Den meisten von uns leuchtet wohl ein, dass die engsten Familienangehörigen nicht gerade die idealen Ehepartner darstellen. Diese Erkenntnis ist allerdings nicht immer so selbstverständlich gewesen wie heute. Es ist noch nicht so lange her, da waren Eheschließungen innerhalb der Familie noch vollkommen normal, besonders in Adelskreisen.
Als Folge der Heiraten innerhalb der Verwandtschaft über Jahrhunderte hinweg kam es nicht nur zu Erbkrankheiten in den Familien, sondern auch zu allerhand seltsamen Degenerationserscheinungen, wie zum Beispiel der prominenten Fehlstellung des Unterkiefers im Hause Habsburg. Aber woran genau liegen diese Abweichungen? Welche Abweichungen entstanden in der Vergangenheit durch Inzucht und kommen heute noch häufig vor?
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Dr. Gerard te Meerman, Dozent für Mathematische Genetik an der Universität Groningen, nahm sich die Zeit, das merkwürdige Inzuchtverhalten geschlechtsreifer Adliger gegenüber Motherboard Niederlande ausführlich zu erklären. Er betrachtet in seiner Arbeit sowohl den biologischen Hintergrund als auch die historisch Rolle von Inzucht.
Te Meerman begann mit der Frage, warum die Wahrscheinlichkeit einer Anomalie durch Inzucht zunimmt. „Wenn wir genetisches Material erben, bekommen wir immer ein Chromosom von unserer Mutter und eines von unserem Vater”, erklärte er. „Es kommt häufig vor, dass Chromosomen beschädigt sind und beispielsweise die Anlage für eine Erbkrankheit tragen. Wenn bei einem der beiden Chromosomen eine Mutation auftritt, so ist das normalerweise kein Problem, weil das Gen ja noch auf dem anderen Chromosom unbeschädigt vorhanden ist. Wenn aber zwei Träger dieselbe Genmutation weitergeben, wird das Kind mit der Anomalie geboren. Manchmal reicht auch schon ein einziges mutiertes Gen, zum Beispiel bei den X-Chromosomen, da Jungs nur eins davon haben.”
„Mukoviszidose zum Beispiel ist eine rezessive Erbkrankheit, die durch eine bei beiden Eltern vorhandene Genmutation verursacht wird. Die vermehrte Bildung von Schleimsekret führt bei dieser Krankheit dazu, dass Lungen, Bauchspeicheldrüse und Verdauung beeinträchtigt werden”, erzählte te Meerman. „Wir finden oft heraus, dass es sich bei rezessiven Krankheiten um eine Folge von Inzucht handelt, dass die Eltern also gemeinsame Vorfahren haben. Das mutierte Gen trifft nach einigen Generationen dann wieder auf sich selbst.”
Das Habsburger-Kinn
In adligen Familien wurden früher häufig Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen miteinander vermählt, um das blaue Blut in der Familie zu halten. Te Meerman erzählte Motherboard, dass viel über Inzucht in Adelsfamilien bekannt sei, weil die Stammbäume so gut geführt wurden und es auch noch viele Porträts gebe, die man sich ansehen kann. „Anhand der Porträts kann man noch hunderte Jahre später anhand von Charakteristika oder Beschreibungen bestimmten, welche körperlichen Merkmale diese Person hatte. Zum Beispiel war bekannt, dass es bei den Habsburgs häufig zu einer Deformation des Gesichts kam – dem Habsburger Kinn”, eine Fehlstellung des Kiefers, durch die ein extremer Unterbiss entsteht. „In diesen Fällen war die Unterlippe oft abnormal groß oder die Menschen hatte eine extrem dicke Zunge.”
Das Hause Habsburg war im Mittelalter und in der Renaissance das mächtigste Herrschergeschlecht Europas. Ab dem zwölften Jahrhundert beherrschten sie die Schweiz, Österreich, Ungarn, Italien, Frankreich und Spanien. In einer vor einigen Jahren erschienenen Studie wurde das Ausmaß der Inzucht in der Familie Habsburg untersucht. Die Studie ergab, dass die körperlichen Folgen der Inzucht über die Jahre immer schlimmer wurden. Karl II., der letzte Abkömmling der spanischen Linie der Familie, war genetisch sogar einförmiger als es bei einem Kind von einem direkten Geschwisterpaar der Fall wäre. Seine Ahnin Johanna von Kastilien kam durch die vielen Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen ganze vierzehnmal in seinem Stammbaum vor. Wahrscheinlich führte das hohe Maß an Inzucht in der Familie zu vielen Krankheiten und einer kurzen Lebenserwartung.
Karl II. hatte einen derart missgebildeten Kiefer, dass er sein Essen nicht gut kauen konnte und ihm aufgrund seiner extrem dicken Zunge permanent der Speichel herunterlief. Je älter er wurde, desto schwerer war er zu verstehen. Aufgrund seiner Unfruchtbarkeit konnte er nicht für Nachkommen sorgen. Das Volk nannte ihn derzeit gar „den Verfluchten”.
Juan Carlos I., der kürzlich als König von Spanien abdankte, ist ebenfalls ein Nachkomme der Familie Habsburg. Ansatzweise ist auch bei ihm das Habsburger Kinn zu erkennen.
