Corona geht weiter. Wir warten weiter. Manchmal weiß ich gar nicht worauf. Ein Leben danach scheint so unerreichbar. Ich bin schlecht im Warten. Ich bin Liedervorspulerin. Ich bin so ungeduldig, dass ich bei all meinen Lieblingssongs die exakte Sekundenzahl kenne, bei der der Song richtig gut wird. “No Love” von den Death Grips: 00:49. “Hung Up” von Madonna: 00:45. “Poor Fake” von Kelsey Lu: 03:37. Doch die Coronakrise kann ich nicht einfach vorspulen. Heute will ich einen Tag in Warteschleifen verbringen und das Warten lernen.
Ich rufe bei einem Energieversorger in Niedersachsen an. Das Technikmagazin Chip sagt, dass da die Wartezeiten besonders lang seien. Ich höre Klaviermusik. Der Musiker scheint besonders leidenschaftlich in die Tasten zu hauen. Ich fühle mich wie in einer deutschen Rom-Com. Berlin. Es regnet. In diesem Moment merke ich, dass ich Sam (kurz für Samuel), der ein eigenes Café betreibt, nicht hätte abservieren sollen. Er war zwar mit seiner Ex beim Power-Yoga, aber eigentlich liebe ich ihn und die Art, wie er den Matcha-Latte zubereitet. Und dann folgt ein Zusammenschnitt, wie ich durch den Regen renne. Nach zwölf Minuten ist die Szene zum Glück vorbei.
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Ich erzähle der Frau am Telefon, dass ich heute einen Tag in Warteschleifen verbringe. Ich frage sie, ob sie während Corona auch gerade auf etwas wartet.
“Auf die Kunden.”
Beim Warten darauf, dass ich noch etwas erlebe, bin ich vor ein paar Tagen raus, um mir ein Bier zu kaufen. Passiert ist dann nichts. Die Späti-Tür ist jetzt aber immer zu, weil es kalt ist. Ein paar Häuser weiter haben zwei Männer- und eine Frauenstimme aus voller Kehle gesungen, zu einem Lied, das ich vorher nicht gekannt habe: “Verlorenes Leben!” Das stimmt wohl.
Bei DHL fordert mich eine Stimme dazu auf, mein Anliegen in einem Stichwort zusammenzufassen. Doch meine Stille ist ihr zu undeutlich.
“Wir können nicht verstehen, worum es geht.”
Als ich dann doch einen Kundenbeauftragten ans Telefon bekomme, geht es ihm ähnlich. Ich erzähle ihm, dass ich an einem Text über das Warten schreibe und wissen will, wie es in der DHL-Warteschleife so ist.
“Können Sie mir erstmal Ihre Sendungsnummer nennen, bitte?”
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Dass bei Hermes keine Klaviermusik spielt, sondern Gitarre, freut mich sehr. Die Musik wird immer wieder durch eine Stimme unterbrochen, die mich daran erinnert, dass auf der Website die Antworten auf die meistgestellten Fragen zusammengefasst sind.
Während ich noch in der Warteschleife festhänge, stelle ich mich vor den Spiegel und schaue mir meine Augenringe an. Irgendwann zwischen Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht sind sie gekommen. Und jetzt warte ich, bis sie wieder weggehen. Vielleicht geht so Älterwerden: für immer warten, dass die Augenringe wieder gehen. Léa Seydoux kriegt das mit ihren Augenringen irgendwie ganz gut hin. Aber mein Französisch ist schlecht und mit James Bond will ich nicht knutschen.
Nach 5 Minuten und 12 Sekunden wird mein Telefonat abgebrochen.
Die Warteschleifenmusik von TUI ist sehr treffend gewählt. Sie klingt so, als würde sie auch eine Eisteewerbung untermalen können. Am Strand spielen junge Leute mit langen Haaren und Beinen Volleyball. Irgendwie beruhigt es mich, Probleme zu erfinden. Ich rufe bei einem Reiseunternehmen an und mache mir kurz keine Sorgen, dass ich mir vorhin beim Einkaufen beim Griff zur Kichererbsendose das Virus eingefangen habe. Stattdessen sorge ich mich darum, ob mein erfundener Urlaub im Mai wohl stattfinden wird.
Nach einer Wartezeit von mehr als drei Minuten nimmt mir die Frau am anderen Ende der Leitung mit einem Wort alle Sorgen: Reiserücktrittsversicherung. Damit sollte ich dann keine Probleme haben.
