Dienstag, 10:47 Uhr. Leo bekommt eine Mail vom Chef: Man stellt auf Slack um und jeder möge sich bitte umgehend einen Account einrichten, um die “differenziertere Kommunikation” zu erleichtern.
Leo ist 9 Jahre alt, dritte Klasse und die Mail kommt von seinem Klassenlehrer. Leos größtes Problem in den vergangenen Wochen war nicht, dass die Kommunikationsplattform mit seiner Gang sich nicht genügend fachthematisch differenzieren ließ, sondern Langeweile, Einsamkeit und dass er mehr Zooba zocken will.
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Für mich, Leos Mutter, sind diese Wochen die Hölle. 14 Stunden am Tag ist Leo wach, 6 Stunden schlafe ich, 8 Stunden arbeite ich, zwei Stunden koche und esse ich, etwa eine Stunde geht für Haushalt und Einkäufe drauf und eine verbringe ich auf Netflix, weil jemand gesagt hat Bridgerton wird ab Folge fünf noch richtig gut. Das sind mehr, deutlich mehr als 24 Stunden.
Das Kind und ich heißen zu seinem Schutz hier anders als in Wirklichkeit. Wir leben in Berlin, wo die Schulen bis zum Monatsende geschlossen sind. Das Homeschooling besteht aus einem Stapel Arbeitsblätter, die das Kind im Tausch gegen Zeit zum Zocken erledigt hat: Für die komplette Woche im voraus. Zweimal die Woche gibt es einen Zoom mit der Klasse. Das Kind erstellt dann mit zwei Klicks einen Gruppenchat ohne den Lehrer. Wenn die abgelenkten Kinder angesprochen werden, reden sie sich knallhart mit technischen Schwierigkeiten raus: “Herr N., ich hör sie leider grad nich, Internet is hier ganz schlecht, leider, leider!”
VICE-Video: Bei einer Froschgift-Zeremonie in Berlin
Dabei könnte es ganz anders sein. An der Schule einer Bekannten in der Schweiz gibt es trotz Homeschooling Anwesenheitspflicht. Morgens halb acht werden die Tablets angeschaltet und die Kinder mit Aufgaben regulär bis zum frühen Nachmittag betreut. Wer krank ist, muss in der Direktion anrufen. Bei längerem Fehlen kommt die Polizei.
Die liebsten deutschen Ausreden für den kompletten Fail im Homeschooling sind: Datenschutz und arme Kinder.
Schließlich ist es Sinn der Grundschule, das Lernen zu lernen, und das geht auch aus der Ferne: Aufgabenstellungen zu erfüllen, mit Gruppendynamiken umzugehen und dranzubleiben. Die pädagogisch unqualifizierten Eltern spielen währenddessen keine Rolle und können in Ruhe ihren Job machen.
In Deutschland dagegen lernt niemand irgendetwas und keiner will daran Schuld sein. Die Lehrer schieben es auf die Schulen, die Schulleiter auf die Bildungssenatorinnen oder -minister. Und die auf die Gesamtsituation. Die liebsten deutschen Ausreden für den kompletten Fail im Homeschooling sind: Datenschutz und arme Kinder. Die Abgehängten und die Kids, die noch kein Deutsch sprechen. Auf die müsse man derzeit so viel Energie verwenden, daher sei, leider, leider, keine Zeit für schnöde Betreuung.
Natürlich gibt es Kinder, denen Langweile ganz recht wäre. An unserer Brennpunkt-Grundschule sprechen über 90 Prozent der Kinder kein Deutsch zu Hause. Homeschooling muss ihnen unheimlich viel schwerer fallen. Aber wären diese Kinder nicht auch besser dran, wenn jeden Morgen um acht der Unterricht auf dem bereitgestellten Tablet starten würde – für ausnahmslos alle? Wenn sie nicht die Abgehängten wären, die man trotz der lebensgefährlichen Krankheit zur Notbetreuung in den Infektionsherd schickt, weil man glaubt, dass es noch gravierender wäre, wenn sie kein Deutsch lernen?
