Ich weiß nicht, vor wie vielen übermotivierten, mit Flyern und Gebetbüchern bewaffneten Leuten ich in meinem Leben schon geflohen bin, aber es sind VIELE. Jeder, der in einer Großstadt wohnt, kennt zumindest ein paar dieser Gestalten und selbst am Land gibt es sie immer wieder. Einmal hat sogar ein Typ in einem abgelegenen Ferienhaus an die Tür geklingelt, um mich zu bekehren.
Aber was würden einem die Menschen wohl erzählen, wenn man in solchen Situationen zur Abwechslung mal stehen bleiben und nicht wie ich bis jetzt immer möglichst schnell das Weite suchen würde?
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Um das herauszufinden, habe ich versucht, mich von allen “staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften” anwerben zu lassen. Das sind im Prinzip einfach Religionen mit mindestens 300 Mitgliedern in Österreich, die als keine “Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung” gelten und ihre Schriften zur Prüfung vorgelegt haben. Erst mit einer Mitgliederzahl von zwei Promille der Bevölkerung (in Österreich sind das ungefähr 17.500 ) wird man als “anerkannte Religionsgemeinschaft” angesehen. Kleinere Religionen bekommen keine staatliche Förderung und haben keinen Anspruch auf Religionsunterricht in öffentlichen Schulen.
Mein Projekt war um einiges mehr Aufwand, als ich jemals erwartet hätte. Und der Eindruck, den es hinterlassen hat, ist um einiges größer als gedacht. Ich selbst bin übrigens leidenschaftliche Agnostikerin (weil sich manche bestimmt diese Frage stellen). Aber obwohl ich atheistisch erzogen wurde und noch heute einen gesunden Hang zur Skepsis habe, fand ich religiöse Menschen immer schon irgendwie faszinierend. Sogar dann, wenn sie laut darüber nachdenken, ob die Welt nicht doch in sieben Tagen entstanden ist, oder sie mich zu einem Esoteriker-Treffen schleppen (fragt mich nicht, wie) und ich am Ende singend mit ihnen ums Lagerfeuer tanze (ja, das ist wirklich passiert).
Andererseits finde ich Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und “freie Liebe” doch ganz gute Entwicklungen unserer post-religiösen Gesellschaft. Und Wissenschaft ist irgendwie auch ganz nett im Vergleich zu kirchengesteuertem “Wissen” über den Ursprung und die Beschaffenheit der Welt. Der Text ist also ein Spagat zwischen meiner Meinung und meinem Respekt gegenüber Religionsfreiheit geworden. Er ist ein persönlicher Erfahrungsbericht und genau so sollte man ihn auch lesen.
Die Vertreter ihrer Religionen wussten davor übrigens nicht, dass ich sie für VICE besuche und in Wahrheit gar nicht auf religiöser Suche bin. Immerhin wollte ich ja wissen, wie sie mit mir als normale Anwerberin umgehen würden und nicht, was sie mir in einem gratis PR-Treffen erzählen würden.
Hier sind die Kleinstreligionen in der Reihenfolge, in der ich sie besucht habe – oder zumindest versucht habe, sie zu besuchen.
Die Sieben-Tags-Adventisten (~4500 Mitglieder in Österreich)
Oscar* antwortet mir praktisch sofort auf meine Mail, in der ich von meiner religiösen Suche berichte. Er ist sehr förmlich, aber freundlich. Er ermutigt mich in meiner Suche und listet mir gleich das ganze Missionierungsprogramm der Adventisten auf. Ich kann online Bibelkurse belegen, auf dem HOPE-Channel Videos schauen, oder persönlich Kontakt aufbauen. Gerne hilft er mir auch bei der Suche meiner lokalen Gemeinde. Die E-Mail endet er mit “Ich wünsche Ihnen Gottes Segen!”
Ich entscheide mich für ein persönliches Treffen im Vereinszentrum – ein Neubau am Rande Wiens. Alles dort ist fast schon beunruhigend steril und ordentlich. Selbst Oscars Bart ist ungewöhnlich exakt zurecht gestutzt.
