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Flucht vor Inzest und Gewalt: Aussteiger aus einer polygamen Sekte erzählen

Als sie 15 Jahre alt war, wurde Julianna Johnson gezwungen, ihren 19 Jahre alten Neffen Jacob Kingston zu heiraten. Sie sollte seine zweite Frau werden.

„Ich fühlte mich wie eine Gefangene”, sagt Julianna, die mittlerweile 34 ist. Sie ist in einer polygamen Splittergruppe der Mormonenkirche aufgewachsen, die sich selbst der Kingston Clan nennt. „Für mich stand schon seit Langem fest, dass ich die Gruppe verlassen wollte.”

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Der Kingston Clan ist auch bekannt als der Orden. Die Gruppe hat ihren Hauptsitz im US-Bundesstaat Utah und wird angeführt von Paul Elden Kingston, dem Sohn des verstorbenen Sektenführers John Ortell Kingston, der nicht nur einer der ersten Anführer der Kingstoner Latter Day Church of Christ war, sondern auch Juliannas biologischer Vater. Genau wie ihre ländlichen Vetter von der Fundamentalistische Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (FLDS), die entlang der Grenze zwischen Utah und Arizona leben, ist auch der Orden eine eng verflochtene polygame Gemeinschaft, die in arrangierten Mehrehen zwischen minderjährigen Mädchen und sehr viel älteren Männern leben, die darüber hinaus auch meist nahe Verwandte sind.

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Der Orden und die FLDS haben sehr viele auffallende Ähnlichkeiten: Die jeweiligen Gründer der beiden Sekten, haben sich von der Mormonenkirche abgespalten, um auch weiterhin Polygamie praktizieren zu können, was Ende des 19. Jahrhunderts von der Kirche der Heiligen der Letzten Tage formell verboten wurde. Der Orden ist dennoch fest in die moderne Gesellschaft integriert. Während die Anhänger der FLDS in einer isolierten Gemeinschaft leben und sich lieber schlichte, altmodisch erscheinende Gewänder tragen, durch die sie leicht zu erkennen sind, tragen die Mitglieder des Ordens moderne Kleidung und fügen sich scheinbar unterschiedslos in die ungläubige Gesellschaft ein. Die Frauen im Orden werden außerdem auch dazu ermutigt, sich neue Nachnamen für sich und ihre Kinder auszudenken, damit nicht so leicht ersichtlich ist, dass sie Polygamisten sind. Die Ehefrauen der FLDS nehmen dagegen den Nachnamen ihres Mannes an. (Im Gegensatz zu den verheirateten Frauen der FLDS, die traditionsgemäß mit ihrem Mann und seinen Nebenfrauen zusammenleben, leben die Frauen des Ordens mit ihren Kindern in einer eigenen Wohnung. Außerdem wird von ihnen erwartet, dass sie sich einen Job suchen, damit sie ihre Rechnungen selbst bezahlen können.)

Beide Gruppen predigen, Frauen seien das Eigentum ihrer Männer und Väter und hätten die Anweisungen ihrer Männer, die jeden Bereich ihres Lebens regeln, zu befolgen: wen sie heiraten, wann sie schwanger werden und ob sie zur Schule gehen. „Kurz nachdem ich verheiratet wurde, wollte ich weg—nicht nur vor ihm [meinem Mann], sondern auch vom Orden, von allem”, sagt Julianna. „Keiner von uns beiden wollte heiraten. Wir wurden einfach dazu gezwungen.”

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Julianna war selbst noch ein Kind und lebte die ersten Jahre ihres Ehelebens abwechselnd bei ihrer Mutter, ihren Schwestern und zum Teil auch bei Jacobs Mutter, ihrer Schwiegermutter. Damals stand Jacobs Vater, John Daniel Kingston—der mit 14 Frauen verheiratet war, darunter auch ein paar seiner eigenen Halbschwestern—wegen Kindesmissbrauch, Inzest und Vergewaltigung vor Gericht, verweigerte aber die Aussage. Jacob hatte deswegen „ziemliche Angst davor, irgendetwas zu tun … Er wollte nicht ins Gefängnis kommen”, sagt Julianna.

Doch schon kurz nach Juliannas 18. Geburtstag versuchte Jacob, seine jüngste Frau zu schwängern. „Ich würde jetzt nicht sagen, dass es eine Regel ist, aber man wird bevorzugt behandelt, wenn man jedes Jahr ein Kind bekommt”, sagt sie. „Wenn nicht, dann heißt es nur: Was stimmt nicht mit dir? Das ist so so eine Art unausgesprochenes Gesetz.”