Stattdessen ist Armageddon
Im ersten Lockdown male ich ein Coronavirus mit Augen und Brille auf ein kleines Heft, in das ich die Aufgaben des Tages schreibe. Weil der Schulplan das Kind nicht genügend Stunden am Stück beschäftigt, denke ich mir eigene Aufgaben aus. “Schreib einen Brief an die Oma!” oder “Such ein Rezept, kauf mit Mama ein und koch!” Nach einem ausgeklügelten Bonussystem kann das Kind dadurch Bildschirmzeit erwirtschaften. So viele Learnings!
Ein paar Wochen geht das gut. Dann gibt es Geschrei und Türenknallen, sobald das Wort Homeschooling fällt. Als die Schulen wieder öffnen, marschiert das Kind mit selbstgenähter Maske an mir vorbei. Heilfroh, mich los zu sein und motiviert, seine Kumpel wieder zu sehen. Dann trudeln immer öfter Sonntagabend Mails von der Schule ein. Ab Morgen leider nur noch Betreuung bis 14.30 Uhr! Jetzt nur noch bis 13.30 Uhr! 12.30 Uhr, sorry, Lehrermangel!
Ich überlege, ob Heulen auf dem Küchenboden eine gute Idee ist. Aber ich bin seit Wochen nicht zum Putzen gekommen.
Gastronomen und Dax-Unternehmen, Fleischproduzenten und Künstler bekommen von der Bundesregierung einen Weg gezeigt, durch die Pandemie nicht völlig ruiniert zu werden. Wir Eltern sind bestimmt die nächsten, denke ich. Stattdessen macht im April auf Twitter der Hashtag #CoronaEltern die Runde. Eine Mutter schreibt: “Ich habe mich gestern heulend auf den Küchenboden gelegt. Meine Zweijährige hat meinen Rücken gestreichelt und der Sechsjährige meinen Kopf. Hat etwas geholfen.”
Ich überlege, ob Heulen auf dem Küchenboden eine gute Idee ist. Aber ich bin seit Wochen nicht zum Putzen gekommen und hätte hinterher auch keine Zeit zum Haarewaschen. Ich gehe meine Möglichkeiten durch. Fürs Kündigen zu wenig Geld gespart, für ein Au Pair auch. Für Burnout gibt es zu wenig Therapieplätze. In die Schweiz ziehen?
Als ich abends im Halbschlaf durch die Mediathek scrolle, wird mir einer dieser ARD-Filme vorgeschlagen, in dem alleinerziehende Mütter zwanzig Minuten lang strugglen und dann einen reichen Workaholic kennenlernen, der alle ihre Probleme löst. “Mama und der Millionär” oder “Warum ich meinen Boss entführte”: Das wär’s!
Der Tiefpunkt
Ein paar Wochen später, 13 Uhr, male ich Yves-Saint-Laurent-Touche-Éclat über die lila Halbmonde unter meinen Augen, fülle Sekt mit Zimtgeschmack in eine Kaffeetasse und klicke auf einen Zoom-Link. Mist: Vergessen den Blur-Effekt einzustellen! Im Hintergrund sehen die Teilnehmer des Onlineseminars, das ich halten soll jetzt sehr deutlich einen verwahrlosten Neunjährigen, der im Pyjama auf dem Sofa fläzt. Das Handy in der Hand, während eine 90er-Animeserie auf dem neuen 44-Zoll-Flatscreen flimmert.
Wir haben einen Rhythmus gefunden, wie ein altes Ehepaar: Das Kind erwartet nichts mehr von mir, ich nichts von ihm.
Es ist einer der guten Tage. Ich muss nicht acht Stunden im Hauptjob arbeiten, sondern nur drei im ehrenamtlichen Nebenjob. Aber einige Tage Hölle liegen hinter mir. Die Schulen haben offiziell nicht zu, aber inoffiziell waren zu wenige Lehrer da, um mehr als ein paar Stunden Betreuung zu gewährleisten. Der Neunjährige hat den Tag mit der Ankündigung begonnen, seinen Kumpel “endlich einzuholen” bei der Serie. Sie hat 224 Episoden in fünf Staffeln, der Kumpel ist fast fertig, wir sind nahe dran.
