In bestimmten Momenten ist man aus ungeklärten Gründen empfänglicher für außergewöhnliche Gedanken – wenn man nach dem Feiern auf die U-Bahn wartet zum Beispiel. Genau in einem solchen Moment habe ich über folgende drei Dinge nachgedacht: Ich war noch nie in Asien auf Urlaub, ich habe noch nie etwas mit einem Asiaten gehabt und ich habe noch nie Sushi gegessen. Diese drei Tatsachen waren mir schon immer bewusst, aber genau in diesem Augenblick ist mein Gehirn besonders aktiv und es entstehen neuronale Verbindungen, die es davor noch nicht gegeben hat. Die drei Gedanken verschmelzen miteinander und ich stelle mir die Frage “Habe ich ein Problem mit Asien?”
Ich habe generell sehr spezielle Ansprüche an Essen und Co. und es kann natürlich auch nur ein Zufall sein, dass all das mit Asien zu tun hat. Trotzdem frage ich mich, ob ich vielleicht nicht doch eine unbewusste Antipathie habe. Da ich ein sehr offener Mensch bin, bin ich im Endeffekt trotzdem davon überzeugt, dass es irgendetwas geben muss, das ich an Asien mag – ich musste nur herausfinden, was. Aber welche Optionen bleiben mir neben Reisen, Essen und Männer noch übrig?
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Es gibt nur eine Möglichkeit: Ich muss K-Pop-Fan werden. Pop-Musik ist nicht gerade die Créme de la Créme der Musikwelt – eher das Toastbrot – und die Tatsache, dass ich koreanisch nicht verstehe, wird das Toastbrot wahrscheinlich auch nicht schmackhafter machen. Aber es muss nunmal sein.
Der erste Eindruck
Ich öffne YouTube, tippe “K-Pop” in die Suchleiste ein und klicke auf die erste Playlist, die mir vorgeschlagen wird “Mix – K-Pop“. Girls’ Generation – “소녀시대 I Got a Boy” ist das erste Lied in der Liste. Das Video startet von allein. Ich habe nicht mal die Gelegenheit, mich seelisch darauf vorzubereiten.
Die ersten paar Sekunden zeigen einen pinken Raum voller kichernder Mädchen, die angezogen sind, als wären sie auf einer Bad-Taste-Party. Ich habe noch nie so viele verschiedene Farben auf einmal gesehen. Mein Gehirn ist jetzt schon überfordert. So muss es in Hello Kitty’s Vagina aussehen.
Dann beginnt die Musik. Die kichernden Mädchen rappen jetzt und ich bin verwirrt. Sie tragen Klamotten aus den 00er Jahren und ich frage mich, wie man gleichzeitig seinen Arsch so bewegen und dabei so unschuldig aussehen kann. 20 Sekunden später gibt es erneut einen Szenenwechsel, jetzt erst beginnt der typische K-Pop-Sound – mit electronic Drums und Synthesizer wird nicht gespart.
Generell gilt im K-Pop nicht das Weniger-ist-mehr-, sondern das mehr-ist-mehr-Prinzip. In einem etwas ruhigeren Moment pausiere ich das Video um abzuzählen, wie viele Mitglieder die Gruppe hat: neun. Das ist fast das Doppelte von den Spice Girls.
“Materialismus”, “Leistungsdruck” und “Sexismus”
Schon nach dem ersten Video muss ich eine Pause machen und das Gesehene und Gehörte verarbeiten. Ich habe Fragen und Google gibt mir die Antworten. Knallige Farben, verrückte Outfits, die mindestens alle 30 Sekunden gewechselt werden, Gruppen mit mehr als sechs Mitgliedern, Mädchen, die gleichzeitig verführerisch und süß aussehen sollen – das alles sind typische Merkmale von K-Pop.
Zusätzlich dazu müssen die Stars sich einer langen, strengen “Ausbildung” unterziehen. Aussehen, Gesang und Bewegungen müssen perfekt sein. Nur die mit den höchsten Standards schaffen es, sich durchzusetzen.