Eine von Juliannas älteren Schwestern ist mit 15 bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Julianna, die mit schweren gesundheitlichen Problemen zur Welt kam und sich mehreren operativen Eingriffen unterziehen musste, konnte keine Kinder kriegen, was ihrem neuen Ehemann und ihrer Schwiegermutter ein Dorn im Auge war. Sie wurde in eine Gesellschaft geboren, in der der Wert einer Frau einzig und allein an ihrer Fähigkeit, Kinder zu gebären, gemessen wurde und entsprechend fühlte sich Julianna abgeschnitten und allein.

„[Jacob] war nie da”, sagt Julianna. „Ich hatte das Gefühl, ich wäre ihm nicht wichtig und dass er nie Zeit für mich hätte. Ich bin aber ein Mensch und verdiene mehr als das.”

Man wird bevorzugt behandelt, wenn man jedes Jahr ein Kind bekommt. Wenn nicht, dann heißt es nur: ‚Was stimmt nicht mit dir?’

Nach vier Jahren Ehe, in denen sie gebettelt und gefleht hat, in einer eigenen Wohnung leben zu dürfen, bekam Julianna endlich die Erlaubnis, sich etwas eigenes zu suchen. Sie zahlte ihre Miete mit dem Geld, das sie mit ihrer Arbeit in der Zeche des Kingston Clans und einem Copyshop verdiente. Irgendwann begann sie sich, wenn sie allein war, in Online-Chats mit Leuten von außerhalb zu unterhalten, zum Teil auch mit anderen Männern. Eines Tages rief sie dann einen ihrer Brüder an, der die Sekte bereits verlassen hatte und fragte ihn, ob er ihr auch helfen könne, aus der Sekte auszusteigen.

Noch im selben Jahr nahm Julianna ihre Steuerrückzahlung über umgerechnet rund 550 Euro und floh. Sie hatte eigentlich noch mehr als 2.500 Euro auf ihrem Konto bei der Bank des Kingston Clans, doch sie hatte zu viel Angst, erwischt zu werden. Heute verdient sie ihr Geld als Reinigungskraft und als Fahrerin für Uber und Lyft. Julianna war erst 21, als sie den Kontakt zum Orden—und damit auch zum Großteil ihrer Familie—vollständig abbrach.

Kurz nachdem sie gegangen war, bekam Julianna einen Brief von Jacob. „Er sagte mir im Grunde, dass er mich niemals haben wollte. Das begleitet mich bis heute”, sagt sie. „Ich frage mich immer, ob Leute wirklich meine Freunde sind und ob sie mich wirklich um sich haben wollen, weil ich mein Leben lang eine solche Bürde für andere Menschen gewesen bin.”

Sie kämpft noch immer mit dem Gefühl, nichts wert zu sein, das durch die Jahre der emotionalen Vernachlässigung während ihrer lieblosen, arrangierten Ehe in sie eingehämmert wurde. „Es fällt mir oft sehr schwer, offen meine Meinung zu sagen. Wenn mich beispielsweise jemand ungerecht behandeln würde, würde ich höchstwahrscheinlich nichts sagen, weil ich Angst vor der Konfrontation hätte”, sagt sie. „Ich habe das Gefühl, dass ich es nicht wert bin, für mich selbst einzustehen.”

Nicht jeder, der den Orden verlässt, tut das freiwillig. Vor fünf Jahren wurde Val Snow aus der Sekte geworfen, weil er homosexuell ist: Vor einem halben Jahrzehnt kam sein Vater, John Daniel Kingston, in die Schule des Kingston Clans, in der Val als—wie er sich selbst nannte—„Lunch Lady” arbeitete. Er schrie seinen Sohn an und outete ihn vor all seinen Kollegen.

„Ich war am Boden zerstört”, erinnert sich Val. „Mann, jeder andere wäre mir als Vater lieber gewesen. Mir gegenüber hat er sich wie der schlimmste Mensch aller Zeiten benommen.”