Ich mache einen Witz über Homeschooling, stelle den Hintergrund unscharf und beginne meinen Vortrag. Danach wollen wir, das Kind und ich, zusammen Siedler spielen. Wir haben einen Rhythmus gefunden, wie ein altes Ehepaar: Das Kind erwartet nichts mehr von mir, ich nichts von ihm. Wenn wir Lust haben, machen wir etwas zusammen. Aber es gibt keinen Zwang mehr zum pädagogischen Malen-Nach-Zahlen. Immerhin ruhig und friedlich ist es geworden.
Die fünf Stunden, die das Kind in der Schule verbringt, werden indessen immer irrer. Die Regeln ändern sich ständig, unter Müttern schicken wir uns Screenshots zu: Masken im Unterricht, Masken in der Pause, Masken nur drinnen, Masken nur draußen in der Pause. Irgendwann heißt es, die direkten Sitznachbarn positiver Kinder müssten nun nicht mehr in Quarantäne – wenn sie ihre Masken korrekt tragen.
Eine Freundin nimmt ihr Kind ein paar Wochen vor Weihnachten einfach ganz aus der Schule.
Neunjährige putzen die Nase mit dem Ärmel, kleben den Kaugummi beim Essen kurz auf den Tisch, um ihn dann zurück in den Mund zu stecken und beißen beim Sitznachbarn vom Nutellabrot ab, wenn sie wieder nur gesundes Zeug mithaben. Manche Neunjährigen, auch meiner, spielen schon “knutschen bis es nicht mehr eklig ist”. Ich möchte meine Gesundheit lieber nicht daran hängen, dass ein Neunjähriger seine Maske korrekt trägt.
Eine Freundin nimmt ihr Kind ein paar Wochen vor Weihnachten einfach ganz aus der Schule. Einige Tage darauf meldet der Guardian, symptomlose Kinder seien einer der “wichtigsten Treiber der Pandemie”.
Das zweite Armageddon
Wieder einige Wochen später ist zweiter Lockdown, bis mindestens Ende Januar sind die Grundschulen geschlossen. Bei der Ankündigung dachte ich noch: Egal, endlich hat man uns mitgedacht. Immerhin sollen Eltern 67 Prozent des Nettoeinkommens als Entschädigung vom Staat bekommen, wenn Schulen und Kitas behördlich geschlossen wurden.
Überall ist das angekündigt als SONDERURLAUB! Als würden Eltern zum Mindfulness-Retreat nach Fiji eingeflogen und nicht dazu verdonnert, ohne Museen, Zoos, Kinos und Familienbesuche ihre Kinder 14 Stunden lang zu beschäftigen. 67 Prozent ist wirklich wenig, aber egal, denke ich. Gibt es halt eine Weile Kartoffeln mit Quark statt Lieferando. Die Zeit bekommen wir schon rum. Ich lade das 56-seitige offizielle Regelbuch des Yu-Gi-Oh Sammelkartenspiels herunter und beginne mit dem Lernen.
Ich weiß eben nicht, ob ich als Frau ein Kind bekommen hätte, wenn das meine Karriere aufs Spiel gesetzt hätte.
Als die Regelung beschlossen ist und vermeldet wird, bleibt mein Herz stehen. Sie gilt nicht für uns, schließlich bin ich im Home Office: “Das Gesundheitsministerium ist grundsätzlich der Auffassung, dass ein Arbeitnehmer zuhause arbeiten und auf seine Kinder aufpassen kann”, schreibt die Tagesschau. Alle Witze darüber, die Kinder mal im Gesundheitsministerium oder in Spahns offenbar sehr schönen, großen, neuen Villa vorbeizuschicken, damit er “grundsätzlich” mal sehen kann, wie sich das anfühlt sind nichtmal lustig, weil sie so wahr sind.