In meinen Gedanken schreit es nach Schlagwörtern wie “Materialismus”, “Leistungsdruck” und “Sexismus“. Ich recherchiere weiter und erfahre, dass einige junge Leute sich so unter Druck gesetzt fühlen, dass sie Schönheits-OPs machen. Auch sexuelle Belästigungen sind keine Seltenheit. Der Open World Entertainment CEO Jang Seok-woo wurde beispielsweise verhaftet, weil er sechs minderjährige Mädchen sexuell belästigt hat.
Mehr Musikvideos und das Kennenlernen von Gleichgesinnten
Ich sehe, dass meine Recherche für meinen Plan, K-Popper zu werden, sehr unvorteilhaft ist und beschließe, mich lieber auf die Musik und die Musikvideos zu konzentrieren. Ich kehre zurück zur YouTube-Playlist und ziehe mir ein Musikvideo nach dem anderen rein.
Langsam gewöhnen sich meine Ohren an den Klang der Musik und ich beginne vor mich hinzusummen. “Fantastic Baby” von Bigbang ist mein neues Lieblingslied und ich höre es mir gleich mehrmals hintereinander an. Ich freue mich jedes Mal auf den Refrain, weil der auf Englisch ist und ich mitsingen kann. Meine Mitbewohnerin klopft an meine Tür und fragt mich, ob’s mir eh gut geht.
Durch diese Frage wird mir bewusst, dass es Zeit für den nächsten Schritt ist und ich mich mit anderen K-Pop-Fans austauschen muss. Hoch lebe Social Media, denn ich finde tatsächlich ein paar Leute. Nachdem ich in meiner Insta-Story frage, wer von meinen Freunden K-Pop höre, meldet sich beispielsweise der 24-jährige Chris* bei mir. Er hat lange Zeit nur Metal gehört und hat dann zufällig ein K-Pop-Video entdeckt. Auch die anderen Leute, die ich über K-Pop ausfrage, erzählen mir, dass sie durch Zufall auf die Musik gestoßen sind. Alle von ihnen werden wegen ihres Musikgeschmackes meistens komisch angesehen, haben sich aber damit abgefunden und sind stolz darauf.
Das Ding mit der Sprache
Ich genieße es eigentlich, dass ich die Texte nicht verstehe. Ich glaube, es ist besser so. Wahrscheinlich wären Taylor Swift-Songs auch besser, wenn wir die Texte nicht verstehen würden.
Die 20-jährige Johanna versteht die Texte auch nicht, aber sie meint, dass es für jedes Lied eine Übersetzung auf Englisch gibt und außerdem findet sie, dass es in der Musik sowieso keine sprachlichen Barrieren gäbe. Die 19-jährige Jennifer versteht die Texte hingegen, weil sie Koreanologie studiert. Viele ihrer Studienkollegen haben sich nur wegen K-Pop für das Studium entschieden. Außerdem meint sie, ist die Sprache in der Musik nicht das Wichtigste. “Das beste Beispiel sind Opern. Man versteht entweder nichts, muss mitlesen oder Italienisch lernen.”
Ich finde einen Artikel mit dem Namen “5 einfache Tricks für das Erlernen von K-Pop-Lyrics” und beschließe, dem Ganzen eine Chance zu geben. Die Tricks lauten wie folgt:
- Schritt 1: Hör dir einen Song so lange an, bis du die Melodie im Kopf hast. Mach das für ein oder zwei Tage.
- Schritt 2: Wenn du die Melodie im Kopf hast, sieh dir die romanisierte Version der Lyrics an während du den Song hörst.
- Schritt 3: Du wirst dich nun fragen “Wie spreche ich diese Wörter aus”. Nun musst du die Aussprache von jedem Wort genau mitverfolgen.
- Schritt 4: Du bist bereit mitzusingen!
- Schritt 5: Belohne dich selbst für die harte Arbeit und die Hingabe mit einem leckeren Snack deiner Wahl!
Weil ich immer schon sehr ehrgeizig war, überspringe ich die ersten 4 Punkte und gehe gleich zu Schritt 5. Ich liebe K-Pop.
