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Ich habe 24 Stunden Straßenkarneval in Köln gefeiert

Die Autorin trägt ein pinkfarbenes Kleid und trinkt ein Kölsch

Jemand tippt mir von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um und vor mir steht ein Känguru mit Alkoholfahne, das mich mit einem lauten “Eeeeey!” anbrüllt. Ich erschrecke nicht, rufe nicht um Hilfe und frage mich auch nicht, ob ich gerade den Verstand verliere. Denn es ist Kölner Karneval und eine Begegnung wie diese hier ganz normal.

Ich liebe die fünfte Jahreszeit: Kostümieren, Karnevalsumzug gucken, kölsche Traditionsmusik pumpen und mit meinen Besten im Brauhaus oder der Kneipe Schnapsgläser heben. Das ist für mich Kölner Straßenkarneval, als Rheinländerin bin ich damit aufgewachsen. Aber auch mit Alkoholexzessen und maximalem Kontrollverlust wird Kölns Straßenkarneval in Verbindung gebracht. Die parteilose Oberbürgermeisterin Kölns, Henriette Reker, kritisierte bereits 2018 die Entwicklung im Straßenkarneval: “Der Karneval ist in den letzten Jahren – oder eher Jahrzehnten – zu etwas geworden, das eher einem allgemeinen Besäufnis entspricht, als dem, was unsere Karnevalskultur ausmacht.”

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Phantastische Tierwesen: Köln-Edition

Beim jüngsten Sessionsauftakt am 11.11.2022 wurden Ordnungskräfte, Absperrungen und sogar Zäune überrannt, das Sicherheitskonzept der Stadt ging nicht auf. Das Urteil des Bezirksbürgermeisters der Kölner Innenstadt Andreas Hupke (Bündnis 90/die Grünen) zum Karnevalsauftakt: “Das ist kein Karneval, das ist ein Massenbesäufnis.” Ich will herausfinden, ob Karneval in Köln wirklich ein allgemeines Besäufnis ist oder nicht. Deshalb feiere ich 24 Stunden Straßenkarneval an Weiberfastnacht in Köln.

07:12 Uhr – “Keine Ahnung, wie du deine Haare stylen sollst. Sehe ich aus wie ein Afro-Shop?”

Ich sitze in der Straßenbahn Linie 18 und in meinem Kopf höre ich Big Brother-Legende Jürgen Milski singen: “Heute fährt die 18 bis nach Istanbul.” Dieser Ohrwurm will mir nicht aus dem Kopf gehen. Bis ein Handy klingelt. Ein Typ greift in die Hosentasche seines lilafarbenen 80er-Jahre-Sportanzugs und nippt noch mal schnell an seinem Bier bevor er den Anruf annimmt: “Jo … Ich habe meine Haare mit Gel nach hinten gekämmt … Warst du nicht beim Friseur? … Keine Ahnung, wie du deine Haare stylen sollst. Sehe ich aus wie ein Afro-Shop?”

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Passende Kleidung und die richtige Ausrüstung sind für das Vorankommen im Karneval unerlässlich

Karneval und Kostüme gehören zusammen wie Döner und Zwiebeln, Jeremy und Fragrance oder der deutsche Verfassungsschutz und das Schreddern von Akten. Aber wenn du nicht mal weißt, was ein Kufiya ist, warum trägst du das schwarz-weiß gemusterte Tuch auf deinem Kopf? Lasst die Finger von Kostümen, die vermeintlich andere Ethnien darstellen sollen, aber eigentlich nur stereotype und rassistische Bilder reproduzieren. Und wer sich das Gesicht schwarz anmalt, verdient ein blaues Auge.

08:06 Uhr – “Die Leute besaufen sich nicht nur an Karneval.”