Jetzt könnte man sagen: Wer Kinder bekommt, muss sich nun einmal auch darum kümmern. Aber Ich weiß eben nicht, ob ich als Frau ein Kind bekommen hätte, wenn das meine Karriere aufs Spiel gesetzt hätte. Dass meine Regierung einfach vergisst, dass der Tag auch für mich nicht 40 Stunden hat.
Aber genau dafür war Kinderbetreuung gedacht. Und zwar von Pauline zu Lippe-Detmold gegen 1800. Sie hatte in Paris gesehen, dass Kinder bis zum vierten Lebensjahr betreut wurden, deren Eltern während der Sommermonate mit Ernte- und Feldarbeiten beschäftigt waren. Um einen Betreuungsplatz zu bekommen, mussten die Eltern zeigen, dass sie aufgrund prekärer Lebensverhältnisse gezwungen waren, einer außerhäuslichen Tätigkeit nachzugehen. “Jeden Morgen überbringen die dadurch beruhigten, beglückten Mütter ihre Kinder, jeden Abend holen sie sie freudig und dankbar wieder ab” beobachtet sie.
Nichts mehr will ich. Tagsüber ernten und abends dankbar und gut gelaunt Familienzeit verbringen. Stattdessen haben die Tage jetzt wieder kaum erträgliche 32, 38, 40 Stunden. Es gibt eine Geometrieplattform, auf der Übungen erledigt und dann abfotografiert werden müssen. Die Mathelehrerin hat grob 40 Seiten zum Lösen aufgegeben und ist dann abgetaucht. Die Cellolehrerin darf den Videochat-Account ihres Kollegen nicht mehr benutzen. Die Schweiz ist weit weg, und einmal mehr wirkt es lächerlich arrogant wie stolz Deutschland auf technologische Entwicklungen ist.
Die Lösung
Ende Januar könnten die Grundschulen wieder für Präsenzunterricht öffnen. Aber will ich mein Kind als Kaninchen in das Experiment “Schönschrift lernen trotz Pandemie” hoppeln lassen? Sicher nicht. Ich möchte als Hobby-Köchin meinen Geschmackssinn behalten und auch zukünftig genügend Lungenkapazität zum Treppensteigen haben. Ich lasse mich nicht auf den letzten Metern mit COVID-19 infizieren. Eine Studie aus der Schweiz bestätigt, Schulschließungen seien eine der drei wirksamsten Möglichkeiten die Pandemie aufzuhalten.
Wenn der Tag 40 Stunden hat, betreut ein Flatscreen mein Kind.
Annalena Baerbock, die immer eher gegen Schulschließungen war, sagte neulich “Kinder brauchen Gespräche, soziale Interaktion, Bewegung.” Und wenn wir Eltern alle mal ehrlich sind, erfüllt all das derzeit vor allem eine: die Spielkonsole. Haushalt für Haushalt knicken die 40-Stunden-Tag-Eltern in meinem Umfeld vor der Nintendo Switch ein.
Ich hoffe, dass vielleicht ja doch noch die Zeit kommt, wo Herr N. morgens um 8 Uhr sein Tablet anmacht und sechs Stunden lang das tut, was er sonst auch tut und für das er bezahlt wird: unterrichten. Denn so oder so: Wenn der Tag 40 Stunden hat, betreut ein Flatscreen mein Kind.
Pauline zu Lippe-Detmold schrieb hinterher über die eigene Idee von der Tagsüber-Kinderbetreuung: “Man gewinnt sie so lieb, daß man nicht begreift, wie sie so spät erst in Tätigkeit kam; man hadert mit seinem Kopfe und Herzen, daß man dahin geleitet, dazu durch Beispiele geweckt werden mußte und sie nicht selbst schon früher sich schuf.”
Hoffen wir, dass demnächst auch jemand ähnlich über das digitale Vollzeit-Videochat-Homeschooling schreibt.