Ich frage ihn nach der Entstehungsgeschichte der Adventisten und den Unterschieden zum “klassischen” Katholizismus. Laut Oscar sind zwei der deutlichsten Besonderheiten, dass der Gottesdienst wegen der Bibelgespräche etwa drei Stunden dauert und ihr heiliger Tag der Samstag ist.
Fun Fact: Der Erfinder der Cornflakes war ein Adventist.
Anfangs wirken die Adventisten ungewöhnlich weltoffen und aufgeklärt auf mich. Man darf nicht in einer Parallelwelt leben, erklärt mir Oscar. Jeder muss alleine zu Gott finden, ganz ohne Zwang. Die Adventisten würden deswegen auch erst Erwachsene taufen. Frauen dürfen, zumindest in Österreich, predigen. Dem Papst folgen sie auch nicht – nur das Wort der Bibel zählt für sie.
Allerdings folgen sie der Bibel in einem viel wortwörtlicheren Sinn als beispielsweise evangelische Christen, die für Oscar ihren Glauben viel zu locker nehmen. Nach einiger Zeit spricht Oscar sehr offen mit mir. Er erzählt mir von der “absurden Sexualkunde” der Grünen und Roten in Deutschlands und Österreichs Schulen. “Deswegen kommen viele deutsche Adventisten nach Österreich”, meint er. Hier dürfe man von zuhause unterrichten und könne so seine Kinder besser schützen.
Oscar erklärt mir auch, wieso die Evolutionstheorie nicht ausreichend bewiesen ist und dass es genügend Hinweise gegen sie gäbe, die gekonnt vertuscht würden. Zum Fortschritt der Menschheit sei Wissenschaft trotzdem wichtig. Aber nur um “Gottes komplexe Lego-Steine immer besser verstehen und nutzen zu können”. Forschung sei im adventistischen Kircheninstitut auf einem mit der Bibel vereinbarten, gotteswürdigen Weg möglich.
Auch auf VICE: Der Kongress der Zeugen Jehovas in Wien
Oscar drückt sich fast so gehoben wie die Charaktere in Stolz und Vorurteil aus. Er antwortet ausführlich auf meine Fragen und erzählt auch ein bisschen von sich aus. Dazwischen gibt er mir geduldig mit einer kurzen Pause die Möglichkeit für weitere Fragen. Davon, dass ich meine Verbindung zu Jesus schon gefunden habe, geht er nach kurzer Zeit aus. Genauso wie von meiner Belesenheit in sämtlichen Schriften Gottes. Zum Abschluss betet er noch laut für mich. Er wünscht sich, dass Gott meinen Weg gut leitet.
Das Gebet ist der einzige Moment, in dem ich mich unwohl fühle. Vielleicht, weil es mich erinnert, wie gläubig Oscar wirklich ist. Vielleicht, weil ich für einen kurzen Moment daran denke, was ist, wenn uns doch jemand da oben gerade beobachtet – und ob Gott meine “Sinnsuche” für diesen Artikel wohl gutheißen würde.
Dann führt Oscar mich noch durch das Gebäude. Im Keller ist das Zentrum des HOPE Channels. Es könnte auch eine ORF-Zentrale sein – so viel richtig teure Technik liegt herum. Es gibt zwei Tonstudios und mehrere Filmräume, außerdem einen eigenen Verlag mit kleiner Druckerei und Lager, alles mit freiwilligen Spenden finanziert. Ich sehe keinen einzigen Hinweis darauf, dass hier gläubige Menschen arbeiten – keine Kreuze oder Heiligenbilder.
Zwei Stunden später verlasse ich das Zentrum mit einem Haufen Flyer, einem kleinen Buch über fünf wichtige Reformatoren und einem etwas mulmigen Gefühl.
