Drogen

Ich habe widerlichen Knastwein gesoffen, um das Leben zu feiern

Vice-Autor Robert Hofmann zermatscht Orangen in einer Mülltüte und probiert das, was daraus entsteht. Er hat Knastwein hergestellt.

Ein Getränk, das nach Kotze schmeckt. Damit begann es im Herbst 2020 in einem sterilen Verwaltungsbüro. Anke Stein, die Leiterin der JVA Moabit, erzählte aus ihrem Arbeitsalltag. Es war mehr ein Nebensatz, der mich aufhorchen ließ und der mich bis zu einem Freitag im Juli fast ein Jahr später nicht loslassen sollte. Sie sagte, dass ein Szenario denkbar sei, bei dem “ein Mithäftling sich mit den Kumpels besaufen will und dafür zwanzig Liter Aufgesetzten gebunkert hat – ein unschönes Getränk aus Weißbrot, Orangen und Spucke, das nahe der Heizung zu Alkohol vergärt.

Aufgesetzter? Weißbrot, Orangen und Spucke? Besaufen? Das alles klingt nach etwas, das mir Freude bereiten könnte. Ich habe doch auch schon in faustgroße Kakerlaken gebissen, Augäpfel von Schafen gegessen und Oettinger Pils getrunken. Unschöner kann dieser Aufgesetzte ja kaum sein. Eine Herausforderung also, kulinarisch wie handwerklich. Denn wer sich nicht ständig testet, zu neuen Leistungen drängt, ja Neues ausprobiert, der kann auch einfach tot sein.

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Im Marketing gibt es dieses Konzept: AIDA – Attention, Interest, Desire, Action. Der Weg einer jeden Kaufentscheidung. Ich steige sofort beim D ein. Der Wunsch ist geweckt, ich nehme die Herausforderung an, dieses Produkt herzustellen und zu konsumieren. Dass meine gesamte Wohnung später voller schwarzer Fliegen sein wird, alles nach vergorenem Obst stinken und ich meine Arme bis zu den Ellbogen in eine stinkende Plörre tauchen werde, das vermute ich da noch nicht.

In den USA nennen sie diesen Knastwein “Pruno”. Es gibt zahlreiche Rezepte im Internet, aber eins ist der Klassiker. Eines, das alle kennen, die sich auch nur entfernt damit auseinandergesetzt haben. Es wurde verewigt in einem Gedicht von Jarvis Masters. Seit seinem 19. Lebensjahr 1981 sitzt der im Gefängnis, seit 1990 im Todestrakt von San Quentin, I hate every inch of you.

Masters schrieb das Gedicht “Recipe for Prison Pruno”, in dem er den Richterspruch eines Todesurteils verwebt mit der Anleitung zur Herstellung des Weins. Er gewann dafür einen renommierten PEN-Award. Das Gedicht endet mit dem Vers “May God have mercy on your soul” und lässt offen, ob damit derjenige gemeint ist, der gerade zum Tode verurteilt wurde, oder derjenige, der kurz davor ist, Pruno zu trinken. Immerhin soll Pruno auch nach Kotze riechen.

Als ich den ersten Leuten von meinem Plan erzähle, schauen sie skeptisch. Warum genau wolle ich das machen? Offensichtlich sehen sie nicht die Großartigkeit, die daraus erwachsen kann, die wissenschaftliche Pionierleistung. Und einfach die Tatsache, dass nur derjenige, der sein Leben in Extremen lebt, überhaupt lebt.

Ich kaufe also Mandarinen, Zucker, Fruchtcocktail, Ketchup, Toastbrot und Mülltüten. Das Pruno-Rezept von Masters fordert zwar kein Weißbrot, aber Anke Stein von der JVA Moabit hatte davon erzählt, also kombiniere ich die beiden Rezepte. Die natürlichen, wilden Hefen im Brot sollen nämlich den Gärprozess anregen. Natürlich werde ich beim ersten Mal scheitern, weil Scheitern der Kitt ist, aus dem jede große Karriere gebaut wird, wie die des Knight Riders.

