Im frühen 17. Jahrhundert wurde die ungarische Gräfin Elisabeth Báthory beschuldigt, etwa 650 Frauen umgebracht zu haben. Báthorys Diener sollen junge Frauen mit dem Versprechen auf Arbeit und Bildung in die Burg gelockt haben, um sie dort auf grausame Weise zu töten. 1610 wurden diese Diener angeklagt und zum Tode verurteilt. Báthory selbst war als Mitglied des Hochadels jedoch unantastbar und wurde lediglich unter Hausarrest gestellt. Sie starb fünf Jahre später.
So oder so ähnlich ist es überliefert. Die Slowakei stand für den größten Teil ihrer Geschichte unter der Herrschaft von Adeligen, Oligarchen und Diktatoren, die die Geschichte unter Verschluss hielten oder diskreditierten. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 hatten Historiker die Gelegenheit, sich eingehender damit zu befassen, was damals wirklich passiert war.
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Tony Thorne ist Linguist am King’s College in London. In den späten 90ern war er einer der Ersten, die sich durch die in altem Ungarisch verfassten Prozessakten arbeitete und versuchte, die einzelnen Teile des Puzzles zusammenzufügen. Hat Báthory wirklich im Blut von Jungfrauen gebadet, um ihre eigene Jugend zu bewahren? Wurde sie wirklich in ihrer eigenen Burg eingemauert? War sie überhaupt schuldig?
Nachdem ich die Ruine von Báthorys Burg im Westen der Slowakei besucht hatte, rief ich Thorne an, um ein paar Antworten zu bekommen.
VICE: Fangen wir doch mit Elisabeth Báthory an. Wer war sie?
Tony Thorne: Elisabeth Báthory war eine unfassbar reiche und mächtige Gräfin, die im 16. Jahrhundert auf die Welt gekommen ist. Sie war eine der mächtigsten ungarischen Adeligen und besaß eine ganze Reihe von Burgen—sehr beeindruckende Burgen—im heutigen Österreich, Ungarn und der Slowakei. Die in Čachtice war allerdings ihre Lieblingsburg, da sie ein Hochzeitsgeschenk ihres verstorbenen Ehemannes gewesen war. Nach seinem Tod lebte dort fast durchgehend. Dort soll sie auch einen Großteil ihrer Verbrechen begangen haben.
Ich habe vor Kurzem die Burg in Čachtice besucht. Sie befindet sich Mitten im Nirgendwo und ist für eine Touristenattraktion recht unscheinbar. Alle Informationen waren auf Slowakisch. Können Sie mich darüber aufklären, was dort passiert sein soll?
Nach dem Tod ihres Mannes erbte Báthory sein ganzes Geld und seine Besitztümer. Danach ist sie wahrscheinlich verrückt geworden. Zwischen 1604 und 1610 soll sie bis zu 650 [manche sagen sogar 800] junge Mädchen und Dienerinnen getötet haben. Diese Zahlen sind allerdings ziemlich sicher Unfug. Während des Prozesses gab es Hunderte Aussagen darüber, wie sie Jugendliche mit Eisenzangen gefoltert hat, Mädchen in kochendem Wasser gebadet, sie in Brennnesseln gewälzt und Papier unter ihren Fingernägeln angezündet hat. Zwei Menschen sagten sogar aus, dass sie die Mädchen zu Wurst verarbeitet und dann gegessen hätte. Die Opfer waren allesamt Mädchen und junge Frauen. Das Ganze hatte definitiv ein sexuelles Element und vielleicht auch ein wenig mit Hexerei zu tun. Hexerei war zu jener Zeit ein großes Thema.
Und diese Frauen wurden mit dem Versprechen auf Bildung in die Burg gelockt?
Sie rekrutiere junge Frauen, also wirklich junge Teenagerinnen, für ihren Haushalt, damit sie ihr dienen und in ihrer Burg arbeiten. Die Eltern in den umliegenden Dörfern boten aber auch selbst ihre Töchter an, damit diese eine Ausbildung erhielten. In diesen ganzen großen Häusern und Burgen waren die Frauen für die medizinische Versorgung zuständig. Das war neben der Essenszubereitung ihre Hauptaufgabe. Báthory lehrte die entsprechenden Fähigkeiten, die damals viel mit Kräuterkunde und Ritualen zu tun gehabt haben werden.
Und niemandem fiel auf, dass die Töchter nicht zurückkehrten?
