Ich habe 24 Stunden am Stück in der Uni-Bibliothek verbracht

“Wenn er (…) in den stillen, sacht verstaubten Räumen der Bibliothek saß, die dunkelgrünen Rücken unzähliger Bücher in den hohen und breiten Regalen ansah, (…) die tiefe Andacht, die alle lesenden Menschen in der Bibliothek frommen Betern in einer Kirche ähnlich machte, ergriff ihn die Angst, daß er das ‘Wichtigste’ nicht wisse, und daß ein Leben zu kurz sei, um es zu erfahren.” – Joseph Roth, Der stumme Prophet

Es ist neun Uhr morgens, eine blonde Studentin betritt den Lesesaal im oberen Stockwerk der Leipziger Campus-Bibliothek. An so gut wie jedem Tisch des Saals krümmt sich bereits ein Rücken. Sie findet aber noch einen freien Platz und legt Hefter und Notizblock ab, dann haut sie wieder ab. Andere Studenten wandern währenddessen wie Wölfe durch die Reihen. Manch einer stürzt sich auf den Platz der Blonden – um dann frustriert festzustellen, dass schon jemand sein Zeug ausgebreitet hat. Auch nach einer halben Stunde läuft es noch so wie am Pool eines All-Inclusive-Hotels auf Mallorca.

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Dann betritt ein dickleibiger Bibliothekar mit randloser Brille und Glatze den Lesesaal. “Weißt du, wer hier sitzt?”, flüstert er einem jungen Mann zu und deutet auf Hefter und Notizblock. Kopfschütteln. Zack, schon ist der Kram weggeräumt. Es dauert keine Minute, da sitzt ein anderer junger Mann auf dem Platz der Blonden. Ein morgendlicher Sieg der Gerechtigkeit.

In den Morgenstunden erinnert der Lesesaal an ein Schlachtfeld: Jeder kämpft gegen jeden um einen Platz – und jeder kämpft für sich allein gegen Müdigkeit, die eigene Faulheit, das absurde Lernpensum, Prokrastination, die Bologna-Reform oder schlicht gegen die Zeit.

Der Autor während seiner Observation

Das Licht von MacBooks wirft bläuliche Schimmer auf unausgeschlafene Gesichter. In tiefer Andacht scrollt eine durch ihre Facebook-Timeline, während ein anderer vor dem Prüfungstermin Karteikarte um Karteikarte vollschreibt.

Leipziger Studenten haben denen in den meisten deutschen Städten außer Dortmund, Bamberg, Karlsruhe und Konstanz etwas voraus: Sie haben eine 24-Stunden-Bibliothek, quasi All-You-Can-Learn. Drei Stockwerke, Tausende Bücher über Mathematik, Medien, Wirtschaft und Psychologie, mit grauem Teppichboden, holzvertäfelten Wänden, 550 Arbeitsplätzen mit ungepolsterten Stühlen und ab und an einem rotem Kunstleder-Sofa. Selbst an Heiligabend und an Silvester sitzen hier nachts noch um die 50 Studenten.

Nur haben all diese Menschen ja eigentlich ein Zuhause, und dort ganz bestimmt auch einen Schreibtisch, an dem sie lernen könnten. “Zu Hause ist aber zu viel Ablenkung”, sagt eine 21-jährige Veterinärmedizin-Studentin, “wegen Internet und Kühlschrank.” Außerdem ist da noch das Gefühl, dass alle um einen herum fleißig sind, ein Gefühl der kollektiven Konzentration. Wer Facebook, YouTube oder Netflix geöffnet hat, muss inmitten der von Zeile zu Zeile rasenden Cursor auf den Nachbarbildschirmen zwangsläufig ein schlechtes Gewissen bekommen.

Um halb eins löst sich das emsige Treiben erstmal auf. Eine junge Frau führt einen unsichtbaren Löffel zu ihrem Mund und kaut, was ein bisschen irre aussieht, aber ihrer Freundin, einige Tische entfernt, das Signal zum Aufstehen gibt. Mittagspause. Die Mensa ruft: “Allgäuer Pilzpfanne mit Schupfnudeln für 2,45 Euro oder doch lieber Pizza Hot Dog für 1,50 Euro?” In der Mensa kann dann endlich wieder laut geredet und gelacht werden. Jemand knallt sein Tablett mit Grützwurst auf einen Tisch. Lärm. Befreiung.


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Danach herrscht in der Bibliothek das “Suppenkoma”. Studierende lehnen sich gähnend zurück und lassen ihren leeren Blick durch den Raum fahren. Doch sobald eine Person leisen Schrittes durch die Tischreihen geht, heben sich alle Blicke. Manchmal ist es nur ein flüchtiges Schielen nach oben, manchmal wird daraus ein Zurücklehnen und vorsichtiges Auschecken von Kopf bis Fuß. Manchmal dreht sich allerdings auch jemand noch für die Hinteransicht um.

In der Bibliothek zu sitzen, ist wie ein analoges Tinder. Das Smartphone liegt als Verkörperung der Prokrastination unerreichbar weggeschlossen im Spind. Man lehnt sich zurück und lässt all die potentiellen Flirtpartner der eigenen Alterskohorte an sich vorbeiziehen. Oder man blickt einen schönen Menschen an, der mehr oder weniger bewegungslos, und dadurch umso besser zu observieren, gegenüber oder vor einem sitzt. Trifft sich der Blick und hält der Augenkontakt ein bisschen länger als gewöhnlich, ist das ein Match.