Vice-Autor Robert Hofmann schält Mandarinen und füllt sie zusammen mit Fruchtcocktail in eine Mülltüte
Wer kauft bitte Fruchtcocktail, der das Zeug nicht zu Alkohol vergären lassen möchte? Fotos: Philipp Sipos

Ich zermatsche alle Zutaten in einer Tüte und spucke hinein. Ein dicker Faden Speichel tropft langsam in die Plörre. Als er sie berührt, schließe ich schnell den Mund – nicht dass die Bakterien über den Faden in meinen Körper krabbeln können. Anke Stein sagte, dass die Spucke weitere Biokulturen mit sich bringen würde, was ich im Prinzip befürworte, denn Bio heißt Leben. Dann lasse ich den Matsch ein paar Minuten von warmem Wasser erhitzen, verschließe die Tüte und hänge sie an die Heizung. Jetzt muss ich nur noch warten und in wenigen Tagen werde ich mich Winzer nennen können.

In der Zwischenzeit möchte ich noch mit ehemaligen Gefängnisinsassen sprechen, die ihre eigenen Anekdoten zum Knastwein erzählen können. Ich schreibe in diverse Foren und Facebook-Gruppen. Keine Reaktion, nie. Wobei, einmal wird meine Anfrage nach ein paar Stunden gelöscht. Offenbar möchten Gefangene nicht auf ihre Braufertigkeiten reduziert werden. Feiglinge. Für mich sind sie Pioniere. Mutige Entdecker, die die letzten Geheimnisse der Zivilisation erkunden. So wie ich, der ich jeden Morgen beim Kaffeemachen einen Blick auf die Tüten werfe, die da zunehmend braun am Heizungsregler baumeln und darauf warten, gepflückt zu werden.

Mandarinen, Fruchtcocktail und Brotfetzen in einer Mülltüte.
Der Moabiter Aufgesetzte in seinen ersten Minuten

Eines Morgens treffe ich meinen Mitbewohner in der Küche. Er bekundet Interesse daran, den Knastwein zu probieren, wenn er fertig ist. Er ist ein Pionier, wie ich. Zusammen sind wir wie Lewis and Clark, die 1804 aufbrachen, um die Pazifikküste des Nordamerikanischen Kontinents zu finden. Ich bin auf dem richtigen Weg, das spüre ich und freue mich auf den Rausch, der meine Welt verändern soll.

Es klappt nicht. Gar nicht. Irgendwann schwimmen grün schimmelige Brotfetzen auf der braunen Brühe und ich weiß: Das hier wird niemand trinken. Ich kippe alles weg. War die Heizung nicht warm genug? Die Tüte nicht ordentlich verschlossen? Jedenfalls versage ich. Als ich die bröckelige Suppe ins Klo kippe, rieche ich kein Promille Alkohol. Aber das ist nicht schlimm. Klar, das ganze gute Obst und so. Aber auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut und wie oft Einstein bei seinen Rechnungen auf E = mc hoch drei oder vier kam, ist auch nicht überliefert.

Vice-Autor Robert Hofmann riecht am Knastwein in einer Mülltüte
Vorfreude und Pioniergeist halten sich die Waage. Fotos: Philipp Sipos

Meinem Mitbewohner erzähle ich trotzdem nichts von meiner Niederlage. Er hatte sich so gefreut auf unseren gemeinsamen Umtrunk, dass ich ihm die Enttäuschung nicht zumuten will. Er fragt aber auch nicht ein einziges Mal nach, was denn aus den Tüten wurde.

Ich gebe jedenfalls nicht so einfach auf. Ein paar Monate später ist Sommer und die Durchschnittstemperatur prächtig für jede Art von Hefekultur. Diesmal möchte ich es richtig machen, nach dem Originalrezept, also Masters Gedicht, das die Mengenangaben genau angibt. Hier muss ich die Mische erst erhitzen, dann 72 Stunden weglegen, dann drei Tage lang für je 15 Minuten wieder erhitzen, jeweils durch heißes Wasser im Spülbecken.

