Dass die Freiwilligen die ganze Flüchtlingshilfe leisten, wird auf uns zurückfallen

Foto: Christopher Glanzl via VICE Media

Könnte ich gut Karikaturen malen, wäre hier ein Bild von Faymann, Mikl-Leitner und Kurz als die drei Affen. Eine zugegeben ausgelutschte Symbolik. Zumindest hätte die Karikatur vor einem Jahr so ausgesehen—abgesehen von Innenministerin Mikl-Leitner, der man zumindest die Angst vor überlasteten Flüchtlingsheimen ins Gesicht geschrieben sah.

Eine Karikatur zur jetzigen Flüchtlingspolitik bestünde jedoch inzwischen aus drei Affen, die sich unter einem von freiwilligen Helfern aufgestellten Tisch am Westbahnhof verstecken.

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Bei gesellschaftlichen Entscheidungen gilt es, einen Kompromiss zwischen Gerechtigkeit und Freiheit zu erreichen. Damit nicht jeder in der Gesellschaft —vor allem nicht die Schwachen—von der freien Entscheidung, von der Hilfsbereitschaft der Mitbürger abhängig sein muss, hat das österreichische Volk sich in mehreren Wahlen immer wieder entschlossen, einen Sozialstaat aufzubauen und zu finanzieren.

Der sieht zu, dass vielleicht nicht immer eine Pensionistin die Freiheit hat, zu entscheiden, in welches Heim sie sich einquartiert (obwohl sie ja Steuern und Sozialversicherung gezahlt hat), aber dass sie zumindest ein Anrecht darauf hat. So verhält es sich auch mit Flüchtlingen. Sie können nicht frei wählen, wohin sie ziehen wollen, aber der Staat sieht zu (oder sollte zusehen), dass sie überall eine Grundversorgung bekommen.

Es soll schließlich nicht darauf ankommen, ob sie neben einer netten Soziologie-StudentInnen-WG untergebracht werden oder neben einer illegal agierenden Erntehelferin aus dem Burgenland.

Oder ob sie nach dem Grenzübertritt auf engagierte Kindergärtner auf Tour im Burgenland oder eben niemanden treffen. Und doch sind wir auf den besten Weg genau dorthin. Weil unsere Politiker vor einem Jahr nicht die Kurve kratzten, und jetzt nicht einmal zugeben, dass sie ohne die Zivilgesellschaft als Leitplanke schon längst an die Wand gefahren wären.

Die Vorgeschichte der Flüchtlingswelle

Foto: Jakob Kolar, via VICE Media

Der arabische Frühling begann im Winter 2010. Im Zuge dessen desintegrierte sich auch ganze Staaten, siehe Libyen. Es fiel schlichtweg auseinander. In eine Art Mad Max-Mittelalter, wo kein einheitliches Recht gilt. Es gilt das Recht der Stämme oder derer, die gewissen Stämme unterstützen (EU, IS, ägyptisches Militär und so weiter). Dort wo früher Gaddafi Flüchtlinge von der Flucht nach Europa zurückgehalten hatte, klaffte nun in einem Failed State eine Art offene Pulsader. Im Puls der Jahreszeiten, zu der man das Mittelmeer überqueren kann, spuckte sie nach dem Sturz Gaddafis an den Stränden Libyens all diejenigen aus, die durch die Agrarpolitik der EU hungern müssen oder aufgrund der politischen Ereignisse Schutz bei uns suchen.

Nach Eintreten des Abkommens zwischen der Regierung Berlusconi mit Gaddafi 2008 waren die Überquerungen zuvor um 98 Prozent zurückgegangen. Statt Libyen wie zum Beispiel die Militärdiktaturen in Südamerika der 1980er Jahre oder oder in Südostasien der 1990er Jahren einen Reformprozess—zwar unter dem undemokratischen Augen der Eliten, aber dennoch—durchlaufen zu lassen, entschlossen sich Länder der EU zu einem Eingreifen und zu einem Unterstützen verschiedener Rebellengruppen.

Österreich sagte dazu nichts. Auch die Bilder von aufgequollenen Wasserleichen im Mittelmeer ließen unsere österreichischen Politiker lediglich bedauernd zu Boden blicken. Kein Wort davon, dass dies nur der Beginn einer neuen Entwicklung ist, wo Schutz- und Hilfesuchende aus Afrika nahezu ungehindert, den Schleppern ausgeliefert, Richtung EU in See stechen können.

Kein Wort davon, dass auch Österreich davon Konsequenzen spüren und tragen müssen wird. Die Überlebenden und die Toten strandeten meist in Lampedusa. Noch eklatanter wird es an den Beispielen Levante/Syrien/Irak, den dortigen Bürgerkriegen und der Ausbreitung der Terrormiliz IS.