“Wohin soll ich denn reisen im Mai? Gibt’s da beliebte Destinationen?”
“Kanaren. Balearen.” Sie überlegt kurz. “Griechenland ist auch stark im Kommen.”
Zwischen dieser und der nächsten Pandemie will ich mich noch in die Sonne legen. Dann beschwere ich mich kurz nicht über fehlende Maßnahmen gegen Corona, sondern über Dinge, die wirklich wichtig sind. Steinstrände oder den Sonnenbrand zwischen meinem Pony und den Augenbrauen.
Ich rufe ein Versicherungsunternehmen in der Schweiz an. Ausnahmsweise ist der Song, der mir die Wartezeit versüßen soll, nicht einfaches Saitengeklimper, sondern ein richtiges Lied. Eins, das man kennt. Nämlich “Free Falling” von John Mayer. Es ist jedoch so abgehackt, dass es so klingt, als würde John Mayer nach jedem dritten Wort sein Mikro in die Menge halten, damit seine Fans die Zeile zu Ende singen. Diese Warteschleife weiß, wie man Stimmung macht. Es dauert 5 Minuten und 36 Sekunden, bis ein Mann, der nicht John Mayer ist, mit mir spricht. Ich erkläre ihm, dass ich Journalistin bin und den heutigen Tag mit Warten verbringe. Wir warten ja gerade so viel wegen Corona.
“Warten Sie auch auf etwas?”
Der Fall ist für ihn klar: bessere Zeiten, besseres Wetter, Lottogewinn. “Oh, und dass ich pensioniert werde. Ich hoffe auch auf einen Bonus.”
“Ich finde, den hätten Sie auch verdient.”
Er erzählt mir, dass Leute in Corona-Zeiten ungeduldiger seien. Dann sprechen wir über die Ostschweiz, weil er meinen Dialekt erkannt hat, und später über seine Freunde in Berlin.
“Sie sind der erste, der so lange mit mir spricht.”
“Ich freue mich über die Abwechslung. Ich finde es entspannend, dass ich mit jemandem sprechen kann, der keinen Schaden melden will oder so.”
Ich bedanke mich und wünsche ihm einen schönen Abend.
“Bleiben Sie gesund und genießen Sie, was Sie genießen können”, sagt er mir zum Abschied.
Mein Mobilfunkanbieter ist als nächster dran. Die Warteschleifenmusik wechselt zwischen Slapstick-Soundtrack und “Ich spüre meine innere Mitte”-Ambient. Die Kundendienstmitarbeiterin erzählt mir nach einem fünfminütigen musikalischen Schleudertrauma, was sie gerade vermisst: “Eigentlich nichts. Vielleicht vermisse ich, ins Restaurant zu gehen. Ich würde gerne mit Freunden was Trinken gehen.”
Bei einer Website, die Konzerttickets weiterverkauft, will ich wissen, wie geil wohl das Bikini-Kill-Konzert im Sommer wird – wenn es denn stattfindet – und ob es sich lohnt, ein Ticket zu kaufen. Warten ist besser mit Vorfreude. Die Stimme fragt mich in gleichmäßigen Abständen, ob ich meine Bestellnummer eintippen kann. Kann ich nicht. Also warte ich.
Bei SWISS Airlines will die Kundenbeauftragte gerne reisen.
“Klar. Ich arbeite ja bei einem Reiseunternehmen.”
Und wohin?
“Argentinien. Das ist das einzige Land in Südamerika, das ich noch nicht bereist habe.”
Manchmal vermisse ich, mir über belanglose Dinge Sorgen zu machen wie vor Corona. Zum Beispiel über rote Wangen. Meine Kosmetikerin sagt, ich hätte eine Gewebestörung im Gesicht. Das hätten viele Frauen. Wenn ich dann alt bin, werden meine Wangen superrot sein. Als ich bei ihr im Studio auf dem Stuhl saß, habe ich genickt. Während mich das grelle Licht, mit dem sie mir ins Gesicht leuchtete, blendete, überlegte ich mir, was ich darüber denken soll. Wenn ich dann alt bin, will ich mir sowieso nur den ganzen Tag Baustellen anschauen oder mich fragen, wann meine Augenringe endlich weg sind. Und das kann man auch mit rotem Gesicht.
Es fühlt sich an, als würden wir alle gerade jeden Tag das Schicksal der Welt auf unseren Schultern tragen. Und trotzdem ist da dieses Gefühl totaler Machtlosigkeit. Ich warte, bis ich wieder vor etwas Anderem Angst haben kann.
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