Ich habe versucht, einen Pädophilen zu verstehen

Zwei Bilder: Oben nicht erkennbare Kinder, unten die untere Hälfte eines Männergesichts, symbolisch für einen Pädophilen

Silas ist ein grosser, ruhiger Mann. “Ich wollte es schon lange sagen. Aber wann sollte ich…” Silas stockt. “Wie will ich…”. Er schweigt. Silas sitzt mir in einem Therapiezimmer gegenüber und erzählt, wann er sich das erste Mal geoutet hat. Es scheint ihm nicht leicht zu fallen, die richtigen Worte zu finden.

Silas war 13, als er sich zum ersten Mal in einen 10-jährigen Jungen verliebte. Silas wurde älter. Doch die Jungs, die er gut fand, blieben Kinder. Als er 16 war, stellte sein Arbeitgeber Aggressionsprobleme im Verhalten des jungen Mannes fest. Und Silas begann seine erste Therapie.

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Silas heisst nicht wirklich Silas. Aber weil er sich vor den Konsequenzen eines öffentlichen Outings fürchtet, nennen wir ihn hier so. Er ist heute 29 Jahre alt und wird seit 13 Jahren von seiner Therapeutin Monika Egli-Alge betreut. Sie ist eine warme Frau mit einem freundlichen Gesicht und einem rollenden “R” – sie kommt aus der Ostschweiz. Sie ist einer der Menschen, bei denen man sich direkt wohl fühlt. Auch Silas war sie direkt sympathisch. Wenn er das Bedürfnis zum Reden hat, setzt er sich bei Egli-Alge auf das grosse graue Sofa im Therapiezimmer mit den Holzbalken. In der letzten Sitzung seiner Aggressionstherapie traut er sich: “Ich bin pädophil.”

Es gibt Menschen, die Silas aufgrund dieser Tatsache nicht mehr als ebenbürtiges Mitglied der Gesellschaft sehen. Die Mikado-Studie, eine Studie über den Missbrauch von Kindern, hat 2015 gezeigt, dass die Hälfte der Deutschen findet, man sollte Pädophile für immer wegsperren. Ein Viertel findet, Menschen wie Silas haben kein Recht darauf zu leben.


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Monika Egli-Alge sieht das nicht so. Sie ist nicht nur Silas Therapeutin, sondern auch Leiterin der Einrichtung, in der er Hilfe bekommt. Das Forio Institut in der Ostschweiz ist zum einen eine Therapieeinrichtung, das Gutachten zu psychischen Störungen erstellt, die auch vor Gericht verwendet werden. Zum anderen ist es dem “Kein Täter werden”-Projekt der Berliner Charité nachempfunden. Im Flur hängen Plakate mit der Aufschrift: “Lieben Sie Kinder mehr, als Ihnen lieb ist?” Das Institut bietet Menschen Hilfe an, die auf Kinder gerichtete Fantasien haben, aber keine Übergriffe begehen wollen und darum Hilfe suchen.

Pädophilie ist eine Störung der sexuellen Präferenz. “Wie genau Pädophilie entsteht, weiss man bis heute nicht genau”, sagt Silas’ Therapeutin. “Man geht davon aus, dass etwa ein bis fünf Prozent der männlichen Bevölkerung pädophil sind.” Natürlich können auch Frauen pädophil sein. Wie aber die Charité in ihrem Projekt schreibt, wurde über die Jahre nur bei einer Frau, die sich bei dem Projekt gemeldet hatte, Pädophilie diagnostiziert.

Wie es ist, wenn du weisst, dass andere dich für deine Neigungen für ein Monster halten?

Bei sexuellem Missbrauch von Kindern denkt man erstmal an Pädophilie. Dabei sind laut “Kein Täter werden” von allen Menschen, die Übergriffe auf Kinder begangen haben, nur etwa 40 Prozent pädophil. Bei einem Grossteil der Übergriffe handelt es sich um sogenannte Ersatzhandlungen. Das heisst, die Täter werden sexuell eigentlich von Erwachsenen erregt, vergehen sich aber beispielsweise aufgrund einer Persönlichkeitsstörung an einem Kind. Bei Silas ist es genau andersherum: Er ist pädophil, ist aber nach eigenen Aussagen noch nie straffällig geworden. Auch Darstellungen von Missbrauch, Kinderpornografie, habe er noch nie konsumiert, sagt er.