Während die schwedische Regierung am 20. August 2014 eine außerplanmäßige Pressekonferenz einberief, um die Bevölkerung zu informieren, angesichts der neuen Zahlen der zu erwartenden drastischen Steigerung von Flüchtlingen im kommenden Jahr 2015 und ein alarmierter und alarmierender Finanzminister von Bildern sprach, die er „seit der Ostfront der 1940er Jahre” nicht gesehen hätte „wo Menschen wegen ihrer Religion massenweise und geplant massakriert werden”, passierte in Österreich rein gar nichts, was Kommunikation mit der Öffentlichkeit angeht.

Niemand machte auf die anderen Ländern zur Verfügung stehenden Daten aufmerksam, wonach die größte Anzahl von Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg die EU und auch Österreich mit voller Wucht treffen sollte.

MOTHERBOARD: Diese Refugees bringen Internet in Heime, weil es die Regierung nicht tut

Innenministerin Mikl-Leitner hat zwar offenbar ihre Position im letzten Jahrzehnt überdacht und ist von der direkten Aufforderung, keine Fliehenden in schönen Urlaubszielen unterzubringen, abgewichen—ihr Engagement bei Asylgipfeln und ihren Einsatz bei Landeshauptleuten und Gemeinden muss man ihr lassen. Auch Veteidigungsminister Klug versuchte zu helfen.

Faymann hielt sich jedoch zurück und Außeminister Sebastian Kurz verschanzte sich hinter humanitären Hilfslieferungen in den Nordirak und kurzen Besuchen in den Flüchtlingscamps in Jordanien und der Türkei und einer von Griechenland, Ungarn und Bulgarien bewachten EU-Außengrenze mit von der EU bezahlten Mauern.

Das, was nun EU-Politiker an Ungarn kritisieren, wurde zuvor in anderen Ländern mit einer EU-Außengrenze fett von Brüssel gesponsert. Niemand redete von Chancen und neuen Lösungen, geschweige denn von den Kosten.

Die Gründe des Nichtstuns

Foto: Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres | flickr | cc by 2.0

Dass allen voran Außenminister Kurz die Hände in den Schoß legte, liegt an einer neuen Tradition der österreichischen Außenpolitik, die anscheinend von den österreichischen Wählern für gut befunden wird. Sie ist quasi inexistent (und wenn mal vorhanden, wie im Fall Ukraine wird sie sofort von der Wirtschaft sabotiert; siehe Putins Österreichbesuch). Sie dient Repräsentationszwecken im Ausland, handelt als eine Agentur österreichischer Exportindustrie und sucht dabei trotzdem den Konsens der EU.

Eine eher sozialdemokratisch eingestellte akademische Medienelite hilft dem schwarzen Außenminister übrigens dabei, indem sie sich innenpolitisch nur emotional engagiert. Ein Beispiel für das linke innenpolitische Engagement mit Folgen für den außenpolitischem Kuschelkurs ist zum Beispiel der Fall Arigona Zogaj. Als sie mitsamt ihrer Familie zurück in den Kosovo abgeschoben werden sollte, da dort nun Frieden herrscht und die Zeit des Schutzsuchens damit ein Ende hat und ein Syrer nun eher bedürftig ist, mobilisierten sich Tausende bei Demonstrationen im ganzen Land.

Kein Wort davon, dass man bessere, neue Asylstandards schaffen muss. Kein Wort davon, dass man vielleicht auch queere und feministische Gesichtspunkte berücksichtigen solle, anstatt grob von den Ursprungsländern der Flüchtlinge auszugehen oder sich von den Tränen eines Teenagers leiten zu lassen. Die Situation einer von der Familie für „vogelfrei” deklarierten Frau im Kosovo kann eine Bedrohung für Leib und Leben darstellen und wäre ein Asylgrund, obwohl der Kosovo als sicheres Herkunftsland für eine Familie Zogaj angesehen werden kann.

Ich vermisse nicht das Engagement, sondern eine sachliche Diskussion darüber, was Asyl eigentlich sein soll—ohne FPÖ-Keule.

Ich vermisse nicht so sehr das Engagement, als eine sachliche Diskussion darüber, was Asyl eigentlich ist oder sein soll, ohne gleich mit einer FPÖ-Keule zu kommen. Eine Diskussion über gesteigerte gesellschaftliche Kosten motivieren ja auch mal über die Gründe für das Flüchtlingsvorkommen nachzudenken und dabei vielleicht eine eigene Außenpolitik zu etablieren, die diese Ursachen zu mindern versucht.

Wie weit man mit einer Abschaffung eigener Außenpolitik kommt (durch übertriebenen Folklore-Nationalismus kompensiert), sieht man zur Zeit an den neuen, östlichen EU-Staaten. Als wenn ein eiserner Vorhang des Engagements für Flüchtlinge durch Europa ginge, beweisen Polen, Tschechen und Ungarn sich in Herzlosigkeit gegenüber dem Elend der Flüchtlinge. Das liegt daran, dass gerade in diesen Ländern der Staat aufgehört hat, irgendwie als gesellschaftlicher Gestalter zu wirken.