Einiges, was Oscar gesagt hat, ergibt für mich im ersten Moment irgendwie Sinn. Er hat ja Recht damit, dass ich die Evolutionstheorie nie aktiv hinterfragt habe, sondern sie “als Wahrheit angenommen habe, weil sie so verbreitet ist und in der Schule unterrichtet wird” – so wie man das mit dem Großteil aller wissenschaftlichen Erkenntnisse macht und ich natürlich auch die Relativitätstheorie nicht selbst nachgerechnet habe. Auch sein Argument “Ohne Religion ist man nicht an moralisches Handeln gebunden, was uns als selbstsüchtigen Menschen natürlich besser gefällt, weshalb diese Theorie auch unangefochten bleibt” erscheint auf den ersten Blick fast einleuchtend.
Aber es dauert nicht lange, bis ich mich daran erinnere, wieso Evolution doch ziemlich logisch und Kreationismus längst widerlegt ist – und seine Argumente, die viel mit Adam und Eva zu tun haben, helfen seiner Glaubwürdigkeit auch nicht unbedingt weiter. Eine Sekunde lang dachte ich trotzdem: “Siehst du, du hältst genauso erbittert an deinem Glauben fest und willst ihn nicht hinterfragen, damit deine Realität nicht ins Wackeln kommt.” Und alleine für das bisschen Selbstreflexion war es den Ausflug schon wert.
Vereinigungskirche (~700 Mitglieder in Österreich)
Auch Elsa* von der Vereinigungsbewegung treffe ich in ihrem Vereinszentrum. Weil dieses sehr unscheinbar und nur über einen Hinterhof erreichbar ist, holt sie mich beim Hauseingang ab. Genau genommen ist das “Vereinszentrum” eine einfache Wohnung im 2. Stock. Elsa bietet mir sofort an, sie zu duzen. In den drei Räumen riecht es ein bisschen nach meiner Oma (was nichts Schlechtes ist) und überall hängen Fotos von Sun Myung Moon und seiner Frau, den beiden Begründern der Bewegung.
Sie entstand in den 50er-Jahren in Korea, wo Moon ein neues Verständnis der Heiligen Schriften entwickelte, das mit dem aktuellen Stand der Menschen vereinbar sein sollte. Auf mich wirken diese neuen (wissenschaftlich dargestellten) Erklärungen, zumindest nach Elsas Ausführungen, eher so, als hätte Moon versucht, einfach überall Gott so dazu zu dichten, dass das Christentum auch in der Neuzeit wieder Sinn ergibt. Woher seine Ansätze kommen und wieso sie logischer sein sollen als das althergebrachte Glaubenswerk der Christen, verstehe ich bis zum Schluss nicht ganz.
Trotzdem hatte Moon auch einige spannende Ansätze. Er meinte, man dürfe die Bibel nicht wörtlich lesen, sondern müsse sie eher als Hinweise auf tiefere psychologische und spirituelle Vorgänge verstehen. Bei der Vereinigungskirche gäbe es fünf geistige und fünf physische Sinne, erklärt mir Elsa. Manche hätten schon vor dem Tod Einblicke in die geistige Welt – zum Beispiel alle, die Jesus nach seiner Auferstehung gesehen hätten. All das erklärt mir Elsa, während sie mir ein Diagramm aufzeichnet, um ihre Punkte zu veranschaulichen.
Für die Moon-Bewegung, wie sie auch genannt wird, hätte Jesus nicht für unsere Sünden sterben sollen, sondern seine eigentliche Aufgabe wäre es gewesen, als Vorbild für alle zukünftigen Familien zu stehen. Weil das nicht geklappt hat, sah Sun Myung Moon seine Berufung darin, der Menschheit eine solche göttliche Familie zu zeigen und sie somit zum Weltfrieden zu führen.