Als ich nach 72 Stunden mehr Zucker und Ketchup zugebe und das Ganze erhitze, dauert es nicht lang, bis die Tüte immer praller wird. Bald ist die aufwändige Pampe zu einem riesigen Ball aufgebläht. Die Hefe erzeugt Kohlendioxid als Abbauprodukt bei der Umwandlung von Zucker in Alkohol. Zucker in Alkohol. Es funktioniert! Robert Hofmann ist ein Chemiker, ein Forscher, ein Koch, ein Winzer, ein Genie!

Zwei Tüten voller Fruchtmatsch werden erhitzt und blähen dann auf, weil die Hefe den Zucker zu Alkohol umwandelt.
Jeden Tag für 15 Minuten unter fließendem Wasser erhitzen, dann aufblähen lassen. Ich bin ein Chemiker. Fotos: Robert Hofmann

Niemand kann mich stoppen. Jetzt noch drei Tage und ich habe köstlichen Knastwein hergestellt. Ich erzähle jetzt meinen Freunden und Kollegen davon. Einige schmunzeln, andere fragen mich, warum ich das mache. Sollen sie ihr Leben wegwerfen, ich mache mein Ding.

Am vierten Tag kommen erste Zweifel. Das Wohnzimmer, in dem die Tüten ordentlich eingepackt in Handtüchern liegen, riecht nach Hefe, Alkohol und vergorenen Früchten. Und ich sitze daneben und muss währenddessen arbeiten. Zwei Tage noch, bis das aufhört.

Ich begehe den Fehler, Mülltüten statt, wie empfohlen, wiederverschließbare Beutel zu nehmen. Zum Rülpsen, also dem Ablassen des Gasdrucks, muss ich sie also aufreißen, weil ich meine Knoten nicht mehr aufbekomme. Dadurch bin ich gezwungen, die Plörre regelmäßig in einen neuen Sack zu füllen, was jedes Mal Spritzer gegorener Fruchtpampe an den Wänden und Küchengeräten zur Folge hat. Richtig eklig. Gar keinen Bock mehr auf diese Ekelkacke.

Am Morgen des fünften Tags ist die gesamte Wohnung plötzlich voller Fliegen. Und zwar nicht die süßen kleinen Fruchtfliegen, mit denen man umgehen kann, weil sie nicht kitzeln, wenn sie einem den Schweiß von den Armen saugen. Da schwirren auch die dicken Schwarzen rum, zusammen mit den eklig glänzenden Schmeißfliegen. Dazu riecht jetzt die ganze Wohnung nach dem Zeug. Ich halte meine Schlafzimmertür nun geschlossen, um wenigstens nachts von Ungeziefer und Gestank verschont zu werden. Ich kann es kaum erwarten, das Zeug endlich zu trinken, um es loszuwerden.

Dann ist es so weit, Tag sechs, Mittwoch. Ich packe die Tüten aus den Handtüchern, lasse die Plörre durch ein Sieb laufen und das, was übrig bleibt, nochmal durch ein Küchentuch, das ich vorher bei 95 Grad gewaschen habe. Es stinkt erbärmlich. Alles riecht nach Hefekotze, die mir bis zu den Ellebogen spritzt und die Fliegen sitzen mir auf der schwitzenden Stirn, während ich die letzten Handgriffe für mein Meisterwerk vollführe.

Zwei Kochtöpfe und ein Bierglas voller Knastwein.
Ach komm, in Weizenbier setzt sich unten auch ein bisschen Hefe ab. Fotos: Robert Hofmann

Ich fülle das flüssige Ergebnis, eine braun-orangefarbene Melange in den Kühlschrank. Bald ist es geschafft. Morgen ist Freitag, da sollen sie alle zu mir strömen und meiner Entdeckung, meiner Kunst, meinem Wein huldigen. Zum Dank dürfen sie Teil des Experiments werden und damit ihr Leben bereichern. Zum Glück habe ich noch einen Tag, um mich an die Vorstellung zu gewöhnen. Immerhin dann mit Rausch und Freunden und kleinem Happening.