Es kommt nur sehr selten vor, dass ein Mitglied aus dem Orden rausgeworfen wird, aber es gibt einige Ausnahmen. „Weil ich schwul bin, [sagte mir mein Vater,] dass ich nicht zu Hause bei meiner Mutter leben konnte, weil die Kinder meiner Mutter in meiner Nähe nicht sicher wären”, erzählt Val, der mittlerweile 28 ist, über Skype. Er sitzt bei sich zu Hause in Odgen im US-Bundesstaat Utah. „Homosexualität ist in ihren Augen nicht OK … Es bedeutet eigentlich nur, dass du definitiv in die Hölle kommst. [Schwul zu sein] ist eines der schlimmsten Dinge, die man tun kann.” Das Einzige, was genauso schlimm ist, sagt Val, ist die Gruppe zu verlassen. Wenn du die Gemeinschaft bereitwillig verlässt und dich von all ihren Lehren abwendest, „dann spuckst du Gott quasi ins Gesicht und es wäre besser, du wärst nie geboren worden.”

Im Orden gibt es alle möglichen Verschwörungstheorien, was Homosexualität angeht. „Sie sagen, das die Regierung dahinter steckt, weil sie versuchen, die Population zu kontrollieren”, sagt Val. „Das hat was mit den Hormonen zu tun, die sie den Tieren geben.” Kindern wird außerdem auch gesagt, dass sie schwul werden, wenn sie Sojamilch trinken.

Jeder andere wäre mir als Vater lieber gewesen. Mir gegenüber hat er sich wie der schlimmste Mensch aller Zeiten benommen.

Val sagt, dass seine Mutter Shirley schon immer gewusst hat, dass ihr ältester Sohn schwul ist. Sie sprach allerdings nie mit ihm darüber. Er fragte Shirley nicht nach ihrer Beziehung zu seinem gewalttätigen Vater und Shirley fragte Val nicht nach den Männern von draußen, mit denen er ausging.

An dem Tag, an dem Val gezwungen wurde, den Orden zu verlassen, gab ihm sein Vater einen Schlüssel zu einem Motelzimmer, wo bereits all seine Habseligkeiten aus dem Haus seiner Mutter auf ihn warteten. „Er meinte nur: ‚Mach dir keine Sorgen um deine Familie. Sie werden einen anderen Bruder finden, der deinen Platz einnehmen wird und er wird sich um alles kümmern, worum du dich gekümmert hast”, erinnert sich Val.

Über Jahrzehnte wurde der Orden als Genossenschaft betrieben. Das Einkommen jedes arbeitenden Mitglieds dieser Genossenschaft fließt direkt an die Bank des Kingston Clans. „All dein Geld steckt in einem riesigen Pool—denn so funktioniert eine Genossenschaft. Der Orden verwendet das Geld dazu, Häuser zu kaufen, Geschäfte zu tätigen, alle möglichen Sachen”, erklärt er. „Auf diese Weise können sie legal Geschäfte tätigen, denn Genossenschaften sind ja nicht illegal.” Wenn ein Mitglied des Ordens sein Geld aus dem Fonds ausgezahlt bekommen möchte, muss er zuerst erklären, wofür er das Geld verwenden möchte. Als Val zum ersten Mal eine größere Summe von einem Bankkonto außerhalb der Sekte abgehoben hat, konnte er kaum fassen, dass man ihm das Geld ausgehändigt hat, ohne Fragen zu stellen.

Unternehmen im Besitz des Kingston Clans
Wie groß der Einfluss der Sekte ist, wurde erst vor Kurzem deutlich, als die US-amerikanische Bundessteuerbehörde mehrere Unternehmen des Kingston Clans durchsucht hat—unter anderem auch Washakie Renewable, eine Energieunternehmen, das Juliannas Ex-Mann Jacob Kingston gehört. Grund für die Untersuchung waren ein angeblicher Steuerbetrug in Höhe von mehreren Millionen Euro. Was die meisten Leute nicht wissen, ist, dass der Orden zahlreiche Unternehmen in Salt Lake City betreibt, unter anderem einen Hardwarestore, einen Copyshop, ein Fitnessstudio, einen Schuhreparaturservice, mehrere Pfandleihgeschäfte, einen Milchhof, eine Rinderfarm, einen Trailerpark und dutzende weiterer Geschäfte.

Wie viele Mitglieder des Ordens, begann auch Val schon als Kind in einem Unternehmen des Clans zu arbeiten. Er bekam umgerechnet ungefähr neun Cent die Stunde und alles, was er verdiente, floss auf ein kollektives Bankkonto des Kingston Clans.