Oberste Priorität ist es deswegen, eine “reife Persönlichkeit”, also ein stabiler, liebender Mensch zu werden. Wenn ein Mann und eine Frau diesen Zustand erreicht haben und eine Familie nach Moons Prinzipien aufbauen, werden sie in jedem Fall eine lebenslange, glückliche Beziehung führen, aus der nur glückliche, stabile Kinder hervor gehen können – so die Theorie. Auch hier bedient sie sich einer Grafik, die das Ganze wohl wissenschaftlich verdeutlichen soll. Weil alles mit Grafiken und Diagrammen Wissenschaft ist oder so.
Mit diesem Konzept der harmonischen Familie will die Vereinigungsgemeinde den Weltfrieden und die Vereinigung aller Religionen erreichen. In diesem Sinne veranstaltet die Moon-Bewegung auch Massenhochzeiten mit bis zu 3000 Paaren, die über verschiedene Nationen vermittelt werden und sich oft erst bei der Hochzeit kennenlernen. Auch Elsa hat ihren Mann so gefunden. Sie betont mehrmals, dass es sich nicht um Zwangsheirat gehandelt habe, wie Medien es oft darstellen würden. Beide Seiten würden sich bei diesen Trauungen frei aus Überzeugung dafür entscheiden. Zumindest in ihrem Fall glaube ich ihr das auch. Sie wirkt glücklich, wenn sie über ihre Familie redet.
Als Abschluss zeigt sie mir noch ein fettes Buch, das die Missionierungsgeschichten jedes Landes auflistet. Wieder erinnere ich mich daran, wie meine Oma über gute alte Zeiten redet.
Zum weiteren Kennenlernen der Kirche bietet sie mir Vorträge, einen Gottesdienstbesuch und ein Treffen mit der Jugendgruppe an. In unserem Gespräch redet sie fast nur über ihre eigenen Erfahrungen und ein paar allgemeine Theorien. Sie erzählt, wie sie in den 70er-Jahren als Klosterschwester-Schülerin die Bewegung entdeckt hat und sofort begeistert war, weil sie ihr zeitgemäße Antworten auf vieles geben konnte.
Wenn sie von ihrer Entdeckung der Vereinigungsgemeinde redet, klingt es für mich nach einer christlichen Version der Hippie-Bewegung. Einer Rebellion einiger Jugendlicher, die einen neuen Weg gehen wollten. Eltern hätten ihre Kinder verstoßen, weil sie zur Moon-Bewegung übergingen, erzählt sie mir. Man sprach von Gehirnwäsche und war besorgt, dass die Katholische Kirche ihr ganzes Geld verlieren würde. Auch sie wäre ausgegrenzt worden, aber trotzdem dort geblieben, bis ihre Eltern es akzeptiert hätten.
Als Abschluss zeigt sie mir noch ein fettes Buch, das die Missionierungsgeschichten jedes einzelnen Landes auflistet. Mit Fotos und allem Drum und Dran. Hier ist auch Österreich dokumentiert. Ich sehe Fotos von Elsa in Jugendjahren. Wie sie mit etwa 40 anderen Frauen und Männern in einer Gruppe steht und wie sie mit ihrem Mann in Ungarn war. Wieder erinnere ich mich an meine Oma und wie es ist, wenn sie über gute alte Zeiten redet.
Elsa verlasse ich mit einigen Flyern, in denen man noch mehr hochwissenschaftliche Grafiken findet, Informationen über zwei ihrer Vereine, die mit der UN zusammenarbeiten, und einer Biografie über Moon. Das Treffen war nicht uninteressant, aber beim Gehen kann ich nicht anders, als darüber nachzudenken, dass auch diese Ideologie – bei aller Rebellion und scheinbarer Fortschrittlichkeit – längst vollkommen veraltet und Moons Rede eher fanatisch wirkt. Seit dem Boom der 70er-Jahre schrumpft die Kirche auch in Österreich wieder. Das scheint auch Elsa bewusst zu sein.