Inzucht bei ägyptischen Pharaonen
Auch in den Familien der ägyptischen Pharaonen herrschte viel Inzucht. „Bei den alten Ägyptern kam es häufig zu Verehelichungen zwischen Bruder und Schwester. Damit steigt natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass rezessive Gene zum Ausdruck kommen, besonders wenn diese Gepflogenheit über Generationen fortgesetzt wird”, so te Meerman. Auch kam es häufig vor, dass „doppelte” Cousins und Cousinen heirateten. Es ehelichte also zum Beispiel ein Prinz die gemeinsame Tochter seines Bruders und seiner Schwester. Wahrscheinlich hatte diese Tradition mit dem Glauben zu tun, dass der ägyptische Gott Osiris seine Schwester Isis geheiratet hatte, um die Blutlinie rein zu halten. Die Eltern des bekannten ägyptischen Pharaos Tutanchamun waren ebenfalls Bruder und Schwester, und Tutanchamun litt tatsächlich an zahlreichen Fehlbildungen, die eine Folge der Inzucht waren—so hatte er etwa einen Klumpfuß, eine Lippen-/Gaumenspalte und Skoliose. In der gesamten achtzehnten ägyptischen Dynastie hatte fast jeder unter einem massiven Überbiss zu leiden, oft traten auch extreme Schädelverlängerungen auf.
Hämophilie und der europäische Adel
Te Meerman berichtete ferner, dass in anderen europäischen Monarchien eine Krankheit vorkam, die wahrscheinlich bei Königin Victoria von England (1837-1901) ihren Ursprung nahm: Hämophilie, die Bluterkrankheit, spielte eine große Rolle in den englischen und russischen Königshäusern. Königin Victoria war Trägerin des mutierten Gens, das Hämophilie verursacht. Dieses Gen kommt nur auf dem X-Chromosom vor, daher tritt die Krankheit vornehmlich bei männlichen Nachkommen auf. Einige Historiker spekulieren, dass die Hämophilie mit Königin Victoria zum ersten Mal im englischen Königshaus vorkam, was nahelegen würde, dass Prinz Edward möglicherweise gar nicht der biologische Vater von Victoria war.
Königin Victoria gab das Hämophilie-Gen an ihren Sohn Leopold weiter und so wurde es von Generation zu Generation weitergetragen. Die englische Königin ist dafür bekannt, dass sie viele Paare in den europäischen Königshäusern miteinander verkuppelte. Die Krankheit breitete sich durch die Eheschließungen bald auch im preußischen Königshaus und in der russischen Zarenfamilie aus. Der bekannteste russische Hämophiliepatient ist Alexei Nikolajewitsch, der Sohn des letzten Zaren Nikolaus II. Alexei starb allerdings nicht an der Krankheit, sondern wurde mit seiner Familie im Zuge der russischen Revolution im Jahr 1917 ermordet.
In der Geschichte des niederländischen Königshauses waren Eheschließungen unter direkten Familienangehörigen nicht üblich. „Die Angehörigen des Hauses Oranien-Nassau kommen von überall her. Ein Großteil der Familie stammt aus Deutschland und wir haben jetzt sogar ein Familienmitglied aus Argentinien. Soviel ich weiß, leidet hier niemand an rezessiven Erbkrankheiten oder anderen genetischen Abweichungen”, erzählte te Meerman.
Welche Anomalien denn nun genau in welcher Familie vorkommen, ist
Zufall. Es reicht ein Vorfahr, bei dem ein einziges Gen mutiert ist, um
eine bestimmte Abweichung zu verursachen.
Inzucht außerhalb des Adles
Momentan sind ungefähr 5000 seltsame Abweichungen bekannt, die mit einer rezessiven Vererbungsfolge zu tun haben. Diese Anomalien kommen auch außerhalb von königlichen Familien vor. Die meisten haben einen regionalen Charakter, wenn es zum Beispiel in einem Dorf sehr viele gemeinsamen Vorfahren gibt. In den Niederlanden tritt beispielsweise das Van Buchen-Syndrom vor allem auf der ehemaligen Insel Urk auf. Bei dieser Krankheit kommt es zu Knochenverdickungen, die über die Jahre durch das Abklemmen von Nerven zu Taubheit und Lähmungen im Gesicht führen können.
Im niederländischen Volendam kommt die Erbkrankheit PCH relativ häufig vor, durch die sich bestimmte Gehirnregionen nicht normal entwickeln können.
Paare mit Kinderwunsch können sich heute beraten und auch eine Analyse machen lassen, bei der geprüft wird, ob es rezessive Genmutationen gibt, die bei beiden Partnern vorkommen und bei ihren Nachkommen zu ernsthaften Gesundheitsproblemen führen können. „Wir testen allerdings ausschließlich auf Mutationen, die schwere Erbkrankheiten verursachen, wie wir sie zum Beispiel in Urk sehen. Mukoviszidose zum Beispiel kann man heute gut behandeln, darauf testen wir nicht mehr.”
Eheschließungen unter Verwandten haben übrigens nicht zwangsweise schlimme Folgen, so te Meerman. „Heute wird oft gedacht, dass eine Heirat zwischen Cousin und Cousine ein sehr hohes Risiko mit sich bringt, aber das ist eigentlich nicht so schlimm. Das Krankheitsrisiko ist schon etwas erhöht, aber nur um circa ein bis zwei Prozent”, so der Genetiker gegenüber Motherboard. „Es ist also keinesfalls so, dass die Kinder aus solchen Verbindungen nun allerlei schreckliche Krankheiten bekommen würden.”
In diesem Zusammenhang kommt es oft zu Vorurteilen gegenüber anderen Kulturen, in denen die Heirat zwischen Cousin und Cousine häufiger vorkommt, wie zum Beispiel im nordafrikanischen Raum. Dabei sind diese Verbindungen in der Regel unproblematisch, meint te Meerman. Massive Fehlbildungen, wie sie durch die Inzucht bei den alten Ägyptern und im europäischen Hochadel entstanden, sehen wir heute jedenfalls kaum noch.