Menschen

Geheimnisse, Streit, Versöhnung, Repeat

Die Autorin posiert vor einem Geschäft für Partyzubehör, die Autorin hat über Dating und Heiraten als Kind einer Familie mit Migrationshintergrund nachgedacht.

Komplett in weiß gekleidet laufe ich samt Brautschleier und Blumenstrauß dem Desaster entgegen. Auf den Kölner Ringen, der stadtbekannten Partymeile, klatscht mir ein Mann im Werder-Bremen-Trikot eine gefühlte Halbzeit lang begeistert Beifall. “Geil! Klasse! Glückwunsch!”, grölt er. An diesem regnerischen Freitagabend gratulieren mir immer wieder fremde Leute zu meiner bevorstehenden Hochzeit. Doch eigentlich bin ich Single und glücklich darüber.

Als Braut in spe verkleidet wollte ich mich mit meinen Freunden Martha, Mert und Zana kostenlos durch die Nacht trinken und von fremden Männern über Türschwellen der Kölner Kneipen tragen lassen. Nebenbei wollte ich das Konzept Junggesellinnenabschied “kritisch hinterfragen”. Mit all seinen Zwängen und manchmal seltsamen Traditionen. Doch mein Selbstexperiment ist gefloppt.

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So ist Dating in Deutschland, wenn deine Eltern aus einem anderen Land stammen.

Wir bekommen an diesem Abend keinen einzigen Kurzen ausgegeben und begegnen auch keiner Party-Crew mit Mottoshirts und Bauchladen. Das Kölner Partyvolk ist wohl noch müde von Karneval. Die Bars und Kneipen sind leergefegt und auch das Thekenpersonal juckt mein Junggesellinnenabschied überhaupt nicht.

Anruf in der Redaktion.

“Und was habt ihr stattdessen gemacht?”, fragt der Redakteur, nachdem ich ihm von unserem Abend erzählt habe.

“Wir haben Shots getrunken, die Flaming Asshole und Blowjob heißen. Und wir haben gelästert. Über die realitätsfernen Vorstellungen, die unsere albanischen, kurdischen und türkischen Familien teilweise von unserem Liebesleben haben.”

“Interessant”, sagt der Redakteur. “Warum schreibst du nicht darüber?”

Ja, warum eigentlich nicht? Schließlich stelle ich immer wieder fest, dass viele Menschen nicht wissen, was es bedeutet, als Kinder ausländischer Eltern in Deutschland aufzuwachsen und zu daten. Wir sind genervt von penetranter Neugier, unsensiblen Kommentaren und der uns zugeschriebenen Opferrolle. Denn viele von uns widersetzen sich den konservativen Werte- und Moralvorstellungen innerhalb unserer migrantischen Communitys. Wer davon nicht selbst betroffen ist, bekommt das aber nur selten mit.

Viele meiner in Deutschland geborenen albanischen, türkischen und kurdischen Freundinnen und Freunde daten heimlich. Aus Angst vor Ausgrenzung, psychischer oder physischer Gewalt. Auch Mert mit seinen türkischen Eltern und Zana, deren Familie albanische Wurzeln hat, treten deshalb hier nicht unter ihren richtigen Namen auf. Dass die Partnerwahl meiner Freunde nicht den Erwartungen ihrer konservativen Eltern entspricht, kann mit Religion, Konfession, Ethnie oder auch der sexuellen Orientierung zu tun haben. Manchmal überschneiden sich die Gründe. Anstatt tagsüber gemütlich durch einen Park zu bummeln, verbringt man dann romantische Stunden auf einem dunklen Parkplatz oder versteckt sich in einer anderen Stadt.

So ist Dating in Deutschland, wenn deine Eltern aus einem anderen Land stammen.

Mit der Opferrolle identifiziert sich aber niemand von uns. Im Gegenteil. Die Parkplatz-Romanzen erfordern den Mut, persönliches Glück über konservative Familienwerte zu stellen. Das ist ein Kampf. Aber dass manche Dinge im Verborgenen passieren, ist eine bewusste Entscheidung und kein Akt von Schwäche.

