Herkunft und Homosexualität: Wie zwei Berliner Nachwuchssportler gegen Vorurteile anrennen

Berlin-Wedding. Hier reihen sich urige Kneipen an Shisha-Bars, Dönerläden an Currywurstbuden. Im Berliner Kriminalitätsatlas 2016 steht der Wedding bei Straftaten wie Nötigung” oder Bedrohung” auf dem ersten Platz. Der Bezirk gilt als berüchtigter Problemkiez. Marcelo hasst die Klischees über seine Heimat, der 19-Jährige weiß aber auch, dass viel Wahres dran ist. Manche Freunde aus Kindertagen dealten irgendwann mit Drogen, andere sitzen wegen Körperverletzung im Gefängnis. Marcelo träumt davon, von hier aus die Welt zu erobern und es als Profifußballer zu schaffen. Der nächste Boateng zu werden. Aber er weiß auch, dass die Zeit davonzulaufen droht. Sein Verein heißt nicht Hertha BSC, sondern Hertha 06. Ober- statt Bundesliga. Aber er will nicht aufhören, an seinen Traum zu glauben.

Auch Justin hat einen Traum und muss sich gegen Vorurteile wehren. In Spandau, einem Berliner Randbezirk aufgewachsen, hat der 18-Jährige schon als Jugendlicher das Gefühl, dass ihm die Decke auf den Kopf fällt – sowohl sportlich, als auch privat. Er bricht aus: Eine einzige Sportart? Viel zu einfach. Fünfkampf? Challenge accepted. Er wird Vizeweltmeister und Europameister, sogar die Olympischen Spiele 2016 wären für ihn drin gewesen. Seinen größten Kampf führt er jedoch nicht auf, sondern neben dem Platz. In der Schule outete er sich als homosexuell und erfährt wenig Verständnis. Seitdem träumt Justin von einem eigenen Online-Magazin, um junge Menschen auf der Suche nach sich selbst zu unterstützen.

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Marcelo | Foto: Jen Krause

Eine halbe Stunde bevor ich mit Marcelo verabredet bin, öffnet der Himmel seine Schleusen. “Scheiß Regen” schicke ich eine Nachricht aus der Bahn. “Berlin halt. Hahaha”, antwortet er. Obwohl Marcelo noch jung ist, ist sein Händedruck kräftig und er wirkt selbstbewusst. So wie sein Blick. Es scheint so, als ob er genau weiß, was er will. Marcelo hat eine große und athletische Statur, seine Bewegungen sind flüssig und rund. Er hat sie im Sport gelernt.

“Als Kind habe ich Leichtathletik gemacht. Zwischenzeitlich sogar noch Judo und Kickboxen”, sagt er ganz unaufgeregt bei einer Tasse Cay. Er erzählt von seinem Wechsel ins Jugendinternat der TSG 1899 Hoffenheim. Fußballprofi werden, das war schon damals sein Traum. Doch der Teenager fühlte sich nicht wohl in der Provinz. “Das war ein Kulturschock vom Allerfeinsten. Es gab nichts. Mir hat mein Umfeld gefehlt. Ich hatte oft Heimweh”, sagt er. “Es hat einfach nichts mehr so geklappt, wie ich es mir vorgestellt habe”, erzählt er. Er verletzte sich, fiel aus und zweifelte. “Mein Kopf stand auf einmal im Weg”, sagt er und blickt tief in seine Tasse, als ob er dort nach dem Grund seiner damaligen Blockade suchen würde. Marcelo kehrte dem Kraichgau den Rücken zu und kam zurück nach Berlin. Das war 2015. Seinen Traum gibt der 19-Jährige trotzdem nicht auf. “Ich habe viel gelernt. Auf dem Platz, aber auch für mich selbst”, erzählt er. “Ich habe mit der Zeit gelernt, dass es irgendwann klappt, wenn du etwas wirklich willst.”

