Ich habe auf einem Schweizer Blog einen Pädophilen getroffen, der mich in die Magersucht treiben wollte

Letzte Woche bin ich im Netz auf eine Pro-Ana-WhatsApp-Gruppe gestossen—also eine Gruppe junger Frauen, die Anorexie mit völliger Hingabe betreiben und Magersucht als Lifestyle-Phänomen sehen (und nicht etwa als die lebensgefährliche Krankheit, die sie ist). Dass sich dort Teenager gegenseitig tiefer in die Magersucht treiben, fand ich schon ziemlich schlimm. Doch mein Erlebnis in dieser Gruppe sollte nicht die kränkste Scheisse bleiben, die dieses Forum bietet.

Der Schweizer Blog skinnylicious ist ein kleines Paradies für Teenager, die mit Magersucht liebäugeln. Hier gibt es auch ein Forum, die sogenannte „Twinbörse”, wo diese jungen Menschen Anzeigen schalten, um nach anderen Mädchen zu suchen, die in etwa die gleichen Masse haben. Wer die Gruppentherapie vorzieht, kann sich einer der zahlreichen WhatsApp-Gruppen anschliessen. Plötzlich fiel mir in diesem Forum eine dritte Möglichkeit auf: Der Pro-Ana-Coach. Der selbsternannte Pro-Ana-Coach inserierte: „Willst du abnehmen? Lieber skinny als schlank sein? Ich kann dir helfen.” Danach stand noch etwas von einer professionellen Tätigkeit als Pro-Ana-Coach, langjähriger Erfahrung und dass er diese Coachings nur aus Nächstenliebe anbieten würde. Er gab auch eine Telefonnummer an, die man aber nur anschreiben solle, wenn man es auch wirklich bitterernst meine. Natürlich wollte ich alle Tiefen der Pro-Ana-Community kennenlernen, also kontaktierte ich ihn via WhatsApp.

Videos by VICE

Ich schrieb meinem potenziellen Coach, dass ich gerne Ana, also magersüchtig, werden wolle. Ausserdem erwähnte ich, dass ich 15 Jahre alt sei und es todernst meine. Es ging einen knappen Tag, bis Andree—unter diesem Pseudonym stellte sich der Coach bei mir vor—sich zurückmeldete. Ich fragte ihn, welches Gewicht er mir denn empfehle. Daraufhin erklärte mir Andree, er müsse zuerst Bilder von mir in Unterwäsche sehen, um das beurteilen zu können. Ich wurde hellhörig.

Andree hatte mir geschrieben, dass er 25 Jahre alt sei. Ein erwachsener Mann will also ein 15-jähriges Mädchen aus purer Nächstenliebe in die Magersucht treiben—und braucht dafür auch noch intime Bilder? Ich beschloss, das Spielchen eine Weile mitzuspielen, und schickte dem „Coach” Bilder, die ich zuvor im Internet gefunden hatte. Ein Bild eines dünnen, sehr jungen Mädchens. Es hätte den BH, den es auf dem Bild trug, noch nicht wirklich gebraucht. Andree schien zu gefallen, was er sah. Er willigte ein, mich zu coachen, stellte aber auch gleich eigene Bedingungen.

Ich konnte kaum glauben, was ich da las. Dieser Irre wollte mir weismachen, dass ich mich intim erniedrigen lassen müsse, um mich auf die Magersucht einzulassen. Dieser Zusammenhang ist so absurd und diese Aussage war so offensichtlich aus niederen Motiven geboren, dass mir beinahe schlecht wurde. Hier geht ein Mann im Internet auf Jagd nach labilen Teenagern, von denen die meisten schon eine Essstörung haben, an Depressionen leiden oder sich ritzen. Die Teenager, mit denen ich eine Woche im Pro-Ana-Gruppenchat geschrieben hatte, waren von Selbsthass gezeichnet und wollten täglich hören, wertlos und fett zu sein. Dieser Mensch nutzt eine gefährliche Krankheit zu seinen eigenen, ekelhaften Gunsten aus, nämlich um an intimes Bildmaterial von Minderjährigen zu kommen.

Ich riss mich also am Riemen und beschloss, noch weiter zu gehen. Der selbsternannte Coach wollte schliesslich mit mir telefonieren. Ich setzte meine piepsigste Stimme auf und antwortete kurzangebunden. Ob ich denn verstanden hätte, was er mit intim meine. Ich bejahte. Dann erklärte er mir: „Ich muss mich versichern, dass du reif genug für mein Coaching bist. Ich werde dir also ein paar Fragen stellen und dir anschließend Aufgaben schicken, die du erfüllen musst.” Er fragte mich, seit wann ich keine Jungfrau mehr sei. Er fragte mich, ob ich Selbstbefriedigung praktiziere. Er fragte mich, ob ich schon mal Analsex gehabt habe. Während meine Magengrube immer flauer wurde, stammelte ich Antworten vor mich hin und versuchte, meinen Ärger nicht überkochen zu lassen. Als ich das Telefongespräch überstanden hatte, schickte er mir die Aufgaben zu, die ich zu erledigen hatte.