Die Verwandlung zum Fangirl
Immer wieder lese ich, dass K-Pop-Fans die besten Fans sind. K-Pop-Künstler haben die größte Fanbase überhaupt und darauf sind alle sehr stolz. Die Fans merken sich das Datum, an dem sie ihr erstes K-Pop-Video gesehen haben und feiern diesen Tag jedes Jahr wie die Geburt Christi. Unter den YouTube-Videos findet man sehr selten Hater-Kommentare. Das liegt nicht daran, dass es keine Hater gibt, sondern daran, dass es einfach zu viele Fans gibt, die gerne nette Kommentare schreiben.
Es muss wohl sehr anstrengend sein, immer etwas Neues zu finden, das man kommentieren kann und irgendwann gehen jedem die Emojis aus. Das ist wohl der Grund dafür, warum K-Pop Fans einfach die Anzahl der Views kommentieren. Ich möchte wissen wie es sich anfühlt, ein richtiger K-Pop-Fan zu sein und kommentiere unter ein Video “129,022,406 views!! OMG! *Emoji-mit-Herzaugen*”. War es das? Bin ich jetzt offiziell Teil der Sekte?
Auf Playbuzz finde ich ein Quiz mit dem Namen “Bist du ein wahrer K-Pop-Fan?“. Auch wenn ich erst vor zwei Stunden mein erstes K-Pop-Lied gehört habe, fühle ich mich bereit für diesen Test. Schnell muss ich mir eingestehen, dass ich wohl doch noch nicht bereit bin. Ich habe nur 3 von 15 Fragen richtig und am Ende des Quizes steht “Es gibt Hoffnung. Hör einfach mehr Musik von verschiedenen Künstlern.”
Trotzdem fühle ich mich schlecht und suche Trost bei meinen K-Pop-Freunden. Es gibt unzählige Blogs und Foren, in denen man sich aufgehoben fühlt. Ich bin auch nicht die Einzige, die Probleme hat, sich all die Namen und Lieder zu merken. Auf einem Blog finde ich sogar einen Beitrag mit dem Titel “10 Wege, die Namen deiner K-Pop-Idole zu lernen“.
Ich hätte mich damit zufrieden geben sollen, aber meine Neugierde führt mich immer weiter in die Tiefen dieser Foren, bis ich in der Memes-Abteilung lande. Ein Fehler, wie es sich herausstellen sollte. Ich verstehe kein einziges. So fühlt es sich also an, wenn man nicht cool genug für K-Pop ist. Trauer überkommt mich. Enttäuschung. Wut. Ich wollte K-Pop wirklich eine Chance geben, aber der Druck, ein guter Fan zu sein, ist einfach zu groß.
Ich sehe mir wieder Videos an, aber diesmal ohne unterdrückte Abneigungen. Die Choreographien, die Gesichter, die Videos – alles ist einfach zu perfekt. Die Gesichter sind makellos, niemand macht einen Fehler, sie strengen sich einfach zu sehr an. Die Augen so gefühllos und leer. Wahrscheinlich sind das gar keine echten Menschen, sondern asiatische Roboter. Die Boybands singen und tanzen, als wären sie eine Mischung aus Justin Timberlake und One Direction. Was ist G-Dragon überhaupt für ein Name für einen Sänger? Alles erscheint mir so künstlich wie Bubble-Tea. Bubble-Tea hasse ich.
Mit jedem Video werde ich unruhiger, mein Herzrhythmus wird unregelmäßig und ich bekomme einen Tinnitus – alles Symptome von Reizüberflutung. Ich klappe meinen Laptop zu und fahre zum Donaukanal. Dort suche ich mir einen Platz zum Meditieren. Je grauer, desto besser. Ich erinnere mich an die Frau, die ich vor ein paar Tagen interviewt habe und die gesagt hat, dass man ab dem zweiten Lebensjahr kein optimales Verständnis für fremde Musikkultur hat. Für morgen habe ich mich mit einem Asiaten zum Sushi-Essen verabredet.
*Name von der Redaktion verändert
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