In Köln kommt man heute nicht am Karneval vorbei. Kassierer tragen rote Pappnasen, im libanesischen Imbiss kleben Ballons und Luftschlangen am Fenster. Auch eine S-Bahn mit jecken Motiven aus dem Kölner Karneval fährt durch die Stadt. Und wer nicht verkleidet ist, fällt auf. Deshalb bin auch ich im pinken Tüllkleid und fransiger Jacke als Haute-Couture-Flamingo unterwegs.

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Links: Die Autorin und ihre Artgenossinnen, rechts der Bellejeck Alfred Wolf

Der Straßenkarneval in Köln beginnt traditionell mit dem “Wecken der Jecken” durch den Bellejeck, einer historisch belegten Figur, die ihren Ursprung im mittelalterlichen Hofnarren hat. Der diesjährige Bellejeck ist Alfred Wolf von der Großen Allgemeinen Karnevalsgesellschaft von 1900 Köln e.V. Das Wort “Belle” steht für die Glöckchen am Kostüm und “Jeck” ist im Rheinland der Narr. 

Der Bellejeck führt den gleichnamigen Karnevalszug vom Kölner Hauptbahnhof zur sogenannten Hofburg an. Dort lebt seit rund sechs Wochen das Kölner Dreigestirn. Der Prinz, der Bauer und die Jungfrau regieren das Kölner Volk während der Karnevalstage. Wenn “D’r Zoch kütt”, ist der Höhepunkt des Kölner Straßenkarnevals erreicht. Mit rund 12.000 Teilnehmern und Hunderttausenden Zuschauern ist der Kölner Rosenmontagszug der größte Karnevalsumzug Deutschlands. 

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“Wo laufen wir eigentlich hin? Ach, egal.”

Die Große Allgemeine KG ist eine Familiengesellschaft, mehrere Generationen feiern gemeinsam im Karnevalsverein. “Wir geben die Tradition, das Brauchtum, an die Kinder und Jugendlichen im Verein weiter. Wir sind ein Gegenbeispiel für Alkoholexzesse”, sagt Andreas Holtmann, Pressesprecher der Großen Allgemeinen KG. “Alkoholexzesse sind ein gesellschaftliches Problem. Man kann nicht sagen, dass das ein reines Problem des Karnevals ist. Die Leute besaufen sich nicht nur an Karneval.”

08:45 Uhr – “Sind wir hier die einzigen Kanaken?” 

Ich bin in der Hofburg des Kölner Dreigestirns. Die Hofburg ist aber nicht wirklich eine Hofburg, sondern ein Vier-Sterne-Hotel am Kölner Heumarkt. In der Lobby warten zwei Männer auf ihren Koffern sitzend auf den Check-in. Gleichzeitig rufen rund 500 Leute  lautstark “Opstonn”, also “Aufstehen”. So wird traditionell das Dreigestirn “geweckt”. Und unsere Rufe werden erhört: Jungfrau Agrippina, Prinz Boris I. und Bauer Marco betreten die mit schimmernd-buntem Lametta geschmückte Bühne. Die Jungfrau Agrippina heißt eigentlich André und dreht eine Pirouette nach der anderen. Die Menge tobt vor Begeisterung. Die Stimmung ist fantastisch, es wird gelacht, gesungen und getrunken. 

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Wenn die Chefin auf der Weihnachtsfeier einen Witz erzählt

“Sind wir hier die einzigen Kanaken?”, frage ich Hakki, den Fotografen an meiner Seite. 

“Ja. Mir ist das auch schon aufgefallen. Wir sind hier die ‘Exoten’”, scherzt er. 

Hakki kommt aus dem Ruhrgebiet und hat noch nie an der Seite eines Karnevalsvereins mitgefeiert. Er findet die gesamte Situation befremdlich. Ich als Rheinländerin und Karnevalsfan habe den Spaß meines Lebens.

10:09 Uhr – “Wenn du nüchtern zwischen den ganzen Tünnesen bist, ist das voll anstrengend.”

