Ich habe mich drei Tage lang nur von dem ernährt, was ich an Zürichs Wegrändern fand

Ende des 18. Jahrhunderts deklarierte Zürichs Oberschicht die Produktion von Nahrungsmitteln in der Stadt als rückständig. Also wurden die Obstgärten zu Ziergärten umbepflanzt, die Parks neu gestaltet und zu ausschliesslichen Erholungsräumen erklärt. Manchmal, wenn ich früh morgens entlang Zierbäumen, Betonmauern und Leuchtschriften ans andere Ende der Stadt nach Hause spaziere, ohne Geld und ohne Nahrung, träume ich von essbaren Parkanlagen.

Mit ihren 44 km² zu verwaltender Grünfläche hätte es in der Stadt eigentlich auch viel Platz für Essbares. Tatsächlich hat Grün Stadt Zürich meinen Traum letztes Jahr teilweise wahr gemacht: Sie bepflanzte die Stadt mit Essen—Mangold auf den Verkehrsinseln, Kraut und Kohl in den Rabatten. Laut Lukas Handschin, Kommunikationsbeauftragter von Grün Stadt Zürich, waren die Pflanzen aber nur zur Zierde gedacht. Die Bevölkerung sowie die Touristen sollten ja keine abgeräumten Rabatten vorfinden.

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Auf meine spontane Idee, in Zukunft die Quartierler selbst ihre Kreisel bepflanzen zu lassen, weist mich Herr Handschin auf die Schrebergärten hin, welche für solche Anliegen zu Verfügung stünden. Von diesen privaten Zellen gibt es in Zürich über 5500 Stück, aber nur unter der Bedingung einer dreistellige Jahresmiete und einer Warteliste, in die man sich eintragen darf. Jedes Jahr werden jedoch ein paar Hundert dieser Zellen durch Wohnungen ersetzt. Eher Luxusappartements als bezahlbarer Wohnraum, wohlverstanden.

Sei es eine Antwort auf die systemische Krisenhaftigkeit des Kapitalismus oder einfach weil Selbstversorgung gerade ziemlich hip ist: es gibt dafür immer mehr Quartiergärten und Plätze für öffentliches, kollektives Gärtnern. Aber auch diese Versuche sind meist temporär; Zwischennutzungen, die bald einer aufwertenden Stadtentwicklung weichen müssen.

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Aber ist es auch möglich, diese Stadt jenseits von Besitzverhältnissen von Grund und Boden zu ernten? Drei Tage Ernährung von Zürichs wildem Wegrand:

Tag 1: Auf in die Botanik!

Wecker läutet, Magen knurrt, Kühlschrank ist voll. Aber nicht für mich. Euphorisch stopfe ich ein halbes Dutzend Plastiksäcke sowie ein Messer in den Rucksack und fühle mich bereit für die 1’200 Pflanzen, welche in der Stadt wachsen. Gemächlich stosse ich das Fahrrad der Strasse entlang, begutachte misstrauisch jedes Grün und wünsche meine Mitbewohnerin her, bei der Bestimmung von Wildpflanzen Teil des Studiums ist. In meinem Kopf tauchen Bilder der letzten Lebensmittelvergiftung auf und ich male mir ein bisschen eingeschüchtert die Folgen eines giftigen Wildpflanzenfrühstücks aus—da stehe ich plötzlich vor einem Holunderstrauch. Einen Augenblick später sind die ersten zwei Plastiksäcke voll mit schwarzen Beeren zum einkochen. Ich bin jetzt zwar zu spät dran und immer noch hungrig, dafür aber motiviert.

Nach einer wilden Minze, Spitzwegerich und Brombeerblättern, finde ich an einer Kreuzung in Wiedikon einen der 10’000 Obstbäume, die in Zürich wachsen. Gierig pflücke und esse ich fünf saure, saftige Äpfel. Grossartig!

Während am Nachmittag der Holunder einkocht und eine Kanne Brombeerblätterpfefferminztee auf dem Tisch steht, präsentiere ich meinen Mitbewohnerinnen stolz die vollen Plastiksäcke: Äpfel, Quitten, Pfefferminze, Rosmarin, Brombeeren, Haselnüsse, Holunder.

Ein paar Stunden später breitet sich wieder ein Hungergefühl aus. Ich werfe dem Kühlschrank einen kurzen, sehnsüchtigen Blick zu und kämpfe mich widerwillig aus dem Sessel. Zwischen Menschen, welche in atmungsaktiver Kleidung ihre Oberschenkelmuskulatur dehnen, Hunden und Spaziergängern, stosse ich im Halbdunkel schliesslich auf Brennesseln und Hagebuttensträucher. Kaum Zuhause, schlafe ich irgendwo zwischen Wildkräutersalat und Brennesselspinat auf dem Sofa ein. Das Leben einer Sammlerin ist hart.