Silas ist kernpädophil. Während Menschen, die “nur” pädophile Neigungen haben, auch Erwachsene anziehend finden können, interessieren sich Kernpädophile wirklich nur für Kinder. Silas verliebt sich ausschliesslich in Jungen zwischen 8 und 13 Jahren.

“Wie findest du es, wenn jemand an Sex mit Kindern denkt, wenn er sich selbst befriedigt?”

Er schaut kurz zur Seite und dann zu mir. Er hat ein rundes Gesicht, strubbelige Haare und trägt Jeans und T-Shirt. Er wirkt zurückhaltend und höflich. Er erinnert mich an Jungs, die auf dem Land in einer Kneipe am Stammtisch sitzen. So ist dann auch seine Art, sobald man mit ihm spricht: recht schlagfertig und offen.

Auf Silas Frage fällt mir auf Anhieb keine richtig gute Antwort ein. Dass er daran denkt, finde ich befremdlich.

Ich finde, Kinder sind die schützenswertesten Geschöpfe in unserer Gesellschaft. Und: Missbrauch ist in jedem Fall falsch. Kinder zu sexualisieren, ist meiner Meinung nach mindestens verwerflich.

Mein innerer Kompass sagt: “Das ist nicht richtig.” Andererseits: Das Reich der Fantasie gehört einem selbst. Niemand kommt dabei zu Schaden, wenn Silas sich Sex mit Kindern vorstellt. Und Kinder anziehend zu finden, hat er sich ja auch nicht gewünscht. Es ist einfach so. Kann man ihn dafür verurteilen?

“Es muss immer Fantasie bleiben”

Silas Eltern wissen, wieso er ins Forio Institut geht. Gemeinsam mit Monika Egli-Alge hat er es ihnen in einer Sitzung gesagt. “Ich hätte es mir auch sparen können”, sagt er rückblickend. Sie hätten zwar überrascht reagiert, aber sie würden bis heute nicht mit ihm darüber sprechen wollen.

Silas Realität sieht anders aus. “Ich denke jeden Tag daran. Leider Gottes”, sagt er und seufzt. “Aber es muss immer Fantasie bleiben.” Fragt man Silas, wie sich diese Fantasie für ihn anfühlt, sagt er: “Es ist eine Liebe wie von Mann zu Frau. Nur einfach, dass ich ein Mann bin und mein Gegenüber wäre ein Junge.” Aber Silas weiß, dass diese Liebe nicht auf Gegenseitigkeit beruhen könnte. Niemals. “In der Realität geht das einfach nicht. Das wäre nicht fair.” Das ist es auch nicht. Ein Kind ist nicht auf der gleichen Entwicklungsstufe wie ein erwachsener Mensch. Ein Kind kann nicht in eine sexuellen Beziehung einwilligen, da es nicht wissen kann, was das bedeutet und beinhaltet.

Niemand kann etwas für seine Sexualität, aber jeder ist für seine Taten verantwortlich

Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber Silas ist mir sympathisch. Er hat etwas Unbeschwertes und selbst fast etwas Kindliches. Er lacht viel und hat eine unkomplizierte, direkte Art. Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man seine Sexualität nicht ausleben kann. Wenn man jeden Tag damit konfrontiert wird, seine Triebe zu kontrollieren. Wenn man in der Gesellschaft dafür geächtet würde, wenn man es nicht täte. Aber Silas scheint kein gebrochener Mann zu sein. Vor mir sitzt kein Mensch, der gezeichnet ist oder offensichtlich leidet.

Er hat diesen Teil von sich akzeptiert. Er empfindet keine Reue. Und ich glaube, genau das ist es, was mich irritiert.

Silas macht eigentlich alles richtig. Er geht zur Therapie, konsumiert keine Missbrauchsdarstellungen, kommt Kindern nicht zu nahe. Dennoch erwarte ich, dass er sich schämt. Aber wie soll jemand für etwas Reue empfinden, das er sich nicht ausgesucht hat? Wie soll jemand für etwas Reue empfinden, wenn er noch nie etwas gemacht hat, das es zu bereuen gäbe? Und genau hier zeigt mir das Gespräch mit Silas meine eigenen Vorurteile.