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Priesemut, Hank, Fresse und Jorry von Brotos Bandia machen mit der Autorin höflich Konversation bei einem gepflegten Kölsch

Ich stehe vor der Gaststätte Brodmühler im Kölner Stadtteil Nippes. Die komplette Außenfassade der Sportkneipe ist königsblau. Wer die Kneipe betritt, sieht aber nur noch rot-weiß vor den Augen. Eingerahmte Trikots des 1. FC Kölns, Fanschals und Wappen der Stadt Köln schmücken fast jeden Zentimeter Wand und Decke. Am Stehtisch neben dem Geldspielautomaten trinken Hank und Jorry im Brodmühler ihr erstes Kölsch. Die beiden Kölner sind Teil von Brotos Bandia, einer neunköpfigen Gruppe bestehend aus Rappern, Musikproduzenten und Tontechniker. 

Während das deutsche Grundgesetz in Artikel 10 das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis schützt, fragt das kölsche Grundgesetz an gleicher Stelle: “Drinks de ejne met?” Der Genuss von Alkohol ist in Köln quasi ein Grundrecht. Kneipeninhaber Roman erzählt mir, dass an Weiberfastnacht im Brodmühler rund 2.000 Stangen Kölsch über die Theke gehen, also 400 Liter Bier. Kölsch wird aus der Stange getrunken, einem schlanken, zylindrischen Bierglas, das meist 0,2 Liter fasst.

“Alessi, kannst du uns bitte sechs Kölsch bringen?”, ruft Hank, nachdem Rapper-Kollege Fresse, Musikproduzent Priesemut und Grafikdesigner Jojo dazugestoßen sind. Fresse erzählt mir von seiner Zeit in der Security-Branche: “Wenn du an Karneval nüchtern zwischen den ganzen Tünnesen bist, ist das voll anstrengend. Mehrere Veranstaltungen pro Tag, kurze Pausen, laute Musik. Karneval in Köln ist verrückt. Du musst eigentlich besoffen sein, um das zu ertragen. Aber die alten Leute sind chillig drauf.” 

“Alte Leute können richtig gut Karneval feiern”, meint Priesemut.

“Ja, man!”, bestätigt Hank. 

“Ey, ich liebe alte Leute. Auch mit älteren Damen an Karneval flirten – so Baba. Ich liebe das”, schwärmt Fresse. 

Aber Fresse liebt am Kölner Karneval nicht nur das Schäkern mit alten Damen, sondern auch die Musik: “Im Karneval spielt die Musik so eine krasse Rolle. Die kölsche Traditionsmusik ist so etwas Besonderes. Also die Brings machen auch stabile Sachen, aber ich meine altertümliche, traditionelle kölsche Musik wie von Willi Ostermann”, sagt der Rapper. “Marschmusik! Das macht so gute Laune!”, fügt Priesemut hinzu, während er auf der Stelle marschiert und in die Hände klatscht. Alle am Tisch klatschen mit. Ich auch.

Bei Roman* an der Theke bestelle ich mein erstes Glas Fanta Korn und stoße mit den Brotos Bandia an. Für die Mehrheit der Deutschen ist der Konsum von Alkohol vor 18:00 Uhr übrigens verpönt. Das ergab eine repräsentative Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2016. Die Mehrheit der Deutschen sind aber auch loyale Opfer des Kapitalismus, die ihre kostbare Lebenszeit tagsüber mit unterbezahlter Lohnarbeit verbringen anstatt Arbeitskampf zu führen und einen Deckel in der Kneipe rund zu machen. Prost!

13:35 Uhr – “Unordnungsamt, das sind die Leute, denen ich immer auf die Socken wichse!”

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Yogaübungen und eine gelegentliche Meditation stärken beim Karneval die Ausdauer

“Karneval ist vulgär, mit aller Größe und allem Schrecken des Vulgären. Aber nie frivol”, das hat der Kölner Heinrich Böll gesagt, einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Nachkriegszeit. Vor der Mensa der Universität zu Köln sehe ich junge Leute, die ungeniert saufen, pinkeln, knutschen und kotzen. Aber wer entscheidet schon, was frivol ist?