Hinduistische Religionsgesellschaft
Bei den Hindus erreiche ich niemanden per Mail und das Kontaktformular auf der Homepage kann man nur ausfüllen, wenn man Mitglied ist. Also fahre ich auf gut Glück in das Vereinszentrum. Unter angegebener Adresse finde ich allerdings nur ein Café, in dem niemand von einem hinduistischen Zentrum weiß. Ich denke, es ist nicht unbedingt übertrieben, die Hinduistische Religionsgesellschaft in Österreichs für de facto nichtexistent zu erklären.
Sollte ich euch Unrecht tun, liebe Hinduisten: Ihr könnt euch natürlich gerne bei uns melden und mich nachträglich von euren Glaubensgrundsätzen überzeugen. Unsere Kontaktmöglichkeiten gelten auch für Nichtmitglieder und obwohl unser Büro auch eine Bar hat, ist es wirklich besetzt.
Pfingstkirche/Gemeinde Gottes
Von der Pfingstkirche finde ich nur eine Homepage auf Rumänisch ohne Kontaktdaten oder Kommunikationsmöglichkeit. Die automatischen Google-Maps Ergebnisse verweisen auf eine nicht funktionierende Telefonnummer und eine Adresse, bei der ich eine etwas ominös wirkende Autowerkstatt statt eines Vereinszentrums vorfinde. Zugegeben: Ihr habt mein Interesse geweckt. Jetzt müsste nur noch jemand von euch erreichbar sein und mit mir reden.
Islamische-Schiitische Glaubensgemeinschaft
Auch hier ist die Telefonnummer nicht existent und die Webseite ist (nach dem Design her zu schließen seit 2007) in Bearbeitung. Aber zumindest das Vereinszentrum finde ich. Es ist abgeschlossen und sieht etwas verwahrlost aus. Keine Hinweise auf Öffnungszeiten oder Kontaktdaten, aber nach den letzten beiden Religionen sind meine Erwartungen schon heruntergeschraubt und ich freue mich über diesen “Erfolg”.
Das Bahaitum (~1300 Mitglieder in Österreich)
Langsam ergibt sich ein Muster. Auch zum Bahai-Zentrum fahre ich, nachdem ich eine Woche lang niemanden erreicht habe, auf gut Glück. Diesmal finde ich aber wieder echte Menschen und treffe Anna*, die es gar nicht komisch findet, dass ich in ihr Büro platze, um mich bekehren zu lassen. Ich bin sogar schon die zweite heute, die deswegen unangekündigt hereinspaziert, erzählt sie.
Anna ist etwa Mitte 20 und einer dieser Menschen, die so viel lächeln, dass es dir fast schon unheimlich ist. Selber ist sie mit vier zum Bahaitum gekommen, als ihre Mutter sie in einen Bahai-Kindergarten geschickt hat, weil die ein so starkes Augenmerk auf Persönlichkeitsentwicklung legen würden.
Als erstes führt sie mich durch das Vereinszentrum – ein mehrstöckiges Haus in Ottakring. Die runden Tischanordnungen und mehrere Whiteboards schaffen eine konferenzartige Stimmung. Nur ein paar persische Schriftzüge und Gemälde von Bahāʾullāh weisen auf den religiösen Hintergrund hin.
Bahāʾullāhs Ideen wirken wirklich revolutionär. Im Iran des 19. Jahrhunderts predigte er, dass Frauen und Männer eigentlich vollkommen gleichgestellt sein sollten, alle Religionen gleich viel wert sind, wir ohne Vorurteile sein und unser Leben der Wahrheitssuche widmen sollten. Jede neue Zeit brauche einen neuen Gesandten Gottes und er sei nur der neueste Bote dieser Art.
Trotzdem seien alle vor ihm (Jesus, Mohammed, Moses, Krishna …) auch gottesgesandt gewesen, nur wären sie nicht mehr vollkommen zeitgemäß, sagt Anna. Deswegen lesen die Bahai auch sämtliche religiösen Schriften und suchen in ihnen ihre persönliche Wahrheit. Ihre Bedeutung darf dir niemand anders auslegen, erklärt sie mir. Stattdessen solle jeder sein eigenes Verständnis finden und äußern dürfen. Auch der Wissenschaft würden sich die Bahai verpflichten. So gäbe es ein offizielles Komitee, dass das Verständnis des Bahaitums an den Stand der Zeit angleiche.