Obwohl es letztlich nicht Vals Entscheidung war, die Sekte zu verlassen, wurde ihm doch nach und nach klar, dass er nicht mehr länger Teil des Ordens sein wollte. Dass ihm sein eigener Vater gesagt hatte, dass er austauschbar sei, machte Val bewusst, was er eigentlich schon längst wusste: „Die Leute des Ordens sind nichts weiter als Eigentum … Sie sind Ressourcen und nichts weiter. Es geht nur um das Geschäft.”

Vals Schwestern Kollene und Shanell hatten den Orden bereits verlassen, als Val aus der Sekte geworfen wurde. Shanell wurde mit 18 Jahren mit ihrem 19-jährigen Cousin ersten Grades verheiratet, der trank und Drogen verkaufte und sie so oft schlug, dass Val sagt, dass „sie immer blaue Würgemale am Hals hatte.” Er behauptet auch, dass sein Vater von all dem wusste, Shanell aber wieder zu ihrem Mann zurückgeschickt hatte, nachdem sie das erste Mal abgehauen war. „Das hat mir die Augen geöffnet”, sagt Val. „Ich wollte nicht mehr länger schweigen, nur weil sonst niemand etwas sagte.”

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Wenn man den Orden erst einmal verlassen hat, kann man niemals wieder mit einem Mitglied der Sekte sprechen—weder mit Freunden, noch mit der Familie. Val sagt, dass er am Anfang große Schwierigkeiten hatte, sich an das Leben draußen zu gewöhnen. Es ist extrem isolierend für ehemalige Sektenmitglieder, wenn sie von ihrer Familie, ihrem bekannten sozialen Umfeld und den Traditionen, die ihrem Leben Struktur und Bedeutung gegeben haben, abgeschnitten werden. Val lernte aber schon bald andere Menschen kennen, die ebenfalls aus missbräuchlichen Verhältnissen stammen. Gemeinsam mit ihnen hat er ein Netzwerk gegründet, mit dem sie sich gegenseitig unterstützen. „In den ersten drei Monaten [die ich draußen war] habe ich wunderbare Menschen getroffen, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin”, sagt Val.

Ich hätte wahrscheinlich irgendeine Frau geheiratet—oder mehrere.

Vor allem seine Halbschwester Julli, die auch ein ehemaliges Ordensmitglied ist und zu der er Kontakt über Facebook aufgenommen hat, hat ihm sehr geholfen: Sie erklärte Val, dass Menschen schwul zur Welt kämen und half ihm mit seinem Neustart. „Sie erklärte mir alles über Kredite. Ich wusste noch nicht einmal, was ein Kredit war”, sagt er. „Ich habe alles getan, was sie gesagt hat und drei Jahre später habe ich mir mein Haus gekauft.” Neben seinem Beruf als Barkeeper arbeitet Val aktuell als Nachtwächter in einer Produktionsanlage für Sanitätsartikel.

Wenn er nicht aus dem Orden rausgeworfen worden wäre, sagt Val, wäre er vermutlich nie gegangen. „Ich würde nach wie vor in der Schule des Ordens arbeiten und für die Kinder kochen”, sagt er. „Ich hätte wahrscheinlich irgendeine Frau geheiratet—oder mehrere. Ich glaube zwar, dass es immer eine Entscheidung ist, glücklich zu sein, aber es ist nur schwer vorstellbar, dass ich mit einer Frau glücklich geworden wäre.”

Heute, fünf Jahre, nachdem er den Orden verlassen hat, ist Val wirklich glücklich. Er geht mit Männern aus und pflegt eine enge Beziehung zu seinen Geschwistern und Halbgeschwistern, die die Sekte ebenfalls verlassen haben. Momentan hilft er außerdem auch seiner Mutter dabei, sich ein neues Leben außerhalb des Ordens aufzubauen, da sie ihren gewalttätigen Mann vor Kurzem verlassen hat und dafür beinahe aus dem Orden geworfen worden wäre. „Wenn ich von meiner Familie eins gelernt habe, dann dass man sich aussuchen kann, wer Teil deines Lebens sein soll”, sagt Val.

Julianna ist auch immer noch dabei, sich an ihr neues Leben und ihre neugewonnene Unabhängigkeit zu gewöhnen. Anfang des Sommers ist sie mit ihrer Cousine Backpack durch Europa gereist. „Ich habe keine Kinder, bin nicht verheiratet—ich tue, was mir gefällt”, sagt sie. „Ich möchte mein Leben genießen.”