An meiner Seite sind immer noch Brotos Bandia. Priesemut sieht zwei Typen, die sich als “Unordnungsamt” verkleidet haben und ruft: “Unordnungsamt, das sind die Leute, denen ich immer auf die Socken wichse!” Ich muss lachen, auch weil gleichzeitig zwei Typen an einem Dixi-Klo rütteln, während eine dritte Person auf dem Klo hockt. 

14:27 Uhr – “Und warum weinst du?” “Weiß ich nicht.”

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Kat, FG und Lotte (von links) – folgt ihnen auf Instagram!

Auf einer der Parkbänke vor dem Haupteingang der Universität zu Köln treffe ich im Nieselregen auf Kat, Lotte und FG. Die Drei sind Anfang 20 und studieren in Köln Sonderpädagogik. Lotte trägt bunte Lockenwickler im Haar und raucht stehend eine Kippe, während sie sich mit Joachim unterhält, der Pfandflaschen sammelt. Währenddessen sitzt FG auf der Parkbank und tröstet ihre weinende Freundin Kat mit einer Umarmung. Im Hintergrund dröhnt “Alle Jläser huh” der Kölschrockband Kasalla aus der Bluetooth Box. 

“Was ist los, Kat?”, will ich wissen.

“Mich hat gerade ein Typ angerufen und gesagt, dass er mich sehen will.”

“OK. Und war das nur ein Booty Call? Bist du deshalb traurig?”

“Nein. Der hat mir auch vorgestern am Valentinstag Blumen vorbei gebracht.” 

“Und warum weinst du dann?”

“Weiß ich nicht.” 

Ich bin irritiert, aber nicht verwundert. Emotionales Chaos gehört zum Karneval dazu. Die drei Frauen von der Parkbank heißen eigentlich anders. Kat, Lotte und FG sind nur ihre Spitznamen. Das Trio bezeichnet sich selbst auch als “Die Foetzchen”. Sie erzählen mir von ihrem gleichnamigen Instagram-Account. Ich frage, welchen Content die Drei hochladen. Sie antworten schreiend und synchron: “Saufen!” Die Drei bieten mir Pfefferminz-Shots an. Ich bekomme Komplimente für mein Outfit. Ich fühle mich wohl und willkommen bei den Foetzchen und würde jederzeit wieder mit dem Trio abhängen.

16:06 – “Gymnasium Korschenbroich, Shoutout!”

Ein Känguru schaut mir tief in die Augen und hebt die Arme hoch. Aber das Beuteltier Tim will sich nicht mit mir boxen, sondern freut sich, mich wiederzusehen und möchte umarmt werden. Vor zwei Stunden habe ich den 18-jährigen Abiturienten aus Mönchengladbach zum ersten Mal kennengelernt. Ich gebe mir ein Update zu seinem aktuellen Pegel:

“Tim, wie besoffen bist du mittlerweile auf einer Skala von eins bis zehn?”

“Eine solide sieben. Ein, zwei Stunden Karneval geht noch, aber nicht so viel Alkohol, weil man muss auch seine Grenzen kennen und ich würde sagen … wo arbeitest du nochmal?”

“VICE Deutschland.”

“VICE ist sowieso das Beste. Ich will ja einen schönen Artikel über mich lesen, da will ich nicht zu besoffen sein und gute Antworten liefern.”

“Was trinkst du?”

“Cola. Einfach so Cola, damit ich lange wach bleibe. Weil es ist ja Donnerstag und Freitag hab ich nur wenig Schule und dann kann ich heute lange wach bleiben.” 

“Du hast morgen Schule?”

“Ja. Abitur 2023. Gymnasium Korschenbroich, Shoutout! Wie heißt du?”

“Berivan.”

“Berivan, du bist die beste Reporterin, die ich je kennengelernt habe.”

17:02 Uhr – “Jägermeister mit Cola. Schmeckt mega.”