Kleine Hochzeiten mit 200 Gästen

Wir starten unseren Abend im Stiefel, einer beliebten Eckkneipe, die heute aber halbleer ist. Dort kommen wir auf ein Thema, das viele Leute in Deutschland zu faszinieren scheint: die riesigen Hochzeiten, die viele türkische und kurdische Paare feiern. Mein 30-jähriger Kumpel Mert hat sich seine Traumhochzeit schon ausgemalt. Am Strand soll sie sein, sagt er, am liebsten im kleinen Kreis. Maximal 200 Gäste.

Für viele türkische und kurdische Hochzeitspaare gehört es dazu, sich für die Glückwünsche Hunderter fremder Menschen mit einem Küsschen zu bedanken. Das kenne ich auch aus meiner kurdischen Familie. Mein Bruder und meine Schwägerin haben ihre Hochzeit mit knapp 1.000 Gästen gefeiert, sicherheitshalber hatten meine Eltern eine zusätzliche Empore mit Platz für 200 Gäste gebucht. Ich liebe die Stimmung auf diesen XXL-Hochzeiten. Es macht Spaß, viele Familienmitglieder aus aller Welt wiederzusehen und mit Hunderten neuen Bekannten beim Govend abzugehen, einem traditionellen kurdischen Gruppentanz.

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Warum er lieber im “kleinen” Rahmen feiern möchte, frage ich Mert. “Ich will auf gar keinen Fall fremde Leute auf meiner Hochzeit haben”, sagt er. Er befürchte, dass viele Türken und Deutsche es nicht akzeptieren würden, dass er einen anderen Mann heiratet. Mert ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, ein Coming-out vor seiner Familie hatte er noch nicht. Seine Sorgen sind nachvollziehbar. 60 Prozent der Migranten aus der Türkei lehnten 2021 in einer repräsentativen Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung gleichgeschlechtliche Paare ab. Unter denen, die sich als sehr religiös bezeichneten, waren es sogar 78 Prozent. Sehr religiöse Deutsche ohne Migrationshintergrund sprachen sich zu 38 Prozent gegen die Ehe zwischen Homosexuellen aus – mehr als doppelt so viele wie in der deutschen Durchschnittsbevölkerung. Das deckt sich auch mit meinem persönlichen Eindruck.

Druck, Druck, Druck

Auch Zana bereiten die Themen Hochzeit und Ehe Kopfschmerzen. Bei einer Runde Tischkicker erzählt sie, dass ihre Oma sie wöchentlich anruft, um sie mit einem albanischen Junggesellen zu verkuppeln. Zana hat darauf aber keine Lust. Sie möchte selbstbestimmt daten. Die Diskussionen mit ihrer Familie machen sie müde. Zana, Ende 20, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern wünschen sich für sie einen muslimischen Ehemann aus einer albanischen Familie. Auch Zanas Großeltern, Tanten und Onkel nerven sie seit Jahren damit, wie sie sich eine gute Beziehung für sie vorstellen.

Dieser familiäre Druck sei frustrierend, sagt Zana. Die vielen Streitereien überfordern sie. Aber mit Außenstehenden darüber zu sprechen, falle ihr manchmal schwer – besonders dann, wenn ihr Gegenüber nicht wisse, wie es sei, eine enge Bindung zur Familie zu haben. Mert nickt zustimmend, während Martha aufmerksam zuhört.

Waschbecken in einem Kneipenklo mit Brautstrauß und Sektglas, die Autorin hat über Dating und Heiraten als Kind einer Familie mit Migrationshintergrund nachgedacht.