Foto: Jen Krause

Der Regen hat nachgelassen und wir stürzen uns in das hektische Treiben im Herzen von Wedding. Marcelo grinst und gibt die Richtung vor. “Sagt mir, wenn ich zu schnell bin. Ich hab’ so lange Beine”, ruft er. Schawarma-Geruch liegt in der Luft. Das bunte Flackern der Neonleuchten spiegelt sich in den zahlreichen Pfützen und in seinen Augen. Er weiß, dass sein Leben auch ganz anders hätte laufen können. “Neulich habe ich erfahren, dass ein guter Freund von damals im Knast sitzt, weil er jemanden fast totgeschlagen hat”, sagt er. “Der gleiche Typ, der früher auf mich aufgepasst hat. Er war meine Bezugsperson.”

Auch Marcelo strauchelt damals kurz. Bekannte fangen an Gras zu ticken, die Crew steht über vielem. Über der Schule, über dem Gesetz. Aber nicht über dem Fußball. “Ich hatte Phasen, in denen ich mich bewusst von meinen Freunden abgeschottet habe”, sagt er. Er füllt die Zeit mit Fußball und rennen, mit den Ansporn nach immer neuen Höchstleistungen – und dem Traum vom Profifußball. “Ich bin stolz darauf, dass ich meinen eigenen Weg gefunden habe”, erzählt Marcelo. “Fußball war mein Ventil und das Rennen hat mich gelehrt, in mich hineinzuhören und mich selbst zu verstehen.”


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Vor einer Brücke bleibt Marcelo stehen und deutet auf einen von Efeu überwucherten Bolzplatz, der sich zwischen einem Kinderspielplatz, Autowerkstätten und einer Bibliothek versteckt. Der Käfig an der Panke ist nicht irgendein Bolzer, sondern der vielleicht sagenumwobenste der deutschen Fußballgeschichte. Hier kickten die Boateng-Brüder Lil-Prince, Mini-George und auch Baby-Jérôme – der anders als seine Halbbrüder in Charlottenburg aufwuchs. Auch Marcelo schoss auf dem harten Betonplatz seine ersten Tore. Alle, die hier spielen, träumen davon, wie die Boatengs zu werden. Vom Wedding in die ausverkauften Arenen Europas. Als 13-Jähriger trifft Marcelo sein Idol Jérôme, der 2012 für die Präsentation des Buches “Die Brüder Boateng” in die Panke zurückkommt. “Als kleines Kind sah ich nicht die harte Arbeit, sondern nur diesen Star”, sagt er heute. Der Star des FC Bayern zeigte ihm, dass Erfolg und Ruhm einem nicht in den Schoss fallen. “Er meinte zu uns, dass er die gleichen Probleme, die gleichen Träume hatte und auch mit sich kämpfen musste. So wie ich. Das hat mich wahnsinnig inspiriert.”

Auch Justin, den ich zwei Tage später treffe, kennt sich bestens mit Zweifeln, Ängsten und Kämpfen aus. Ich warte genau eine Minute, bevor er – auf die Sekunde pünktlich – um die Ecke biegt. Der Vize-Junioren-Weltmeister im Fünfkampf kommt mir in Boots, stylischer Jogginghose und Oversized-Lederjacke entgegen. Sein leicht staksiger Gang lässt nicht erahnen, dass er ein Multi-Talent ist. Jemand, der rennt, schwimmt, reitet, ficht und schießt – und zusätzlich noch gegen Homophobie, Rassismus und Sexismus kämpft.

“Als ich jünger war, hatte ich mit meiner Sexualität total zu kämpfen”, erzählt Justin. “Mein Vater kommt aus Nigeria und hatte extreme Probleme mit meiner Homosexualität. Die Mentalität ist eine komplett andere.” Nach zwei Sätzen kann Justin nicht mehr aufhören zu erzählen und seine Sätze schieben sich wie in einem Staffellauf gegenseitig an. “Gender, Religion und Sexualität sind Dinge, über die man noch mehr reden muss, gerade mit jungen Menschen”, sagt er. Er fühlte sich hingegen lange mit seinen Ängsten und Hoffnungen alleine. “Mir hat eine Bezugsperson immer gefehlt, weswegen ich für andere da sein möchte, um sie einfach auf ihrem Weg zu begleiten.”