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Michelle und ihre Freunde

Ich bin auf der Uniwiese, einem Teil des Inneren Grüngürtels Kölns und damit in einem Naturschutzgebiet. Heute ist die Uniwiese aber auch Ausweichfläche für Feiernde rund um die Zülpicher Straße. Um die Rasenfläche vor Abnutzung und Verschmutzung zu schützen, hat die Stadt Köln die gesamte Wiese für eine halbe Millionen Euro mit Schutzplatten abdecken lassen. Der Zugang auf die Uniwiese wird vom Personal der Sicherheitsfirma R.A.D. kontrolliert. Einer der Mitarbeiter beschreibt die Stimmung der Feiernden als entspannt, aber stellt auch fest, dass die Leute besoffener werden: “Die Leute haben wegen Corona drei Jahre lang keinen Karneval gefeiert und heute sind sie das erste Mal wieder auf der Straße. Ich gehe davon aus, dass ein bisschen mehr gefeiert wird als sonst.” 

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So richtig dicht: Die mit Plastik verschalte Uniwiese

Michelle feiert heute zum ersten Mal Karneval in Köln. Die 22-Jährige macht in Wuppertal eine Ausbildung zur Sozialassistentin im Pflegebereich. Michelle sitzt im Rollstuhl, auf ihrem Schoß liegt eine 1-Liter-Cola-Flasche, die fast leer ist. Ich frage Michelle, was sie trinkt. 

“Jägermeister mit Cola. Schmeckt mega.”

“Wie erlebst du den Kölner Straßenkarneval im Rollstuhl?”

“Ich sitze noch für ungefähr fünf Wochen im Rollstuhl, weil ich eine Hüftoperation hatte. Klar, ich würde gerne lieber laufen und tanzen, aber Hauptsache ich bin dabei.”

“Schreckt dich die große Menschenmasse nicht ab? Fühlst du dich sicher?”

“Ne, die Leute schrecken mich nicht ab, die sind respektvoll und haben Verständnis.”

19:05 Uhr – “Die meisten Leute wissen nicht, wie sie mit Gehörlosen umgehen sollen, weil es etwas Neues für sie ist. Und deshalb hauen die meisten Leute ab.”

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Fiona, Stine, Kolja und Maria (v- l.) zeigen die Gebärde ILY (I love you)

Ich bin in der Kölner Altstadt gelandet und glücklich, weil ich hier soeben eine Currywurst mit Pommes und Mayo weggefetzt habe. Ein Mann zeigt auf meine mit Strass besetzte Tasche und hebt seinen Daumen hoch. Ich schaue ihn an und posiere mit meiner Tasche. Diesmal zeigt er auf mich und streicht seinen Zeigefinger von unten nach oben an seinem Nasenvorhof entlang. Ich und hochnäsig? Papperlapapp. Der Mann im blauen Einteiler mit knallroter Unterhose mimt weiter meine Posen nach und ist dabei maximal sympathisch.

Ich erzähle ihm, dass ich einen Artikel über den Straßenkarneval in Köln schreibe. Daraufhin erklärt er mir mit Mimik und Gestik, dass er taub ist. Also nehme ich mein Handy zur Hand und wir stellen uns einander gegenseitig per Textnachrichten vor. Kolja ist 28 Jahre alt und wohnt in Frankfurt am Main. Seit 14 Uhr feiert er schon mit seinen Freunden Karneval. Kolja ist die Sorte betrunkener Mensch, die positive Energie verbreitet, er lacht und umarmt ständig andere Leute. 

 “Nach vielen Jahren können wir endlich wieder Karneval feiern :D”, tippt Kolja in mein Handy. 

“Was gefällt dir an Karneval?”, frage ich.

Koljas kurze und bescheidene Antwort: “Alk.” Er packt sich mein Handy und zeigt seinen drei Freundinnen mit einem Grinsen im Gesicht unsere Unterhaltung.