Ich gab dem Typen die Antwort, die er hören wollte und beschloss, nach dem Experiment sofort die Polizei einzuschalten. Als ich noch einmal auf die Internetseite mit der Anzeige des Pro-Ana-Coachs ging, erschrak ich aufs Neue. Andree war nicht der einzige. Als ich zuvor lediglich auf der Suche nach einer passenden Pro-Ana-WhatsApp-Gruppe gewesen war, hatte ich die vielen Anzeigen von selbsternannten Coachs nicht bemerkt. Jetzt schien es aber, als hätten Pädophile einen neuen Weg gefunden, um an psychisch labile Teenager heranzukommen. Mir fiel auf, dass die Anzeigen, in denen nach einem Ana-Twin oder WhatsApp-Gruppen gesucht wurde, ausnahmslos von Mädchen aufgegeben wurden. Nur die Pro-Ana-Coachs waren immer männlich, alle waren über 20 Jahre alt oder gaben ihre Identität erst gar nicht preis.

Für mich war nicht nur schwierig, ihre Motive nachzuvollziehen, sondern auch, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten. Gehen Pädophile auf Pro-Ana-Seiten auf Beutejagd, weil die jungen Mädchen dazu neigen, eher wenig Selbstwert zu haben? Oder fühlen sich Pädophile von unglaublich dünnen, knochigen Körpern stärker angezogen? Kann es sein, dass Pädophile gezielt nach solchen Teenagern suchen, deren Körper durch die Magersucht mehr denen von Kindern gleicht? Mitten in meinen Recherchen machte sich mein persönlicher Coach wieder bemerkbar. Er konnte wohl nicht mehr bis zum Abend auf die von ihm geforderten Nacktvideos warten.

Diese Aufforderung gab mir den Rest. Schülerin. Nun stand dieses Ekelpaket komplett zum ungleichen Machtverhältnis und war vom Coach plötzlich zum Lehrer und Herren geworden. Ich konnte kaum glauben, dass er sein Vorgehen immer noch damit begründete, dass er mir beim Abnehmen helfen wolle. Ich sog mir eine Ausrede aus den Fingern, seine Klo-Challenge zu umgehen und noch nicht aufzufliegen. Andree schien aber so geil auf meine 15-jährige, fiktive Figur zu sein, dass er dachte, mich mit einem „echten” Coaching doch noch ködern zu können. Er erklärte mir, dass seine Coachings dann am effizientesten wären, wenn ich ihn in Frankfurt besuchen käme. Der Typ hatte mir bereits erklärt, dass ich nur Erfolg mit der psychischen Krankheit haben würde, wenn ich mich voll und ganz auf Ana einlassen könne. Er hatte mir gesagt, dass ich dafür hart und intim erniedrigt werden müsse. Er hatte mir sein wahres Gesicht gezeigt. Dass mir eine Woche „Einzeltherapie” bei diesem Typen einen psychischen Knacks bescheren würde, steht ausser Frage. Ich möchte mir kein 15-jähriges Mädchen vorstellen, das mit der Absicht, dünn zu werden, zu einem erwachsenen Psychopathen in eine fremde Stadt fährt.

Am Abend schrieb ich der deutschen Kriminalpolizei eine E-Mail, in der ich sie über den Blog, meinen Selbstversuch und Andree informierte. Ich weiss, dass es noch mehr von diesen Andrees und noch mehr solcher Blogs gibt. Grundsätzlich sollte man sich über die Gefahren solcher Blogs Gedanken machen. Es ist traurig, dass Kinder und Jugendliche auf magersuchtverherrlichenden Blogs präzise Brech-Anleitungen finden können. In Frankreich ist im April 2015 ein Gesetz beschlossen worden, welches die Verbreitung von solchen Inhalten mit Gefängnis bestraft. Dass diese Plattformen aber auch Pädophilen einen Tummelplatz bieten, ist noch viel alarmierender. Die deutsche Kriminalpolizei hat mittlerweile Interpol eingeschaltet und es wird jetzt auf internationaler Ebene ermittelt.

Nadja auf Twitter: @nadjabrenn

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild: Charlotte Astrid | Flickr | CC BY 2.0