Justin | Foto: Jen Krause

Es ist ungewohnt einen Leistungssportler so offen über seine Sexualität reden zu hören. Vom Fußball bis zum Rugby ist Homophobie im Sport immer noch verbreitet. Besonders jungen Athleten und Athletinnen fällt es noch immer sehr schwer, zu ihrer Sexualität zu stehen. Auch wenn einige Zahlen immerhin Hoffnung machen: Von den über 11.000 Sportler/Innen, die an den Olympischen Spielen in Rio 2016 teilgenommen haben, standen 41 offen zu ihrer Homo- oder Bisexualität. In London, vier Jahre zuvor, waren es noch 23.

Auch Justin hatte die Chance, 2016 zu den olympischen Sommerspielen nach Rio zu fahren. “Ich habe mich dagegen entschieden. Für mich hätte es ein weiteres Jahr Schule bedeutet. Das ging einfach nicht”, sagt er. Dabei bedeutet Schule für Justin vor allem eines: Kämpfen. Nachdem er sich geoutet hatte, wurde sein Alltag anders. Vor allem nicht einfacher. “Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mich meine sexuelle Orientierung ausschließlich privat beschäftigt”, erzählt er und schüttelt gequält den Kopf. “Meine ganze Schule weiß, dass ich schwul bin.” Bis heute ist Justin der einzige Schüler, der sich auf seinem Sportgymnasium jemals geoutet hat.

Weil keiner Erfahrung mit Homosexualität hatte, musste er alleine klarkommen. “Weder Lehrer noch Trainer haben ihre Unterstützung angeboten”, sagt er zögernd. Die Angst vor den Reaktionen ist bei homosexuellen Sportlern nach wie vor groß. “Selbst mein Vereinstrainer riet mir, es niemandem zu erzählen. An dem Punkt war ich kurz davor hinzuschmeißen”, erzählt Justin. Für ihn war der Moment ein Wendepunkt in seinem Leben. “Ich fragte mich, wie ich ‘ich selbst’ sein kann, wenn ich meine Identität permanent verleugnen muss?”

Justin | Foto: Jen Krause

Also rannte er in die entgegengesetzte Richtung. “Rennen bedeutete für mich lange Zeit vor allem wegrennen”, sagt er heute. Der Sport half ihm dabei, die eigene Verunsicherung zu verarbeiten. “Nur wenn ich Sport gemacht habe, konnte ich den Kopf ausschalten. Es war meine Art dem Stress zu entfliehen”, sagt er. “Inzwischen ist das andersherum. Ich renne in meine Zukunft.”

Justin weiß, dass er selbst als bester Fünfkämpfer der Welt nicht vom Sport allein leben kann. “Die Olympiasiegerin von 2008, Lena Schöneborn, ist mit 34 Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften die erfolgreichste Athletin im Fünfkampf überhaupt, aber auch sie muss einen regulären Job machen”, sagt er. “Das ist schon ziemlich traurig.” Doch er hat einen Plan B. Er will ein Online-Magazin gründen und anderen Jugendlichen helfen, die sich in seiner Situation befinden: “Ich kenne wenig Zeitschriften, die junge Menschen ansprechen und unterstützen, die dabei sind, sich selbst zu finden”, sagt er. “Genau hier würde ich gerne ansetzen.”

Justin und Marcelo sind keine Mitläufer. Sie rennen für sich und ihre eigenen Ziele.
– Und wofür rennst du?

Der Sportartikelhersteller Nike unterstützt die beiden, unter dem Motto “Lauf Nicht. Renn” ihre Ziele in Angriff zu nehmen. Dieser Inhalt wurde von der VICE Sports-Redaktion erstellt und vom Sponsor ausschließlich finanziell unterstützt.