Eine von Koljas Freundinnen, Stine, schüttelt lächelnd den Kopf und nimmt ihm wie eine liebevolle, aber genervte Mutter mein Handy aus der Hand. Stine ist 28 Jahre alt, lebt in Frankfurt am Main und ist taub. Während Stine einen Text in mein Handy tippt, zeigt mir Kolja, wie ich meinen Spitznamen Bero gebärde. Stine gibt mir mein Handy mit folgender Nachricht wieder: 

“Gehörlose leben täglich mit einer Barriere und wir freuen uns, mit den Hörenden zusammen zu feiern, damit eine Brücke zwischen den Gehörlosen und Hörenden aufgebaut werden kann. Es gibt viele Hörende, die Nichts über Gehörlose wissen :( Die meisten Leute wissen nicht, wie sie mit Gehörlosen umgehen sollen, weil es etwas Neues für sie ist. Und deshalb hauen die meisten Leute ab.”

20:10 Uhr – “Nä, wat wor dat schön!”

Vom Neumarkt aus laufe ich in Richtung Zülpicher Platz. “Tschö, kommt jut nach Huus”, ruft eine alte Dame ihren zwei Freundinnen zu. Die 68-jährige Rentnerin Erika ist auf dem Nachhauseweg. Ihr Fazit nach sechs Stunden schunkeln in der Kölner Altstadt: “Nä, wat wor dat schön!” Erika ist Kölnerin und trägt einen rot-weiß glitzernden Sticker mit dem Kölner Wappen auf ihrer linken Wange. Und auch ihr Hut glänzt in schimmernden roten Pailletten. Weiberfastnacht feiert Erika aus Tradition nur mit ihren Weibern, wie sie selber sagt. Ihr Ehemann macht heute sein eigenes Ding. 

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Kölsch ist bekanntlich der einzige Dialekt, den man auch trinken kann. Von Erika will ich wissen, wie viele Kölsch sie heute schon getrunken hat. “Liebchen, das weiß ich nicht. Mehr als eine Handvoll. Das ist sicher”, sagt sie und lacht. 

20:43 Uhr – “Suff ausm Kiosk schont den Geldbeutel.”

Die Kölner Malte und Can, beide 20 Jahre alt, wollten zuerst in den Bars und Kneipen auf der Zülpicher Straße feiern. Doch der Löwe und der Astronaut trinken unweit entfernt auf einer Straße sitzend Schnaps und essen Stapelchips. “Suff ausm Kiosk schont den Geldbeutel”, meint BWL-Student Malte. 

23:29 Uhr – “Scheiß mal auf die drei Euro Becherpfand. Ich exe das Bier.”

In den Bars und Clubs auf dem Kölner Hohenzollernring zu feiern, ist mein Guilty Pleasure. Hier Karneval zu feiern, fühlt sich kommerziell und deshalb verboten an. Der 21-jährige Jannik aus Frechen erzählt mir, dass er Karneval hasst und damit nichts zu tun hat. Warum er trotzdem an Weiberfastnacht in Köln ist? “Was soll ich zu Hause machen? Ist doch langweilig”, sagt Jannik. Vor dem Giga-Center, einem mehrstöckigen Spielecenter mit Billardtischen, Box- und Glücksspielautomaten, verhandelt er die Getränkepreise neu. 

“Chef, wie viel kostet ein Bier?”, fragt Jannik. 

“Drei Euro für das Bier plus drei Euro Becherpfand”, antwortet der Mann hinter der mobilen Theke.

“Scheiß mal auf die drei Euro Becherpfand. Ich exe das Bier”, sagt Jannik und lässt auf seine Worte auch Taten folgen.

00:47 Uhr – “Ey, hast du eine Garro?”

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Feierabend

Durch eine Musikanlage dröhnt Techno, ein Dutzend Leute tanzt im Flutlicht. Ich bin am Aachener Weiher, einem künstlichen See im Inneren Grüngürtel Kölns. Nichts erinnert hier mehr an Karneval außer Konfetti und Glitzer zwischen kaputten Glasflaschen, Kippenstummel und leeren Pizzakartons.