TAG 2: EUPHORIA, DIE FRUCHTBARKEIT

Zum Frühstück gibt’s Müsli aus Äpfeln, Brombeeren, Haselnüssen und eingekochtem Holunder. Dann steige ich satt und zufrieden aufs Fahrrad und kollidiere beinahe zweimal mit Strassenschildern, weil meine Augen abwechselnd Boden oder Baumkronen nach Essbaren absuchen. Schliesslich bin ich schon wieder zu spät, weil ich zehn Minuten auf der Strasse kriechend Buchennüssli gesammelt habe.

Mir wird klar: Sammeln braucht viel Zeit und ist verdammt viel Arbeit.

Auf dem Weg nach Hause bleibe ich in Wipkingen bei einem Gemeinschaftsgarten stehen. Auf dem Holztisch neben den hochgewachsenen Stauden liegen zwei grosse Kürbisse, ein paar Äpfel und ein Kässeli. Ein Experiment, das seinen Platz im Kapitalismus für Schönes freigibt. Eine farbige Insel von Vielfalt, Profitverweigerung und Gemeinschaft—aber auch eine Isolation. Ich seufze leise und fahre davon: Das gilt nicht, ist nicht wild genug.

Ein paar Strassen weiter stosse ich dafür auf kaum überbietbare Wildheit: Vor mir steht ein imposanter Feigenbaum mit hunderten von Früchten. Begeistert richte ich in einer meinem Fund entsprechenden Lautstärke eine hochgestochene Dankesrede an das Gewächs, sodass sich einige Menschen umdrehen. Ich gehe vor dem Feigenbaum auf und ab und dann irgendwie in ihn hinein, pflücke und merke erst als ich wieder aus dem Baum heraustrete, dass mich immer noch Menschen mit fragender Miene beobachten. Erst als ich ihnen mit ehrlicher Euphorie entgegenrufe: „Ein Feigenbaum!” und mich leicht vor den grünen Blättern verbeuge, gehen sie mit ausdrucklosem Gesichtern davon.

Zuhause steigert sich mein Begeisterungsgrad noch mehr, als ich eine Sonnenblume geschenkt bekomme, die neben einem Zierbaum am Strassenrand gepflückt wurde. Während dann in der Wohnung Linseneintopf gegessen und feinstes schottisches Bier getrunken wird, nippe ich an meinem Brennesseltee und knabbere Sonnenblumenkerne. Naja.

Tag 3: Aus dem Sammlerkosmos

Es ist früh, ich bin müde, die Mokkakanne steht auf der Herdplatte. Nein. Für mich gibt es Tee. Lindenblüten, Ringelblume, Brombeerblätter. Ich hole mir ein paar Birnen vom neuen Baum meines Vertrauens und entdecke wildes „Rüeblichruut” neben dem Kiesweg.

Vor der Bibliothek knabbere ich ein paar eingekochte Quittenschnitze mit Minze und verfluche jede der faulen, aber mühsam aufgeknackten Haselnüsse einzeln. Es riecht nach Risotto, nach Pizza und Ratatouille. Später entdecke ich auf einer Industriebrache bei der Binz eine Weinrebe. Ich esse gefühlte zwei Kilo Trauben, fülle einen Sack mit Weinblättern zum Einlegen und zwei Säcke mit den Beeren zum Pressen und gären lassen.

Am Abend werfe ich die gesammelten Stecknadelgrossen Früchte des Lindenbaums, die weder schmecken, noch nicht schmecken in die Pfanne, koche Quitten ein, entkerne Hagebutten und knacke ein paar Nüsse.

Dann ziehe ich mein Fazit: Ich geniesse meinen kleinen, romantischen Sammlerkosmos noch immer, wurde meistens satt und hatte aber manchmal Lust auf Brot, auf Schokolade—aber vor allem auf gutes Bier. Gutes Bier für alle!

Abgesehen davon, dass Arbeitsteilung etwas Grossartiges ist, ist es natürlich auch ziemlich pathetisch, als Einzelperson in unserem System gegen die Profitwirtschaft anzukämpfen und mit Sammeln den immer hungrigen Konzernen zu entfliehen. Aber es geht. Natürlich leben wir heute nicht mehr in einer Stadt, die genügend natürliche Quellen aufweist, um uns alle zu ernähren. Aber für mich alleine ging’s ganz gut. Gemeinschaft ist eine grossartige Sache und genauso wie sich Wildpflanzen nicht ausrotten lassen, sondern überall wieder einen Weg finden, liegt es an uns, immer wieder Freiräume für Wildwuchs, Diskurs und Vielfalt in dieser Stadt zu erobern und zu nutzen.

Auf Fürsorge und Vorsorge und eine nicht nur profitorientierte Versorgung. Prost!

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