Houssam Hamade weiß nicht, wann er zuletzt jemanden verprügelt hat. “Ich habe ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und gerate öfter in Konflikte” sagt er. “Die allermeisten löse ich allerdings gewaltfrei.” Seit seiner Schulzeit habe er sich vielleicht fünf Mal geschlagen, sagt der 45-jährige Autor und Sozialwissenschaftler. Eine dieser Schlägereien beschreibt Hamade in seinem Buch Sich Prügeln. Er lässt dort 17 weitere Menschen erzählen, warum sie jemanden geschlagen haben.
Die Idee für sein Buch sei Hamade bei einer Hausparty gekommen. “Einer der Gäste hatte sich am Vortag geprügelt”, sagt der Berliner. “Als er die Geschichte erzählte, wurde der ganze Raum still.” Der Mann habe die Schlägerei reflektiert, erzählt Hamade. Am Ende sei er sich nicht sicher gewesen, ob die Entscheidung die richtige war.
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Für Sich Prügeln hat Houssam Hamade Menschen darum gebeten, ihre Schlägereien und die Gefühle dabei zu beschreiben. Rund 50 Interviews hat der Autor geführt. Die aussagekräftigsten veröffentlichte er im Buch, zwischen Illustrationen und den Erklärungen von Kampftechniken. Damit wolle Hamade aber keine Anleitung zur Gewalt geben, sondern zur Selbstverteidigung im Notfall: “Ich will Gewalt nicht als etwas Gutes darstellen”, sagt Hamade. Er überlasse es dem Leser oder der Leserin, die Geschichten zu bewerten. Dennoch sagt er über körperliche Gewalt: “Ich finde es legitim, wenn Leute sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzen und solidarisch sind.”
Auch bei Lena seien die Schläge eine Reaktion gewesen – auf die Gewalt ihrer Adoptivmutter. Sie misshandelte Lena jahrelang, bis sich die damals 14-Jährige wehrte.
Lena: “Ich habe meine Mutter am Arm gepackt und mit der Rechten immer wieder zugeschlagen.”
Hier lest ihr das Kapitel “Jetzt werde ich mich nie mehr schlagen lassen” aus Houssam Hamades Buch ‘ Sich Prügeln‘ .
Meine Mutter hat mich adoptiert. Inzwischen verstehen wir uns halbwegs. Meine Kindheit mit ihr war aber furchtbar. Die war immer nervös und überfordert und hat mich verprügelt. Mal mit dem Kochlöffel, mal mit der flachen Hand. Ich war oft grün und blau an den Armen und am Rücken. Das schlimmste Erlebnis mit ihr hatte aber weniger mit physischer Gewalt zu tun. Wir haben Nachrichten geguckt, ich war etwa sechs oder sieben Jahre alt. Ich sagte irgendwas Unschönes über arme Kinder, dass die keiner will oder so.
Sie regte sich darüber furchtbar auf und brüllte mich an. Dabei war ich nur ein Kind und habe eben Mist geredet. Sie hat mich dann, so wie ich war, ins Auto gezerrt. Ich hatte nur eine grüne Hose an und ein lila T-Shirt, daran erinnere ich mich. Dann sind wir in den Wald gefahren. Sie sah furchtbar wütend aus, hat das ganze Gesicht zusammengekniffen. Dort holte sie mich aus dem Auto und zerrte mich am Arm durch die Pfützen, ein Stück rein in den Wald.
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Sie sagte: “So, jetzt weißt du gleich, wie es armen Kindern geht.” Und hat mich dort alleine gelassen. Fast im Stechschritt ist sie zurück zum Auto gelaufen. Ich bin ihr nach, habe aber Abstand gehalten. Sie ist einfach losgefahren. Das war wirklich schrecklich. Ich fühlte mich wie ein Stück Scheiße. Zum Glück kannte ich den Weg zurück und konnte an der Straße entlang ein Stück nach Hause laufen. Nach einer Weile ist meine Mutter aber zurückgekommen und hat mich am Straßenrand eingesammelt.
Wie gesagt, dieses Erlebnis war schlimmer als die Schläge und das dauernde Geschrei, das ich meine ganze Kindheit lang mitmachen musste. Ein richtiger Bruch war das. Als ich älter war, etwa 14, waren wir zu Besuch bei Oma und Opa. Meine kleine Schwester war auch dabei. Sie ist sieben Jahre jünger. Da war dann wieder so eine ganz heftige Situation, in der meine Mutter meine Schwester total angeschrien hat. Sie hatte gerade die Hand erhoben und wollte zuschlagen. Ich war damals schon ziemlich stark, weil ich Leistungssport betrieben habe. Ruckzuck habe ich mich frontal vor sie gestellt und sie aus voller Lunge angeschrien, dass sie damit aufhören soll. Als sie mich dann schlagen wollte, hat es bei mir ausgesetzt.
Ich habe sie am Arm gepackt und mit der Rechten immer wieder zugeschlagen. Mit der Faust gegen die Arme, die Brust, den Bauch. Meine Faust fühlte sich an, als wäre sie aus Stein, ich schlug sie richtig zusammen. Ein paar Mal schlug ich auch mit der flachen Hand. Ich war so wahnsinnig wütend. Sie war danach fast krankenhausreif, überall blaue Flecken, am ganzen Oberkörper. Ins Gesicht habe ich aber nicht geschlagen. Vielleicht, weil sie das selbst nie gemacht hat.
Während ich sie schlug ist bei ihr etwas passiert, das ich von mir auch kenne: Dein ganzer Körper kommt in einen Ohnmachtszustand. Du wehrst dich nicht mehr, dein ganzer Körper wird steif. Wenn jemand so lange auf dich eindrischt, passiert das, zumindest war das bei mir so und bei meiner Mutter eben auch. Man gibt einfach auf und lässt sich in das Unglück fallen, lässt alles locker, obwohl der Körper steif ist.
Ich hab sie dann noch gegen die Tür geschmissen. Das Gefühl dabei war ganz eigenartig. Einerseits dachte ich, “Oh Gott, ich werde wie meine Mutter!”. Das zweite Gefühl war: “So! Jetzt werde ich mich nie mehr schlagen lassen.” Das war befreiend. Und das behalte ich bis heute bei.
Ich lasse mich von niemandem unterdrücken oder schlagen. Ich habe ein wahnsinniges Gerechtigkeitsempfinden. Wenn sich jemand unfair oder gemein verhält, dann macht mich das sehr wütend. Wenn ich irgendwo sehe, dass beispielsweise ein kleines Kind verdroschen wird, dann schaltet es bei mir aus. Inzwischen habe ich wieder ein Verhältnis mit meiner Mutter. Sie hat inzwischen eingesehen, was da war, und ich verstehe sie sogar ein bisschen, weil ich jetzt auch ihre Geschichte kenne. Aber das bringt mir auch nicht allzu viel. So benimmt man sich nicht.