Silas hatte einmal eine Beziehung mit einer Frau. Doch er hatte kaum Interesse an ihr. “Ich habe viel lieber geschlafen, als mich mit ihr zu treffen”, sagt er heute darüber. Es gebe zwar Frauen in seinem Alter, die er sympathisch fände. “Aber da ist wirklich null Gefühl dabei. Ich weiss, ich werde immer alleine sein. Das macht mich manchmal schon traurig.” Diese Gefühle sind isolierend. Sie machen Silas einsam.

Wenn sich Silas so fühlt, dann trifft er sich mit seinen Freunden, um wandern zu gehen oder ein Hockeyspiel zu schauen. Silas ist nicht nur pädophil. Er ist auch Sohn, Freund, Kumpel, Kollege, Hockeyfan, Gamer.

Silas steht zu seiner Pädophilie. Seinen Freunden hat er es gesagt. Sie hätten alle sehr cool darauf reagiert. “Sie meinten erst, ich mache einen Scherz. Als ich mich dann aber erklärt habe und meinte, dass ich auch deswegen in der Therapie bin, und auf ihre Fragen eingegangen bin, meinten sie anschliessend: Und jetzt, was gibt es zum Abendessen?” Silas lacht und wirkt gelöst. “Es wäre schön, wenn ich es allen sagen könnte, aber das wird nie der Fall sein.” Bei Personen, die Silas nicht gut kennen, bleibt er vorsichtig.

Darum hat sich Silas auch entschieden, mit mir zu sprechen. Anfangs habe er sich stark mit sich selbst beschäftigt, sagt Egli-Alge. “Da kamen auch diese Fragen auf: Wie soll ich so leben? Wie bewege ich mich trotz dieses Schicksals in der Welt? Das war alles ein langer Prozess und nicht immer so einfach wie jetzt.” Jetzt sei sein Prozess eher nach aussen gerichtet; er möchte auch die Gesellschaft sensibilisieren, sich für Menschen wie sich selbst einsetzen, die pädophil sind, aber noch nie ein Kind missbraucht haben.

Inzwischen ist Silas so weit, dass auch Situationen wie das Freibad kein Problem für ihn sind. Er sagt: “Schauen darf man, gekocht wird zu Hause”. Dann lacht er.

Das ist zu viel. In mir macht sich wieder dieses Gefühl breit: Wie kann er darüber Witze machen? Schämt er sich nicht?

Andererseits: Wenn ich ins Schwimmbad gehe und Männer sehe, die ich attraktiv finde, belästige ich sie ja auch nicht. Wieso glauben wir das dann von Pädophilen? Hat es mit einem Männerbild zu tun, das in der Gesellschaft noch teilweise herrscht? Dass Männer ihren Trieben völlig unterworfen sind und sich demzufolge nicht beherrschen können?

“Das ist ein Punkt”, sagt Egli-Alge. “Bei Pädophilen ist das doppelt der Fall; da denkt die Gesellschaft automatisch an Sexualstraftäter.” Und sie fügt an: “Jeder Mensch begehrt.”

Und daran ist an sich ist auch nichts falsch. Silas sagt: “Es ist ein Teil von mir.”

Wie soll die Gesellschaft mit Menschen wie Silas umgehen? Mir wird nach dem Gespräch noch klarer: Das, was Silas macht, ist wichtig. Es ist wichtig, dass sich Pädophile outen und darüber sprechen. Nur so können wir Vorurteile über sie abbauen.

Und doch: Hätte ich einen Sohn, ich würde ihn wohl nicht in Silas Obhut lassen.

Aber das heisst nicht, dass man seine Freiheit einschränken sollte. Das heisst nicht, dass er es nicht verdient hat, dass man ihm mit Respekt begegnet. Das heisst nicht, dass er nicht trotzdem ein guter Mensch sein kann.

Wir alle haben Seiten an uns, die unschön sind. Wir alle haben Abgründe. Aber es ist eine Frage, wie wir damit umgehen. Am Ende sind es die Entscheidungen, die wir treffen, die zeigen, wer wir sind.

Wenn du selbst das Gefühl hast, eine pädophile Neigung zu haben oder Informationen zum Thema möchtest, kannst du dich für Deutschland beim Projekt Kein Täter werden der Charité melden. Hier gibt es auch ein Angebot zur Online-Selbsthilfe der Charité. Für Menschen aus der Schweiz bietet die Website kein-missbrauch des Forio Instituts Hilfe. Für Menschen aus Österreich bietet das Projekt Nicht Täter werden Hilfe an.

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