In der Albertina, einer anderen Leipziger Universitätsbibliothek, in einem Kilometer Entfernung, gibt es sogar einen Lesesaal, den die Studenten “Raum der einsamen Herzen” nennen. Wer sich dort hinsetzt, ist Single und auf der Suche nach einem Kaffee-Date.

Ein weiteres Mittel zur Prokrastination: Klatsch. Eine 20-jährige Studentin, die auf den Stufen vor der Bibliothek sitzt und mit Kommilitonen quatscht, erzählt, dass sich am Vormittag zwei Typen in der Campus-Bibliothek um einen Platz geschlagen haben, inklusive Krankenwagen. Zwar wissen weder die Bibliothekare noch die Sicherheitsdienstmitarbeiter etwas davon, aber auf Jodel und Twitter haben es alle gesehen. Die 20-Jährige kennt noch mehr Gossip: “Es gab mal das Gerücht, dass hier eine Asiatin gelebt haben soll, die Tag und Nacht gelernt hat”, sagt sie. “Und nachts kommen Studenten hier rein und bumsen.”

Die Nacht beginnt in der Campus-Bibliothek um 22 Uhr: Dann macht die Uni zu, der Nachteingang auf. Zwei Nachtwächter, einer dick, der andere hager, kontrollieren Bibliotheksausweise. Bis 23 Uhr leert sich die Bibliothek. Die verbliebenen Studierenden nicken sich kollegial zu, sie bilden eine Leidensgemeinschaft. Der dickere Nachtwächter sitzt an einem Rechner am Nachteingang. Aus seinen Kopfhörern schallt “You win again” von den Bee Gees und auf seinem Computerbildschirm läuft das Musikvideo auf YouTube. Bis um 1 Uhr sitzen noch zwei Dutzend Studenten mit eingeschalteter Lampe an ihren Tischen. Im Kopierraum im ersten Stockwerk steht ein 25-Jähriger barfuß am Scanner. Im Lesesaal kehrt die Stille ein.

Draußen vor dem Nachteingang stehen zwei Studenten Mitte zwanzig, die darauf bestehen, in diesem Text “Ma-Yu” und “Jau Cfu” genannt zu werden. Sie rauchen einen Joint mit einer Kommilitonin. “Ich schreibe morgen eine Prüfung”, sagt Jau Cfu, der Romanistik studiert und die Nacht durchmachen möchte. “Konsequenzen der Prokrastination” betitelt er diese Nacht. Wann genau die Klausur ist, weiß er nicht (“Ich glaube am Nachmittag”).

Sein Kumpel Ma-Yu begleitet ihn “nur zum Spaß” in die Bibliothek. “Ich hatte gestern meine letzte und einzige Prüfung”, sagt der Ethnologie-Student. Jetzt könne er hier nachts endlich alles lesen, was ihn interessiert, und dabei unter Leuten sein. “Sonst wäre ich halt zu Hause und würde The Royals gucken.” Gerade liest Ma-Yu Homo Deus von Yuval Noah Harari: “Was denkt ihr, würde passieren, wenn die Menschheit ihre Geschichte vergessen würde? Also stellt euch vor, man würde alle Erfindungen beibehalten, aber die Umstände, das Geschehen, einfach vergessen: die Nazis, Franco, das Vichy-Regime.” Er blickt fragend in die Runde. “Lernt man eigentlich irgendetwas aus seiner Vergangenheit, so kollektiv, nicht individuell?”

3 Uhr. Wieder draußen. Diesmal Zigaretten. “Ich arbeite in einem Sexshop mit Sexkino”, sagt Jau Cfu. “In der Weihnachtszeit kommen Leute und kaufen Analplugs in Form eines Weihnachtsbaums, mit einem Stern an der Spitze.” Der Job sei aber schlecht bezahlt. Damit sie die Nacht in der Bibliothek durchhalten, haben die beiden Speed gezogen. Die beiden zelebrieren diesen Bibliotheksaufenthalt, kennen aber auch andere Nachtschichten: “Einmal bin ich hier bei einer Nachtschicht unter einem Tisch eingeschlafen und wurde dann von einem der Ghostbuster geweckt”, sagt Jau Cfu und meint damit wohl den Mann mit dem Staubsauger auf dem Rücken. Jede Nacht wird die Bibliothek nämlich geputzt: Erst wischt eine Reinigungskraft über die Tische, dann läuft ein Mann mit einem Staubsauger durch die Lesesäle.

Um 4 Uhr ist es wieder ganz still in der Bibliothek. Niemand hat Sex auf den Toiletten. Die Reinigungskraft sagt aber, sie habe schon öfters Leute dabei erwischt. Man hört nur noch das Rauschen der Lüftung. Sieben Menschen sitzen noch in der Bibliothek, darunter Jau Cfu und Ma-Yu auf Speed und zwei Mathestudenten, die Formeln auf ihre Blöcke kritzeln. Bis um 7 bleibt es still. Eine Bibliothek ist ein lebloser Raum voller Bücher, Stühle und Schreibtische. Erst durch die Gegenwart von Menschen erhält sie einen Sinn.

Ab sieben Uhr morgens trudeln die ersten ein. Eine Studentin legt sich aber erst nochmal auf ein rotes Sofa und macht ein Nickerchen. “Die Couch ist bequemer als mein Bett”, sagte schon ein Student am Vortag. Bis 9 Uhr füllen sich die Tische wieder. Der Kampf um die Plätze beginnt von vorn.

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