Das hat selbstverständlich seine Wurzeln in der kommunistischen Vergangenheit dieser Staaten. Mit dem Wechsel der Gesellschaftssysteme kam auch die Ablehnung der Institutionen, die man immer noch mit dem Damals in Verbindung brachte: Nun soll sich der Staat gefälligst zurückhalten und die Kirche, NGOs oder Bürger die Arbeit machen lassen—und der Armut kann man sowieso nur durch eigenes Engagement entrinnen, durch harte Arbeit als Putzkraft oder Altenpfleger im Westen und die, die dabei unter die Räder kommen, sind selber schuld (egal, ob es sich um Roma oder Syrer handelt).

Die Uni für Fliehende ohne Papiere wird Wirklichkeit. Mehr auf MOTHERBOARD.

Die FPÖ—die hierzulande ähnliche Positionen wie die in Ungarn und Polen vertritt—ist ein weiterer Sargnagel in der Kommunikationskultur der Koalition. Kein Politiker wird in unserem Land darzulegen versuchen, wie viel dem Staat die Flüchtlinge kosten werden. Politiker werden diesen Punkt aus Angst vor der FPÖ meiden.

Dabei gibt man jedoch das Heft aus der Hand—und überlässt das Feld „sicherheitshalber” einer Zivilgesellschaft von Helfern, die sich in diesem Moment zugegeben als fantastisch erwiesen hat. Das Paradoxe dabei ist, dass gerade die, die durch Geiz, Konsumwahn und Schrei nach billigem Benzin auffallen—also die, die von der Globalisierung und niedrigen Sozialstandards außerhalb Österreichs profitieren wollen—genau dieselben sind, die die Folgen davon nicht stemmen wollen. Sie packen keine Jausensackerl am Westbahnhof.

Die Folgen des Nichtstuns

Foto von Peter Heinz Trykar.

Eine Gesellschaft, die aus einem inneren Reflex Hilfsbedürftigen hilft oder Wildfremden dank Facebook-Aufrufen Geldbeträge überweist, um Decken und Zelte nach Traiskirchen zu bringen, ist nicht unbedingt sonderlich nachhaltig. Die Konsequenz muss irgendwann eine Ermüdung der ehemals Engagierten und damit auch eine gewisse Resignation sein.

Indem das offizielle Österreich diese Aufgaben einfach an Privatpersonen und nichtoffizielle Hilfsinitiativen weiterdelegierte, hat es sogar noch etwas anderes getan: Und zwar dafür gesorgt, dass Teile der Bevölkerung bei einem Versagen oder Abebben der Hilfsaktionen die Schuld fürs „Nichts-mehr-tun” auch nicht bei der Regierung, sondern eben bei genau diesen Privatpersonen gesucht wird.

Der Reflex „Ich bin zu schwach, ich wähle einen Staat, der sich um die Alten und Schwachen oder um faire Mindestlöhne kümmert, damit ich das nicht jeden Tag mit mir selber ausmachen muss und dabei verrückt werde” ist vor lauter digitalem Engagement verloren gegangen. Anstatt bei Wahlen den Politikern den Auftrag zu erteilen, für eine Besserung zu sorgen, haben die Menschen den Glauben an die Politik verloren und gegen einen Glauben an sich selbst und aneinander eingetauscht. Das ist einerseits rührend, aber andererseits gesamtgesellschaftlich auch bedenklich.

Die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention sollte nicht von Privatpersonen abhängen—und noch weniger von Politikern, die eine solche Auslagerung für praktikabel halten.

Die Folge ist meiner Meinung nach ein Rechtsruck der Gesellschaft, den man mit dem in Italien der 90er-Jahre oder dem Israel der 00er-Jahre vergleichen könnte, wo alte Eliten umschwenkten und gewachsene sozialstaatliche Bewegungen kollabierten. Wenn die österreichische Politik nicht bald das Aufnehmen, Begleiten und das (angemessene) Unterbringen wieder von den freiwilligen Helfern übernimmt, werden wir in Zukunft von unseren Gleichaltrigen (aus unserer Generation) solche Sätze hören wie: „Ich hab früher ja auch viel geholfen und war am Bahnhof dabei, aber irgendwann kann man einfach nicht mehr. Ich bin halt jetzt irgendwie pragmatisch geworden, du Träumer.”

Wir können eine Flüchtlingswelle nicht allein mit Jausensackerl, Zeltspenden und Mitfahr-Konvois stemmen. Das ist naiv von den Helfern (auf die gute Art) und ignorant von der Politik (auf die schlechte Art). Das Schwierige ist, dass es trotzdem genau solche Zeichen braucht, damit sich etwas ändert. Die Hilfsaktionen der letzten Woche sind in der jetzigen Situation ethisch das einzig Richtige. Aber es muss weitergehen—und es darf nicht bei Privatinitiativen bleiben.

Die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention sollte nicht vom Einsatz von Privatpersonen abhängen—und noch weniger von Politikern, die keine Eigenverantwortung übernehmen, sondern eine solche Auslagerung tatsächlich für einen praktikablen Weg halten. Ob nun aus Faulheit, Dummheit oder Angst vor der Opposition, ist dabei völlig egal.

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