man schnell vermuten könnte, er sei eine Ausnahme. Doch im Laufe des Tages trafen die Amerikaner viele junge Häftlinge, die auf reife Art von sich erzählten und die im Gefängnis viel Unterstützung gefunden hatten. Einer beschrieb seine Pläne, mit seiner Freundin und ihrem zweijährigen Kind in eine neue Stadt zu ziehen. „Ich arbeite an meinen Gefühlen”, sagte ein anderer. „Wie ich sie erkennen und mit ihnen umgehen kann.”
Am letzten Tag der Reise versammelten sich die Amerikaner in einem Konferenzraum, um ihre Strategien für die Strafjustizreform zu besprechen. Marcantel hörte zu, als Christine Herrman, eine Forscherin am Vera Institute, erklärte, wie wichtig „persönliche Geschichten, mit denen sich normale Menschen identifizieren können”, seien; Geschichten über Menschen, die Fehler gemacht und Verbrechen begangen haben und doch Mitgefühl verdienen. Er hörte zu, als der Rechtsprofessor Michael Tonry darüber klagte, dass die Strafjustiz im Gegensatz zu anderen Bewegungen, wie jene für Homosexuellen- und Immigrantenrechte, keine „sympathischen menschlichen Musterbeispiele” liefere.
„Ich denke, die Bürgerrechtsbewegung hat letztendlich gewonnen, weil es eine Identifikation mit Menschen gab, die unverdient leiden mussten”, sagte Tonry, „und wir haben einfach niemanden außer Verbrecher—”.
Marcantel unterbrach ihn. „Die einzigen Leute, die wir haben, sind die, die es direkt betrifft”, sagte er, womit er meinte, sowohl die Öffentlichkeit als auch die Ex-Häftlinge selbst wären mit den entsprechenden Wiedereingliederungsmaßnahmen sicherer. „Man braucht eine gute Zukunftsvision, und die muss [zeigen], wie es den Menschen dadurch besser gehen wird.”
Er kam wieder auf sein Lieblingsargument zurück: eine sicherere Gesellschaft durch humane Gefängnisse. Doch anstatt von Rückfälligkeit und Egoismus zu sprechen, redete er über individuelle Dramen und Wiedereingliederung. Vielleicht müsse man gar nicht auf niedrigere Verbrechensraten verweisen. Vielleicht konnte man Amerikaner von den Vorteilen humanerer Gefängnisse überzeugen, indem man ihnen Kai Schulz vorstellte.
„Als ich dort ankam”, sagte Marcantel seinen Kollegen nach seiner Rückkehr nach New Mexico beim Mittagessen, „fragte ich mich: ‚Was bekommt man für die Investition in dieses Programm? Wie sieht die Rückfälligkeitsrate aus?’ Doch dann wurde mir klar, dass ich es mit einer Gesellschaft von Menschen zu tun hatte. Es ging darum, was ein Leben in Würde ausmacht.”
Die Reise sorgte für jede Menge neuen Gesprächsstoff, doch würde Marcantel in der nüchternen Realität der US-Politik echte Risiken eingehen und zum Beispiel für kürzere Haftstrafen oder Mittel für Bildungsprogramme eintreten? Der Historiker Khalil Gibran Muhammad war optimistisch. Er hat darüber geschrieben, wie in den 1930ern ein New Yorker Gefängniswärter namens George Kirchwey mit dem Ex-Häftling Jack Black gegen ein Gesetz kämpfte, das bei vierfachen Straftätern lebenslängliche Haft vorschrieb. „Das fällt mir ein, wenn ich an [Marcantel] denke und an das, was er tun könnte”, sagte Muhammad.
Ende Juli 2015, etwa eine Woche nachdem Präsident Obama 46 gewaltlosen Drogenstraftätern Amnestie gewährte, verkündete Marcantel, dass seine Behörde den 40-jährigen David Van Horn als Aufseher in der Personalküche eines der Gefängnisse einstellen würde. Van Horn war im Mai nach einer 20-jährigen Haftstrafe wegen Mordes entlassen worden. Dies war Marcantels erster Schritt in der Entwicklung eines Übergangsprogramms für Ex-Häftlinge. Er hoffe, damit Unternehmen dazu zu motivieren, mehr dieser Männer und Frauen einzustellen, sagte er.
In einem fünfminütigen Beitrag über das Programm auf einem Lokalradiosender hörte man abwechselnd Van Horn, der davon sprach, wie sehr er sich geändert habe, und Marcantel, der sagte: „Er kehrt in die Gesellschaft zurück, ob das den Leuten gefällt oder nicht, und wir versuchen, bessere Regelungen zur öffentlichen Sicherheit zu entwickeln.”
Die Justizvollzugsgewerkschaft bemerkte wütend, dass Van Horn 17 Dollar die Stunde verdienen würde, mehr als einige Gefängniswärter. Der Sohn der Opfer—ein älteres Ehepaar, das Van Horn 1995 ausgeraubt und dessen Haus in er Brand gesetzt hatte, wodurch die Frau umkam; bei seiner Flucht schoss er auf zwei Hilfssheriffs—sagte einem Reporter, er wünsche sich, Van Horn würde für immer im Gefängnis bleiben.
Es war ein Aufflackern der politischen Spannung, die jeglichem Reformversuch in den USA anhaftet. Doch erst einmal waren Marcantels Aufgaben überschaubarer: Er musste seine Stellenvergabe an einen Ex-Häftling rechtfertigen, dafür sorgen, dass die Zahl der Isolationshäftlinge weiter sank und ein Programm neu bewerten, dass es einigen Männern erlaubt, außerhalb der Gefängnismauern zu arbeiten, nachdem einer von ihnen bei der Arbeit entkommen war.
Doch nachdem er ein Land gesehen hatte, das einen völlig anderen Umgang mit Gesetzesbrechern pflegte, wollte Marcantel, dass sein eigenes Land neu überdachte, was es tat und warum. „Wenn wir ehrlich sind”, sagte er, „dann gefällt uns in Amerika die Vorstellung der Wiedereingliederung. Doch es ist die Bestrafung, die uns emotional berührt und die unseren Umgang mit der Strafjustiz bestimmt. Das ist es, was wir kennen.”
Für Marcantel kann es aktuell nur bis zu einem gewissen Grad Reformen geben, bevor die eigentliche Vorstellung von dem Zweck eines Gefängnisses neu überdacht werden muss. „Wir müssen im gesamten Land fragen: ‚Was sind unsere Ziele?’ Wir brauchen einen ehrlichen Ausgangspunkt.”