QAnon-Anhänger, Querdenkerinnen, Reichsbürger: Gruppen mit rechter Gesinnung sind auf dem Vormarsch – und die Grauen Wölfe reihen sich perfekt in diese Liste ein. Zu diesem Schluss kommt das American Jewish Committee in Berlin. In einer aktuellen Studie stellt die NGO fest, dass die Grauen Wölfe in ihrer Ideologie anderen rechtsradikalen Gruppen in nichts nachstehen: Antisemitismus, Rassismus und Hass auf Minderheiten.
Mit 18.500 Mitgliedern in Deutschland ist die türkisch-nationalistische Organisation hierzulande sogar eine der stärksten rechtsextremen Gruppen. Das American Jewish Comittee in Berlin fordert von Staat und Sicherheitsbehörden, dringend gegen die Ultranationalisten vorzugehen. Denn trotz der Gefahr, die von der Organisation ausgeht, werde selten über sie gesprochen.
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Wer sind die Grauen Wölfe und wie sind sie in Deutschland aufgebaut? Wir haben nachgefragt. Sineb El Masrar ist Publizistin und Autorin. In ihrem Buch Muslim Men beschäftigt sie sich mit den Zuschreibungen, mit denen muslimische Männer konfrontiert werden. Sineb schreibt aber auch darüber, welche Bedeutung Ideologien wie die der Grauen Wölfe für muslimische Jungs und Männer haben.
Auch bei VICE: Was kostet es, einen Vergewaltiger vor Gericht zu bringen?
VICE: Die Grauen Wölfe sind genauso gefährlich wie andere rechte Gruppierungen, sagt eine neue Studie. Warum wird darüber kaum gesprochen?
Sineb El Masrar: Viele haben dieses klassische Bild von einem Rechtsextremen: Ein Mann, der Springerstiefel und Bomberjacke trägt. Diese Vorstellung war schon immer verkürzt. Man kann rechtsradikal sein und sehr unterschiedlich auftreten. Rechtsextreme Menschen sind nicht per se Sozialhilfeempfänger und ohne Bildung.
Sondern?
Was viele außerdem bis heute noch nicht begriffen haben: In einer pluralen Gesellschaft können Menschen mit Migrationsgeschichte genauso rassistisch sein. Wir müssen begreifen, dass rassistisches und antisemitisches Gedankengut eben auch von migrantischen Gruppen verinnerlicht werden kann. Das muss in den Schulen thematisiert werden, wo ausgrenzendes Verhalten an der Tagesordnung ist.
Wie operieren die Grauen Wölfe in Deutschland?
Nicht anders als andere rechtsextreme Gruppen: Sie organisieren sich zum Beispiel in Vereinen. Sie betreiben religiöse Vereine, Kulturzentren und bieten Jugendangebote an. Dort kommt man zusammen. Familien sind miteinander befreundet. Die Ideologie wird über die Menschen weitergetragen, die dort regelmäßig zusammenkommen und sich engagieren. Viele glauben zudem, weil sie türkeistämmig sind, können sie nicht rassistisch sein. Es fehlt ein Problembewusstsein.
Welche Ideologie steckt dahinter?
Die Grauen Wölfe sind eine rassistische und antisemitische Gruppierung, die ein bestimmtes Bild vom muslimischen Türkentum definiert hat. Dieses Bild von Ethnie, Volk und Islam wird überhöht. Wer dem nicht entspricht, wird je nachdem als Feind angesehen oder als minderwertig degradiert. Das erzeugt viele Konflikte.
Warum radikalisieren sich Menschen in diesen Gruppen?
Zum einen, weil sie in radikale Familien hineingeboren werden. Andere suchen gezielt Anschluss und eine Ersatzfamilie. Wie bei vielen radikalen Gruppen geht es um eine Gemeinschaft, die vermeintlich füreinander einsteht. Das sind Menschen, die einen großen Drang haben, irgendwo dazuzugehören.
Woher kommt dieser Drang?
Wenn jemand beispielsweise aus einem destruktiven Elternhaus kommt oder sich ausgegrenzt fühlt, ist die Sehnsucht sehr groß. Ein Thema, das in diesem Kontext gerne angesprochen wird, ist Rassismus.
Weil Rassismus Menschen in die Arme radikalisierter Gruppen treibt?
Der kann ein Faktor sein, der das begünstigt. Aber Rassismus ist nie der Grund für Radikalisierung. Sonst würde es die Grauen Wölfe in Türkei nicht geben, dort gehören die Anhängerinnen und Anhänger schließlich der Mehrheitsgesellschaft an und nicht der rassistisch diskriminierten Minderheit.