Anna erzählt mir gut eine Stunde lang von den Prinzipien ihrer Religion, die fast zu gut klingen, um wahr zu sein. Aber als sie mir danach anbietet, ein Buch aus der Bibliothek des Hauses auszuleihen, sage ich ja, weil ich das Gefühl habe, nur von den Ansätzen der Bahai gehört zu haben, aber immer noch nicht zu wissen, was es eigentlich bedeutet, als Bahai zu leben.
Nachdem ich das Buch fast durch habe, geht es mir nicht viel besser. Besonders irritierend daran finde ich, dass ich darin fast den gleichen Wortlaut wieder finde, den ich auch aus Annas Mund gehört habe. In meinem Gespräch mit Anna muss ich viel mehr Fragen stellen, als bei den beiden davor. Sie antwortet viel kürzer und vager. Erst gegen Ende erzählt sie sehr zögerlich von ihrem eignen Leben als Bahai.
Das Bahaitum ist, nach dem Christentum, die geografisch gesehen am weitesten verbreitete Religion der Welt. Anstatt regelmäßiger Gottesdienste trifft man sich bei Mitgliedern zuhause und diskutiert zusammen bei Essen und Trinken über religiöse Texte. “Wir versuchen bei diesen Treffen, möglichst viele Religionen und Kulturen zusammen zu bringen, um Dialoge entstehen zu lassen und Vorurteile abzubauen”, meint Anna. Auf mich wirkt das Ganze wie eine Art Selbstfindungsprogramm – was bei genauerer Betrachtung wohl auch auf alle anderen Gemeinschaften zutrifft, die ich besucht habe.
Sexualität ist ein heikles Thema bei den Bahai – vor der Ehe sollte man enthaltsam bleiben und auch Homosexualität wird von den meisten abgelehnt.
Trotz aller vermeintlichen Offenheit ist zum Beispiel Sexualität immer noch ein heikles Thema bei den Bahai. Vor der Ehe solle man enthaltsam bleiben und auch dann im ganzen Leben nur einen Sexualpartner haben, wenn alles gut geht. So ist es für alle am besten, erklärt mir Anna. Auch Homosexualität wird von den meisten Bahai abgelehnt.
Anna zeigt mir auch, wie man Mitglied bei den Bahai wird. Ich muss nur einen Zettel in Visitenkartengröße ausfüllen, auf dem ich meine Kontaktdaten eintrage und bestätige, dass ich an Bahāʾullāh als den neuen Gesandten Gottes glaube und seine Visionen unterstütze – und schon bin ich dabei. Nur 15 muss man sein. Und die feste Überzeugung, wie unglaublich gefährlich eheloser Sex ist und dass er uns von innen zerstöre, sollte man wohl auch mitbringen. Anna war in dieser Woche bereits die Dritte, von der ich diese Position gehört habe.
Die Christengemeinschaft – Bewegung für religiöse Erneuerung
Bei der Christgemeinschaft erhalte ich nur eine automatische Antwort, dass man gerade im Kinderzeltlager und somit nicht erreichbar sei. Die offizielle Gemeinde finde ich zwar unter der angegebenen Adresse, aber ein hoher weißer Zaun versperrt mir den Weg. An sich ist die Christengemeinschaft sehr offen gegenüber Neuanwerbern, wie ich auf der Pinnwand lese. Die Gemeinde sieht übrigens gar nicht nach Kirche aus, sondern eher wie ein innovativer Kindergarten.
Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft
Mein Besuch bei den Aleviten ist ebenfalls eine schwere Geburt. Telefonisch und per Mail erreiche ich niemanden. Als ich im Zentrum ankomme, das sehr einfach und ein bisschen heruntergekommen wirkt, finde ich nur eine große Männergruppe vor, die auf Türkisch (?) miteinander redet. Es dauert eine Weile, bis sie verstehen, was ich von ihnen will, aber sie sind sehr hilfsbereit und schließlich telefoniere ich mit dem Pressesprecher der Aleviten, der mir einen Termin am nächsten Tag gibt.
Als ich zum vereinbarten Zeitpunkt wieder auftauche, begrüßt mich ein Mann namens Sari herzlich und mit festem Händedruck, bevor er in Wiener Dialekt über seine Religion zu erzählen beginnt. Er trägt Arbeitskleidung und erklärt mir, dass er gerade das Haus geputzt habe. “Bei uns gibt es keine Ränge oder so einen Blödsinn”, sagt er. “Dass ich Pressesprecher bin, hebt mich nicht auf einen Sockel. Wir packen alle an, wo und wie wir können.”
Für ihn ist die Trennung von Kulturellem beziehungsweise Sozialem und dem, was Religion wirklich ist, sehr wichtig. Frau und Mann seien bei ihnen zum Beispiel gleich. (“Gott gibt uns nur eine physische Hülle, aber unsere Seele hat kein Geschlecht.”) Alle Unterschiede, die es für manche Aleviten zwischen Mann und Frau gäbe, seien gesellschaftlich entstanden, meint er. “Das heißt natürlich nicht, dass man sowas nicht kritisch sehen und die Leute nicht aufklären sollte”, fügt er hinzu.
Damit ist Sari der erste Vertreter einer Bekenntnisgemeinschaft, den ich treffe, der seine Religion zumindest vorsichtig kritisierst. Er spricht auch darüber, was für ihn veraltet ist und falsch läuft. Dabei zieht er viele Vergleiche mit anderen monotheistischen Religionen. Er formuliert seine Sicht salopp, dafür umso klarer.
Ich muss mir keine vorsichtigen Fragen überlegen, um herauszufinden, wie er zu Naturwissenschaft oder Homosexualität steht, weil er diese Themen von sich aus anspricht. Dass es einen Urknall und Evolution gibt, ist für ihn klar, aber: “Was uns wirklich ausmacht, unsere Seele, hat noch keiner verstanden oder in der Petrischale erschaffen können. Wieso wir da sind, was unser Sinn und was nach dem Leben ist, wissen wir nicht. Da kann mir niemand etwas anderes erzählen!” Zu Homosexualität sagt er nur: “Jeder soll lieben, wen er will! Gott hätte uns nicht so geschaffen, wenn es nicht OK wäre.”
Zu Homosexualität sagt er nur: “Jeder soll lieben, wen er will! Gott hätte uns nicht so geschaffen, wenn es nicht OK wäre.”
Zum Schluss zeigt er mir noch das Gebetshaus. Um es zu erreichen, spazieren wir durch ein Klo, weil das der kürzeste Weg ist. Vor dem hohen runden Raum ziehen wir die Schuhe aus. An den Wänden hängen Bilder von den 12 Imamen, den Nachkommen der Propheten-Familie. “Hier sitzen wir alle zusammen, Männer und Frauen – da steht das Essen, von dem jeder mitbringt, was er hat und dort sitzt unser Prediger”, erklärt er mir.
Erst jetzt erfahre ich, dass ich streng genommen nicht bei der richtigen Religion gelandet bin. Die Islamische-Alevitische Glaubensgemeinschaft hat nämlich etwa 70.000 Mitglieder in Österreich und ist somit eine anerkannte Religionsgemeinschaft. Die Alt-Aleviten (zu denen ich ja eigentlich wollte) gäbe es in dieser Form nur in Österreich, meint Sari. Laut ihm sind sie eher eine politische kurdisch-nationalistisch orientierte Institution als eine eigene Religion. Viel mehr zu ihnen finde ich auch im Internet nicht.
