Stell dir folgendes Szenario vor: Du gehst morgens zur Schule, kurz nach der Pause klopft es an der Tür. Es ist die Polizei, und sie sagt dir, dass du in zwei Stunden in einem Flugzeug sitzen wirst, das dich Tausende Kilometer weit wegfliegt. So ähnlich erleben viele Kinder und Jugendliche ihre Abschiebung, seit die Bundesregierung 2015 beschlossen hat, dass diese nicht mehr angekündigt werden muss.
Etwa 12.500 Menschen wurden im ersten Halbjahr aus Deutschland abgeschoben. Zahlen darüber, wie oft Beamte Schulpflichtige und Auszubildende während des Unterrichts abholen, gibt es nicht. Und nur selten erhält diese Abschiebepraxis Aufmerksamkeit: in Nürnberg etwa, als Mitschüler im Mai gegen die Abschiebung eines 20-jährigen Berufsschülers aus Afghanistan demonstrierten. Oder in Duisburg, wo die damals 14-jährige Bivsi Rana ebenfalls im Mai von Mitarbeitern der Ausländerbehörde aus der Schule abgeholt und nach Nepal abgeschoben wurde. Bivsi wurde in Deutschland geboren, die Proteste ihrer Klasse und ein Schüleraustauschvisum haben sie Anfang des Monats zurück nach Deutschland gebracht.
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Das Resultat solcher Abschiebungen sind oft traumatisierte Geflüchtete, Mitschüler und Lehrkräfte: “Da spielen sich große Dramen an den Schulen ab: Verzweiflung und Wut bei den jungen Leuten und ihren Familien, auch bei den Lehrkräften”, sagt Doro Moritz, die Landesvorsitzende der baden-württembergischen Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW).
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Geht es nach ihr, soll die Schule ein Schutzraum sein, in dem sich Kinder und Jugendliche sicher fühlen. Nach den Fällen aus den Medien seien die Schulleitungen und Lehrkräfte verunsichert gewesen, so die Gewerkschaft. Gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat in Baden-Württemberg hat sie deshalb Ende Juli einen Leitfaden veröffentlicht, der Lehrern und Lehrerinnen dabei hilft, die Abschiebung ihrer Schüler zu verhindern. Die “Handlungsanleitung bei drohender Abschiebung eines Kindes oder eines Jugendlichen” gibt den Schulen Tipps, wie sie sich bei einer drohenden Abschiebung verhalten können.
Schulen müssen nicht mit der Polizei kooperieren
Die Schulleitung sei zum Beispiel nicht dazu verpflichtet, mit der Polizei kooperieren: Sie müsse den Beamten den Aufenthaltsort des Geflüchteten nicht mitteilen, so der Leitfaden. Außerdem sei es bei der Abholung durch Polizisten erlaubt, dem Betroffenen vorher Bescheid zu geben. Sind die Lehrer und Schulleiter mit diesen Infos am Ende dafür verantwortlich, dass der Geflüchtete untertaucht, trifft sie rechtlich keine Schuld. Dass eine Abschiebung nicht angekündigt werden darf, betrifft nämlich nur die Ausländerbehörde.
Die GEW rät den Schulen dazu, mit den Abschiebungen an die Öffentlichkeit zu gehen und sich von Medienvertretern, Juristen und Politikern Unterstützung zu holen. Und wenn es sein muss, müsse eben eine Petition beim Landtag eingereicht werden – bei Bivsi hat das funktioniert.
“Es darf nicht sein, dass die jungen Leute während der Ausbildung […] abgeschoben werden”, sagt Doro Moritz. Die asylfreundliche Einstellung und den Handlungsleitfaden der GEW unterstützt das Innenministerium in Baden-Württemberg nicht: In einem Brief warf Innenstaatssekretär Martin Jäger (CDU) der Gewerkschaft und dem Flüchtlingsrat vor, zum Rechtsbruch aufzurufen und sich über Gesetze hinwegzusetzen: “Mit Ihrer Handlungsanleitung zur Verhinderung von Abschiebungen stellen Sie sich […] erkennbar außerhalb unser Rechtsordnung”, so Jäger.
Die Gewerkschaft widerspricht. Es gebe im Leitfaden keinen Satz, auf den sich Jäger bei seiner Kritik beziehen könne: “Es mag ja sein, dass sich Staatssekretär Jäger über die rechtliche Aufklärung der Lehrkräfte ärgert”, so die GEW. Das Handlungspapier informiere die Lehrkräfte aber nur über die Rechte und Möglichkeiten der Geflüchteten.
Bereits 2006 hatte die GEW Berlin einen ähnlichen Notfall-Leitfaden gegen Abschiebungen aus Infos des Flüchtlingsrats zusammengestellt. Die Kampagne “Hier geblieben!” lief sechs Jahre.