Der eigene Selbstwert wird eben nicht darüber definiert, wie viel Rassismus man erfahren hat, sondern darüber, was man durch die Eltern mitbekommt. Hat man Zuneigung erfahren und ein gewaltfreies Umfeld erleben dürfen? Haben die Eltern sich um einen gekümmert? Hatte man andere Bezugspersonen, die einem das Gefühl gegeben haben, dass man willkommen ist? Kurz: Wurde Mensch bedingungslos geliebt?
Und wenn nicht?
Wer dieses Gefühl nicht bekommen hat, hat große Probleme seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Radikale Gruppen bieten diesen Platz und möglicherweise ein Gefühl von Zuhause – endlich Teil einer ganz besonderen Gruppe. Der Selbstwert, der eigentlich ganz klein ist, kann fortan mit dieser destruktiven Ideologie vergrößert werden.
Wer ist besonders gefährdet?
Junge Männer, die immer hart sein müssen und sich ungeliebt fühlen. Die müssen dann schon sehr reflektiert sein oder gewisse Erfahrungen im eigenen Umfeld machen, um das hinterfragen zu können.
Welche Erfahrungen?
Wenn eine Junge zum Beispiel merkt, dass sein bester Freund Alevit ist – Aleviten leiden sehr unter den Anfeindungen der Grauen Wölfe –, dann wird ihm klar, dass das unfair ist. Dieses Bild, mit dem ich groß geworden bin, spiegelt nicht meine Realität mit meinem Freund wider.
Die Grauen Wölfe kommen auch im Rap vor und betreiben Rockerclubs. Warum?
Rap hat eine sehr männerdominierte, sexistische, antisemitische Musikkultur, weil ihre Macher machohafte, sexistische und antisemitische Männer sind. Es werden überhöhte Männlichkeitsbilder transportiert. Da geht es um Gewalt, toxische Männlichkeit, das Degradieren von anderen und um viel Geld. Da entstehen viele Rivalitäten, deshalb müssen sie sich schützen – mit Rockerclubs beispielsweise. Der sogenannte Rücken.
Hier wird auch die Sozialisation im familiären Umfeld wieder deutlich. Man muss schon mit viel Gewalt und einem problematischen Männlichkeitsbild aufgewachsen sein, um sich in solchen Gruppen verorten zu wollen und auch diese Gewaltbereitschaft an den Tag legen zu können.
Spielen Frauen eine Rolle bei den Grauen Wölfen?
Sie wachsen als Töchter in den Strukturen auf oder erziehen als Mütter ihre Söhne mit diesem rechtsextremen Denken. Das Patriarchat lebt ja auch von der Komplizenschaft der Frau.
Das ist etwas, was wir in allen rechtsextremen Gruppen finden. Die Frau hat immer eine Rolle zu erfüllen. Ihr Aufgabe ist es, die Werte weiterzugeben. Es gibt auch viele türkeistämmige junge Frauen, die studieren und zum Beispiel kein Kopftuch tragen. Man würde also nach dem klassischen Stereotyp davon ausgehen, dass sie sehr liberal sind.
Sie können aber trotzdem rassistisch, sexistisch und antisemitisch sein. Es geht eben in einer Gesellschaft, die so plural ist wie die unsere, darum, genau hinzuschauen und sich mit den Menschen aufrichtig auseinanderzusetzen.
Könnte man die Grauen Wölfe nicht einfach verbieten? Im November hat der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, ein solches Verbot der Vereine zu prüfen.
Die Ideologie wird bleiben, man wird sich neu organisieren. Es ist meines Erachtens viel wichtiger, dass mehr und breiter aufgeklärt wird. Wir sind uns einig, dass wir gegen Neonazis sind und dagegen demonstrieren. Bei türkischem Nationalismus und Rassismus und Antisemitismus in Form der Grauen Wölfe sieht das anders aus.
Es wird immer neue Gruppierungen geben, die ihr rechtsradikales Denken weiterentwickeln und neue Bündnisse bilden. Dann würde ein Verbot von einer Partei gar nicht mehr greifen, weil sich schon wieder eine Neue organisiert hat. Ich bin eine Freundin von präventiven Maßnahmen.
Wie könnten die aussehen?
Schulen sollten die verschiedenen menschenfeindlichen, antisemitischen, antifeministischen Gruppierungen aufzeigen und benennen. Berichterstattung und auch die Auseinandersetzung im Film sind wichtig. So können junge und ältere Menschen sensibilisiert werden.