Ich verliere meine politischen Rechte, weil ich nach Zürich ziehe

Der Mensch ist ein Sammler. Das wissen nicht nur Anthropologie-Professoren, sich wegen Panini-Stickern prügelnde Kinder und Bentleys streichelnde Goldküstenbewohner, sondern auch alle Politiker. In regelmässigen Abständen packt sie die Sammelwut und sie suchen in jeder hinterletzten Ecke nach Stimmen. Mal für einen Sitz im Nationalrat. Mal für die Abschottung der Schweiz. Mal für mehr Macht innerhalb der SP, SVP oder welcher Partei sie auch immer angehören.

Seit ich 18 brennende Geburtstagskerzen mit einem spucknassen Luftstrahl löschen durfte, gehöre auch ich zur Zielgruppe der politischen Sammler. In Liechtenstein habe ich seither bei fast jeder Wahl und Abstimmung meine Kreuzchen gesetzt. Ich gehöre sogar zu jener seltenen Gattung, die einen kreuzlosen Stimmzettel ins Couvert steckt, wenn sie sich keine Meinung bilden will oder kann. Diesen Sommer wird meiner tadellosen Karriere als politischer Bürger aber ein Ende gesetzt: Ich verliere alle meine politischen Rechte.

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Politik interessiert mich schon seit die Pubertät ihren Zweck als natürliches Düngemittel erfüllt und mich von einem pummeligen Milchbubi zu einem ziemlich dürren Teenie-Riesen heranwachsen liess. Mit 14 ritzte ich „Es gibt 1000 gute Gründe auf dieses Land stolz zu sein, warum fällt uns jetzt auf einmal kein einziger mehr ein?” in das auf Scratching-Amateure wie mich regelrecht einladend wirkende Holz der Gymi-Pulte.

Mit 16 löste ich als wandelnder Widerspruch in einer mit antikapitalistischen Buttons verzierten H&M-Hose in der versifftesten Kellerbar der Region den Nahostkonflikt. Mit 17 erfreute ich mich als Teil der ersten antifaschistischen Initiative Liechtensteins des neuen Jahrtausends an neonazistischen Liebesgrüssen—„Denen sollte man einfach mal eine aufs Maul geben!”

Und mit 24 gründete ich als letztes politisches Projekt in meinem Heimatland mit Freunden die JUSO Liechtensteins. Über die letzten Jahre verschob sich aber mein Lebensmittelpunkt. Der ländliche Hort der Kleinbürgerlichkeit wurde abgelöst von gentrifizierten Stadt-Quartieren, feuchtfröhlichen Mittwochabend-Abstürzen und unterbezahlten Studi-Jobs—ich integrierte mich in Zürich. Im Sommer schliesse ich im Widerspruch zu allen persönlichen Langzeit-Horoskopen das Soziologie-Studium an der Uni Zürich ab—und möchte danach in Zürich bleiben, hier arbeiten und auch hier Steuern bezahlen.

Mit dem endgültigen Wegzug aus Liechtenstein werde ich nicht nur das—praktisch leere—Liechtensteiner Bankkonto verlieren, sondern auch mein Stimmrecht. Im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen europäischen Ländern dürfen Liechtensteiner, die im Ausland wohnen, in ihrer Heimat weder wählen, noch abstimmen. Für mich bedeutet das: Ich verliere einen Teil meiner Identität.

Das wäre nicht so schlimm. Identitätsverluste sind paradoxerweise ein wesentlicher Teil meiner Identität und die Liechtensteiner Politik verfolge ich sowieso kaum mehr. Die Schweiz hat Liechtenstein nicht nur als Wohnort abgelöst. Am 9. Februar des vergangenen Jahres kochte ich innerlich, als ich einen Nachmittag lang die Twitter-Hashtags #MEI und #abst14 verfolgte. Im Nebenfach Politik lernte ich, dass drei Prozent der Abstimmenden die Abstimmungsparolen ihrer Lieblingspartei nicht kennen—diese aber trotzdem als wichtigste Entscheidungsgrundlage ansehen. Und vor ein paar Monaten legte ich dem Pegida-Posterboy Ignaz Bearth nahe, seine Facebook-Likes zukünftig nur noch in heimischen Gefilden einzukaufen.

Trotzdem gibt es ein Problem: Ich habe keinen Schweizer Pass. Irgendwann haben die Ur-Eidgenossen beschlossen, dass—bis auf wenige Ausnahmen—nur Leute, die das Foto von ihrem grimmigen Gesicht in einem rot-weissen Pass kleben haben, wählen und abstimmen dürfen. Ich lebe also in einem demokratischen Vakuum.

So brav lächelte ich als aufstrebender Jungpolitiker

Die Bundeskanzlei der Vorzeigedemokratie Schweiz schreibt zwar auf ihrer Homepage: „In kaum einem souveränen Staat gibt es derart ausgebaute Mitbestimmungsrechte des Volkes wie in der Schweiz.” Schlussendlich konnte ich aber sogar in meinem ehemaligen Basketball-Verein mehr mitbestimmen. Jährlich überwiesen meine Eltern 100 Franken an die Magic Woodchucks. Dafür durfte ich nicht nur vor den Augen fanatischer Basketballer-Eltern über Hartplastikplätze rennen, sondern bei der Generalversammlung auch darüber entscheiden, ob das „Magic” im Namen gestrichen wird und ob das zusätzliche Budget für mehr Siegesfeiern bei McDonald’s oder die Nachwuchsförderung ausgegeben werden soll.

Im Verein Schweiz ist der Mitgliederbeitrag alias Steuern zwar um einiges höher. Nach dem Warmmachen muss ich aber im Trikot auf der Bank sitzenbleiben—mindestens für die nächsten zehn Jahre. Dann entscheidet sich, ob ich 600 Franken bezahlen möchte, um meinen Liechtensteiner Pass mit der Schweizer Variante zu ergänzen. In der Schweiz sind 64 Prozent der Bevölkerung stimmberechtigt. Von diesen beteiligt sich übrigens weniger als die Hälfte regelmässig an Wahlen und Abstimmungen.

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