Ich lade alle meine Freunde ein. Und sogar auf Twitter poste ich: Wer Knastwein probieren möchte, möge vorbeikommen. Es meldet sich niemand, stattdessen Beleidigungen. Ein Fan, der schon einmal schrieb: “So kinderlose HS wie du gehören zum Schmutz der Gesellschaft und passen so perfekt in dieses verkackte von hipstern und satirikern bevölkerte Langweiler Land”, nennt mich jetzt #lowlife, weil er auf einem Bild aus meiner Wohnung Heizkörper entdeckt.

Auch meine Freunde sagen ab, die Begründungen sind fadenscheinig. Der eine müsse noch seine Erkältung auskurieren, was ich denn Samstag vorhabe. Der andere ist mit einem Kumpel essen, ob wir uns nicht danach treffen wollen. “Keine Zeit”, “heute nicht”, “wer kommt denn noch so?”

Meine Freunde können mich alle mal, Feiglinge. Sie verschwenden ihr Leben, wenn sie sich nicht an Neues heranwagen. Wofür leben sie überhaupt? Am Ende sind wir zu dritt. Alex’ erste Reaktion auf meine Einladung ist zwar, dass er sich Sorgen um den Methanol-Gehalt des Gebräus mache, aber am Ende sagt er doch zu. Er werde schon nicht blind, verspreche ich ihm. Laszlo kommt, weil Alex ihn einlädt, ohne ihm zu sagen, was der eigentliche Anlass ist. Er denkt, wir wollten einfach nur ein paar Bier im Hof trinken.

Wir sitzen also im Garten und trinken uns Mut an. Nach dem zweiten Bier biete ich an, für jeden ein neues zu holen, komme aber, Überraschung, mit dem Knastwein zurück. Ich sehe Furcht in ihren Augen, Ekel, Entsetzen und schließlich: Resignation. Es gibt kein Entkommen, heute wird Geschichte geschrieben, one small step für Alex, Laszlo und mich, one giant leap für alle anderen.

Wir stoßen an, schauen uns ein letztes Mal in die Augen: Meinen wir das wirklich ernst? Und setzen das Glas an die Lippen. Ja, Kotze ist da mit drin, aber auch Frucht. Wie frisch ausgespiener Orangensaft, keine Todesstrafe. Ich hebe das Glas, die kalte Suppe fließt mir in den Mund. Meine Augen sind geschlossen, aber jeder Geschmacksnerv ist hellwach und bereit für die kulinarische Erfahrung, die die Geschmacksknospen der allermeisten anderen Menschen nie machen werden.

Vice-Autor Robert Hofmann kurz bevor er den Knastwein probiert
Aller Anfang ist schwer und dann wird es nur noch schlimmer. Selfie: Robert Hofmann

Es ist richtig widerlich. Das Gesöff ist wahnsinnig sauer, schmeckt kaum nach Alkohol, dafür aber nach vergorener Fruchtkotze und im Abgang als würde man einen Würfel Hefe lutschen. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben nicht so etwas widerliches im Mund gehabt. Dabei lässt sich der Geschmack der faustgroßen Kakerlake, die ich einmal im Berliner Thaipark aß, am ehesten mit “Kot” beschreiben. Ich bereue auf der Stelle jede Entscheidung, die mit diesem Projekt einherging.

“Unschön” hatte die JVA-Chefin es genannt. Warum wollte ich nicht bei schönen Getränken bleiben? Sollte “Knastwein” nicht Abschreckung genug sein? Kotzgeschmack? Ich hatte die Warnungen doch fein säuberlich vor mir aufgebahrt gesehen. Warum habe ich sie ignoriert? Jetzt muss ich meine Wohnung wischen und meinen Mund ausspülen. Die Fliegen werden auch eine Woche später noch nicht ganz verschwunden sein und der Schauder, der mir durch Mark und Magen schießt, steckt mir auch noch am nächsten Tag in den Knochen.

Die Wissenschaft ist ein mieser Verräter. Alle meine Freunde hatten Recht. Die Gefängnisinsassen, die nicht darüber reden wollten. Selbst in San Quentin hätten sie wahrscheinlich lieber Oettinger getrunken als das, Pruno. May you rot and burn in hell. May God have mercy on our souls, ey.

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