Natürlich merkten die Menschen das, aber Báthory war für sie zu mächtig, um etwas dagegen zu tun. Man kann sich vorstellen, dass die Bewohner am Fuße der Burg ständig darüber gesprochen haben. Es gibt auch Geschichten von Menschen, die in ihren anderen Burgen gelebt haben—Hunderte Kilometer entfernt, in Österreich—, die angeben, einige dieser Grausamkeiten miterlebt zu haben. Eine der ersten belastenden Aussagen kam von ihrem Schwiegersohn. Er hatte ihre Burg mit seinen Jagdhunden besucht, die auf dem Burggelände Leichenteile ausbuddelten. Schließlich wurde Georg Thurzo, der Palatin von Ungarn, zur Gräfin gesandt, um sie zu verhaften. Beim Betreten ihrer Burg soll diese voll mit grausam misshandelten Opfern gewesen sein—viele kaum mehr lebendig.
Was ist über Báthorys Prozess bekannt?
Hier wird es spannend. Der Prozess war ein Schauprozess. Die Menschen, die gegen sie aussagten, waren die Diener und die Familie ihres verstorbenen Ehemannes. Das waren die Menschen, die an der Macht gewesen wären, wenn sie nicht die Führung über das Familienimperium übernommen hätte. Sie fanden es abstoßend, dass eine Frau an der Macht war. Das ist ein wichtiger Punkt. Mächtige Frauen galten damals als widernatürlich—und das gilt für ganz Europa. Und sie war eine Witwe. Viele Menschen sehen in der Gräfin Báthory eine starke Frau, die Opfer einer Verschwörung geworden ist. Ich habe ihre Briefe gelesen und sie war eine sehr intelligente Frau, die oft Männer drangsalierte, die ihr zu drohen versuchten. Es gab nicht wenige Menschen, die Gründe hatten, sie anzuschwärzen. Es ist gut möglich, dass sie hartherzig, vielleicht auch grausam, aber letztendlich unschuldig war.
Was ist nach dem Prozess mit ihr passiert?
Da du nicht so einfach einer Hochadeligen, über der sich nur noch die Königsfamilie befand, einen öffentlichen Prozess machen konntest, setzten sie ihre engsten Dienerinnen und Diener auf die Anklagebank. Die Beweise wurden verlesen, die Beschuldigten verurteilt und hingerichtet. Báthory selbst sperrte man in ihrer Burg ein. Sie wurde wahrscheinlich nicht eingemauert, wie viele behaupten. Für die letzten Jahre ihres Lebens war sie allerdings in ihrer Burg gefangen. Wenige Jahre später starb sie im Alter von 54.
Halten Sie sie für schuldig?
Das Frustrierende an der ganzen Sache ist, dass es überhaupt keine Beweise dafür gibt, dass sie diese Verbrechen tatsächlich begangen hat. Die Behauptung, sie habe im Blut von Jungfrauen gebadet, taucht erst 100 Jahre später in Schriftstücken auf—und das auch nur wegen eines katholischen Priesters, der ihre Geschichte wieder ausgegraben hatte, um sie zu diskreditieren. Es liegen keine privaten Briefe zwischen Adeligen vor, in denen sie über Gräfin Báthory sprechen. Sie schreiben alle übereinander, nur nicht über sie! Je mehr ich mich damit befasse, desto unwahrscheinlicher scheint es mir.
Was ist Ihrer Meinung nach das überzeugendste Argument für ihre Schuld?
Eine Sache, die mich wirklich stutzig macht, ist, warum sie ihr gerade Massenmord in die Schuhe geschoben haben. Das ist die große Frage. Warum haben sie sie nicht der Hexerei beschuldigt? Das war damals weitaus üblicher.
War das Konzept “Serienmörder” damals schon bekannt?
Ja, aber in einer komplett anderen Sprache. Wir verwenden heute forensische Beschreibungen und Polizeibegriffe. Damals werden sie sie als Dämonin bezeichnet haben. Mord und Grausamkeiten waren zu jener Zeit allgegenwärtig. Menschen töten sich in Tavernen mit Schwertern, verstümmelte Soldaten streunten hungernd durchs Land. Es war eine verdammte Horrorshow. Einer Frau sadistische Morde vorzuwerfen, war trotzdem sehr unüblich.
Ich habe das Gefühl, dass die Slowakei gerade erst das Tourismuspotential der Burg erkannt hat. Was meinen Sie?
Das kann man ihr nicht vorwerfen. Die slowakische Geschichte ist international nicht gerade bekannt. Warum also nicht die eine wirklich spektakuläre Figur ausnutzen, die man hat? Wie Rumänien mit Dracula. Abgesehen davon, wenn das in Großbritannien passiert wäre, hätten Gelehrte die Dokumente schon vor Jahren durchforstet. In Ungarn und der Slowakei gibt es aber ganze Bibliotheken voll mit Briefen und Dokumenten, die noch niemand gesichtet hat. In diesem Fall ist jede Aufmerksamkeit gute Aufmerksamkeit.