“Ey, hast du eine Garro?”, schreit ein FBI-Agent mit großem Schmacht auf eine Kippe.

“Ja, hast du Feuer?”, will der andere Typ wissen. 

“Ja, hab ich”, antwortet der Agent.

“Ok, dann gib mal Feuer.”

“Ich hab kein Feuer.”

Beide blicken sich irritiert und wortlos an. Einen Moment später begeben sich die Zwei gemeinsam auf die Suche nach einem Feuerzeug, das schnell gefunden ist. Zur Verabschiedung klopfen sie sich gegenseitig auf die Schulter und bedanken sich für die erfolgreiche Zusammenarbeit.

02:29 Uhr – “Kneipe pack ich nicht. Muss kotzen.”

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Auch Joseph Beuys hätte es nicht schöner arrangieren können

Ich will in ein Brauhaus oder eine Kneipe, noch mehr Fanta-Korn trinken, mit meinen Freundinnen zu kölscher Musik schunkeln und süßen Leuten ein Bützje (ein Küsschen auf die Wange) geben. “Wer hat Bock auf Kneipe?”, schreibe ich meinen Leuten. Die Antworten sind ernüchternd:

“Kneipe pack ich nicht. Muss kotzen.” 

“Hahaha geh mal schlafen.” 

“Bin schon auf dem Weg nach Hause.”

Eine Abfuhr nach der anderen. Mit Blick auf die Uhr habe ich zwar nicht erwartet, dass noch viele Leute aktiv sind, aber ich habe es zumindest gehofft. Ich frage auch meine Freundin Lena, die an Weiberfastnacht bisher immer am Start war, ob sie mit mir in eine Kneipe geht. “Wenn du magst, holen wir uns ein Kioskbier. Aber sorry bei Kneipe bin ich raus.” LENA, ICH WILL KEIN KIOSKBIER!!! WARUM BIST DU BEI KNEIPE RAUS?? ICH BIN SAUER!!!

4:10 Uhr – “Ein Sprinter schafft keinen Marathon!”

Ich laufe noch ein paar Stunden durch die fast leeren Straßen der Stadt. “Ein Sprinter schafft keinen Marathon!”, hat Prinz Boris I. heute früh in der Hofburg gemahnt. “Teilt Eure Kräfte ein!” Wie es scheint, ist das Kölner Volk bereits am Ziel angekommen. Nichts läuft mehr. Und ich laufe nach Hause.

Ich war schon als Kind der Meinung, dass Karneval das beste Partykonzept der Welt ist. An Karneval laufen die Musikboxen auf maximaler Lautstärke, Alt und Jung tanzen gemeinsam in bunten Kostümen und es regnet wortwörtlich Süßigkeiten vom Himmel. Heute weiß ich noch viel mehr an Karneval zu schätzen. Denn der rheinische Straßenkarneval ist politisch. In diesem Jahr zeigen die großen Persiflagewagen des Kölner Rosenmontagszuges unter anderem wie die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel die Stiefel der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni leckt oder wie Russlands Präsident Wladimir Putin dem Teufel einen Bruderkuss gibt. Und ohne das Ehrenamt würde es gar keinen Straßenkarneval geben. Aus Köln kommen ehrenhafte Leute, die viel Zeit und Liebe in das Brauchtum Karneval investieren. Ja, es wird auch gesoffen. Manchmal auch ein Glas zu viel. Wer aber behauptet, beim Kölner Straßenkarneval geht es nur ums Saufen, hat ihn noch nie richtig gefeiert.

*Nicht alle Menschen, die wir beim Feiern angetroffen haben, wollten mit Verweis auf ihre Privatsphäre mit ihrem vollen Namen in diesem Artikel stehen. Deshalb nennen wir nur die Vornamen.

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