Martha ist 29 und spricht mit ihren deutschen Eltern auch nicht über Liebe und Sex. Aber sie seien weder konservativ noch religiös, theoretisch sei das also kein Tabu, sagt Martha. Im Gegensatz zu Mert, Zana und mir müsse sie sich auch nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie sie ihren Eltern jemanden vorstellt, den sie mag. Sie lädt den Typen ohne Zögern zum Weihnachtsessen ein, weil sie davon ausgehen kann, dass ihre Eltern cool mit ihrer Entscheidung sind.

Mein erster Versuch, mit meinen kurdischen Eltern über mein Liebesleben zu sprechen, endete im Streit. Die Folge: Ich zog kurzerhand von zu Hause aus. Damals war ich 17. Ich wollte keine Lügen erfinden, mich nicht aus dem Haus schleichen, nur um auf ein Date zu gehen. Wir haben uns zwar wenige Monate später versöhnt, trotzdem bin ich nicht wieder bei meinen Eltern eingezogen. Die eigenen vier Wände bedeuteten für mich zwar, einsamer zu sein, aber sie standen auch für mein selbstbestimmtes Leben, das ich nicht mehr bereit war aufzugeben.

Ein Flaming Asshole auf die Jungfräulichkeit

Wir entscheiden uns im Stiefel auch für einen Tapetenwechsel und ziehen weiter in die Shorty Shooter Bar. Außer uns sitzen hier noch zwei andere Typen, durch die Boxen dröhnt “Toxic” von Britney Spears. An der knallroten Theke bestellen wir eine Runde Blowjobs – Sahnelikör-Shots mit Schlagsahne-Topping. Firas, einer der drei Barkeeper, spricht mich an. Ab und zu würden ihn Junggesellinnen als Mutprobe um einen Kuss bitten, sagt er. Dabei tippt er auf seine Wange und lacht. Ich bin verwirrt. Wer will hier von wem einen Kuss? Ob er allen Bräuten in spe erlaube, ihn zu küssen? “Nein, das ist haram. Ich warte auf die Richtige”, sagt er und lacht. Was wie ein Scherz klingt, ist für andere Realität.

Eine meiner Freundinnen ist mit 27 noch Jungfrau. Sie stammt aus einer sunnitisch-islamischen Familie. Ihre Eltern sind türkisch, sie selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sie hat mir erzählt, dass es ihr schwerfalle, körperliche Nähe zuzulassen, obwohl sie das gerne möchte. Doch der Gedanke, dass vorehelicher Sex haram – also tabu – ist,  halte sie davon ab. Als wir an der Theke einen Flamming Asshole bestellen, sagt Mert, dass er stolz auf seine sexuelle Selbstbestimmung sei. Das war aber nicht immer so. Nach seinem ersten Mal habe er sich noch schlecht und schuldig gefühlt, weil er die Werte seiner muslimischen Familie verraten hatte.

Laut dem Berliner Sexualtherapeuten Halis Cicek gibt es einen Zusammenhang zwischen religiöser Tradition und verklemmter Sexualmoral: Je konservativer, je religiöser eine Familie sei, desto größer sei auch der seelische Konflikt der Menschen, die ihre Sexualität heimlich leben.

So ist Dating in Deutschland, wenn deine Eltern aus einem anderen Land stammen.
So oder so ähnlich hätte dieser Abend aussehen können, wenn nicht ganz Köln mit Karnevalskater auf der Couch gelegen hätte

Meine Eltern sind alevitische Kurden, besonders religiös ist meine Familie aber nicht. Im Alevitentum ist Alkohol erlaubt, Männer und Frauen beten nicht in getrennten Räumen, sondern gemeinsam. Sie gehen dafür auch nicht in die Moschee, sondern ins sogenannte Cemevi, das Versammlungs- und Gotteshaus der Aleviten. Aber auch traditionelle patriarchale Strukturen können dazu führen, dass insbesondere auf Frauen aus kurdischen und türkischen Familien der Druck lastet, bis zur Hochzeitsnacht Jungfrau zu bleiben.