Mein Lieblingssager von Sari war übrigens: “Extreme Moslems sind wie die deppate FPÖ. Sie nehmen nur einen Ausschnitt vom ganzen Text und stellen ihn als ganze Wahrheit hin, ohne ihn in Kontext zu setzen.” Deswegen lehnen die Aleviten auch die Scharia – den Gesetzeskodex im orthodoxen Islam – und die Sunna – die Verhaltensformen und -techniken im orthodoxen Islam – ab. “Das ist einfach veraltet und nicht das, was Gott von uns will”, sagt Sari.
Zu Sex vor der Ehe meint er: “Schau, das ist wieder was Soziales. In meiner Generation war das noch ein Tabu, bei den Jungen ist es voll OK. Zumindest hier in Österreich. Diese ganzen Gesetze braucht man nicht. Alles was zählt, ist dass wir gute Menschen sind und glücklich.”
Sari verlasse ich ohne Flyer, Bücher oder Informationslinks – dafür gehe ich mit Abstand mit dem besten Gefühl nach Hause.
Fazit
Von den aggressiven, psychologisch manipulierenden Missionierungsaktionen, die gläubigen Menschen oft vorgeworfen werden, habe ich übrigens, zumindest bei meinen Besuchen, nichts bemerkt. Im Gegenteil: es wurde mir wirklich schwer gemacht, mich bekehren zu lassen. Bei vier von acht Religionen war es nicht einmal möglich, Kontakt aufzubauen – einen Tag lang bin ich 117 Stationen mit den Öffis durch Wien gegondelt (ja, ich habe nachgezählt), ohne irgendwen an den angegebenen Adressen vorzufinden.
Bei den vier Bekenntnisgemeinschaften, die ich getroffen habe (wovon zwei nur vor Ort erreichbar waren) habe ich auch nichts von den “gehirnwaschenden Sektenstrategien” erkannt, vor denen mich in meiner Vorbereitung so einige Artikel gewarnt haben. Alle vier Religionen, bei denen ich war, lehnen Missionierung auf der Straße ab und informieren nur Leute wie mich, die direkt Kontakt suchen.
Meine Treffen mit Oscar, Elsa, Anna und Sari haben auch viele andere Vorurteile mal wieder widerlegt; zum Beispiel war gerade die Gemeinschaft, die zum Islam gehört, mit Abstand die lockerste und offenste.
Was alle vier Religionsvertreter gemeinsam hatten, war einerseits ihr Interesse an mir (was wohl in der Natur der Sache liegt, wenn sich jemand bekehren lassen will, schätze ich) und andererseits der Umstand, dass sie den Kontakt zu Menschen ohne Religion eher vermeiden. Genau dieser Austausch über ideologische Grenzen hinweg wäre aber für alle Beteiligten von Vorteil.
Studien zeigen zum Beispiel, dass gläubige Menschen, die Homosexualität ursprünglich ablehnen, ihre Meinung mehrheitlich ändern, wenn sie persönlichen Kontakt zu Homosexuellen haben und aufgeklärt werden. Aber an vorurteilsfreier, respektvoller Kommunikation scheint es zwischen Atheisten und religiösen Menschen immer noch zu mangeln – und zwar von beiden Seiten.
Die letzte Frage, die am Ende noch zu klären bleibt, ist wohl: Haben die Bekehrungsversuche der vier etwas an meiner persönlichen Glaubensrealität geändert? Die Antwort darauf tut mir angesichts der vier Menschen, die ich kennengelernt habe, fast ein bisschen leid. Aber ehrlich gesagt: Eher nicht. Denkanstöße zu moralischen Fragen habe ich schon bekommen, aber um ehrlich zu sein, finde ich die Geschichte mit Adam und Eva noch immer genauso plausibel wie Käpt’n Pengs Ansatz, die Quelle allen Seins sei eine Socke. Trotzdem: Sie alle waren bereit zu Diskussionen. Und genau diese Bereitschaft braucht es auf allen Seiten, wenn man Verständnis für den Blick des anderen fordert.
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*Die Namen wurden von der Redaktion geändert