Laut dem Verein Terre des Femmes symbolisiert die Jungfräulichkeit von Frauen in vielen streng traditionell patriarchalen Familien noch immer die Familienehre. Den Frauen werde so das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verweigert. Während meine unverheirateten Cousins ihre deutschen, türkischen und kubanischen Freundinnen auf unsere Familienfeste einladen und regelmäßig gegen neue Partnerinnen austauschen, sitzen meine zehn kurdischen Cousinen bis auf eine alle ohne Begleitung am Esstisch – ehe sie nicht verheiratet oder zumindest verlobt sind. Mit der Vorstellung, dass die eigene unverheiratete Tochter, Schwester oder Nichte keine Jungfrau mehr sein könnte, will man nicht konfrontiert werden. Vor allem die Männer nicht.

“Lieber verstecke ich meine Homosexualität, als den Kontakt zu meiner Familie abzubrechen”

Im Giga-Center, einem vierstöckigen Arcade-Center mit Bar, hat es ein Typ auf Mert abgesehen. Doch der ist nicht interessiert. Mert ist seit drei Monaten wieder in festen Händen. “Meine Schwestern wollten mich mal mit einer ihrer Freundinnen verkuppeln, als ich schon in einer achtjährigen Beziehung mit einem Mann war”, sagt er und lacht. Von seiner Beziehung wussten sie nichts. Ich muss auch lachen, weil ich schon in derselben Situation war.

Zwischen einer Runde Air-Hockey und Basketball erzählt Mert, dass es ihn belaste, seinen Freund vor seiner Familie zu verheimlichen. Und dass er darüber aber auch nicht mit jedem sprechen möchte. Es nerve ihn, wie unsensibel viele heterosexuelle Deutsche damit umgehen, wenn sie erfahren, dass er noch kein richtiges Coming-out hatte. Wenn Leute sagen, sie würden an Merts Stelle den Kontakt zu seiner Familie abbrechen, mache ihn das wütend. Er liebt seine Familie und möchte sie nicht verlieren: “Lieber verstecke ich meine Homosexualität, als den Kontakt zu meiner Familie abzubrechen.”

So ist Dating in Deutschland, wenn deine Eltern aus einem anderen Land stammen.

Auch als Tochter kurdischer Eltern in Deutschland aufzuwachsen und zu daten, ist nicht leicht. Bis heute rebelliere ich gegen veraltete, ungerechte Werte und Erwartungen meiner Familie an mein Liebesleben. Gleichzeitig muss ich mich dafür rechtfertigen, warum ich meine Familie trotz allem liebe und nicht aufgeben möchte. Gespräche wie die mit Martha, Mert und Zana geben mir Kraft und das Gefühl, nicht alleine mit meinen Problemen zu sein.

Mein Liebesleben ist wie eine diplomatische Mission. Ich erkläre meinen Freunden, deren Familien bereits seit Generationen in Deutschland leben, dass ich viele Freiheiten habe, von denen meine Mutter, meine Tanten und älteren Cousinen nicht mal zu träumen gewagt haben. Ich erzähle ihnen, dass insbesondere die Frauen in meiner Familie ein offenes Ohr für meine Wünsche und Sorgen haben, sich sogar bemühen, meine Ansichten zum Thema Liebe und Sex zu verstehen. Dass wir aber oft nicht einer Meinung sind, uns streiten und wieder versöhnen, erscheint mir trotzdem logisch. Im Gegensatz zum Großteil meiner Familie bin ich vor den Toren einer deutschen Großstadt mit uneingeschränktem Zugang zur Bildung aufgewachsen.

Und von den Leuten, die nicht wissen, was es bedeutet, als Kind ausländischer Eltern in Deutschland aufzuwachsen und zu daten, wünsche ich mir mehr Feingefühl und Verständnis. Anstatt uns penetrante Fragen zu unserem Liebesleben zu stellen, die nur den eigenen Durst nach stereotypischen Klischeevorstellungen stillen, sollte man uns lieber Props geben. Zum Beispiel dafür, dass auch wir unser Liebesleben selbst in die Hand nehmen. Swipe für Swipe.

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