Ich war Praktikant im größten Klärwerk Berlins

Arne deutet auf die nach vollgeschissenen, nassen Laken riechende graue Pampe vor sich. Ich trete näher und erkenne zwischen Klopapier, Tampons und Haarknäulen ein rotes Kondom, direkt daneben ein weißes. “Alles, was sich nicht im Abwasser auflöst, fischt die Rechenanlage raus”, sagt Arne. “Neulich hing da ein BH, den wohl jemand loswerden wollte.” Erste Erkenntnis meines Tags im Klärwerk: Nichts, was wir die Toilette runterspülen, ist wirklich verschwunden.

Das Klärwerk Ruhleben, in dessen weiß-gefliesten, hochdeckigen Hallen ich mich mit Arne befinde, liegt im Westen Berlins und ist das größte von den sechs Klärwerken der Stadt – allein hier fischen die Haken der Rechenanlage täglich fünf bis sechs Tonnen Tampons, Klopapier, tote Ratten und Plastikmüll aus dem Abwasser. Das füllt zwei Container mit Stinkepampe, für die über eine Million Berliner verantwortlich sind. Im Durchschnitt spült jeder einzelne von ihnen 100 Liter Wasser am Tag nach Ruhleben – so viel Trinkwasser, wie ein gesunder Mensch in zwei Monaten mindestens zu sich nehmen solle. Das Klärwerk nimmt das Dreckswasser und leitet es gesäubert in die Spree, wo es dann irgendwann als Grundwasser wieder ins Wasserwerk und als Trinkwasser durch den Leitungshahn kommt.

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Wer spült überhaupt sein Kondom die Toilette runter? Alle Fotos: Grey Hutton

Der Wasser-Kreislauf wahrt die Ordnung: Nur ganz selten verirrt sich ein menschlicher Kackhaufen auf die Berliner Gehwege. Die Spree stinkt nicht. Wir stecken uns nicht gegenseitig mit Salmonellen oder Bandwürmern an. Unsere Fäkalien sind in die privatesten der privaten Räume gebannt. Die Toilette, das Klärwerk und der Abwasserkanal sind die Grundpfeiler unserer modernen Zivilisation.

Denn es ist das oberste Gesetz der Tierwelt: Was lebt, das scheißt. Wenn wir fertig sind, spülen wir diese stinkende Kreatur, die wir erschaffen haben, per Knopfdruck in das schwarze Loch. Auf Nimmerwiedersehen! Aber halt! Was wirkt, als löse es sich in Luft auf, zerfällt tatsächlich höchstens ein bisschen im Wasser. Du bist nicht der einzige Mensch, der deinen Haufen zu Gesicht bekommen wird. Dein Anus ist nur der Anfang einer langen Reise.

Das Klärwerk Ruhleben, im Hintergrund die Faultürme

Und diese Reise wird von den Menschen begleitet, die im Klärwerk oder in der Kanalreinigung schuften. Sie sorgen dafür, dass die Ausscheidungen ihren Weg durch die 9.600 Kilometer lange Kanalisation finden, nicht im Stau stecken, sicher in einem der Klärwerke ankommen – und nicht etwa in die Spree schwimmen oder aus dem Gully hochquellen. Gesellschaftliche Anerkennung für die “Drecksarbeit” bekommen die Reiseführer nicht. Mit Scheiße zu arbeiten stigmatisiert. Im Klärwerk Ruhleben und im Abwasserkanal unter der Stadt will ich als Praktikant erleben, wohin die Kacke nach dem Spülen reist, und schauen, wer im Unsichtbaren unsere Zivilisation aufrechterhält.

Selbst die Frühstückseier haben im Klärwerk gute Laune

Die Hauptarbeit im Klärwerk Ruhleben besteht darin zu schauen, dass alle Maschinen und Anlagen ihren Job machen, denn die übernehmen den Großteil der Arbeit. In der Schaltwarte im turmartigen, kastenförmigen Hauptgebäude des Klärwerks sitzen fünf Männer auf gemütlichen Bürosesseln und schauen auf Bildschirmen, wie viel Wasser in die Anlage hineinfließt. Vor ihnen liegen Brötchen, Frühstücksei und Wurst. Sie tragen Latzhosen, damit sie im Notfall direkt ausrücken können, falls mal eine Warnmeldung aufploppt. Sollten sie draußen ein defektes Teil entdecken, rufen sie einen der Schlosser dazu, die sonst in ihrer Werkstatt an kaputten Maschinen herumschrauben.

Ein bisschen klischeehaft in der Schlosserei

In der Schlosserei hängen an den Werkbänken Kalender mit nackten Frauen und Bildern von Lamborghinis. Auf den ersten Blick könnte es eine normale Werkstatt sein, in der etwa Autos repariert werden – aber dafür riecht es dann doch zu streng nach Kot. Auf dem Boden liegt eine riesige, mit dunklem Schlamm verkrustete Schraube aus einem der Klärbecken – der Verursacher des Geruches. Das ist der Arbeitsplatz von Martin, Schlosser, 43 Jahre alt, fleischiges Gesicht, dicker Bauch, grauer Bart. Als ich mir die Hand vor den Mund halte, weil mir der Kot-Geruch in der Nase kitzelt, lacht er: “Da gewöhnst du dich dran.” Aber er versteht, was ich gerade durchlebe: “Wenn ich mal 14 Tage Urlaub hatte und wiederkomme, dann ist der Geruch für mich auch übel.” Früher hätte er direkt neben einem “Faulturm” gearbeitet, wo der Schlamm aus dem Abwasser verfault und Gas produziert, der dann zu Strom gemacht wird. Dort habe er “regelmäßig würgen” müssen.

Martin (links) und sein Kollege (Ich weiß, verblüffende Ähnlichkeit, aber sie sind nicht verwandt)

Toilette, Abwasserkanal, Klärwerk – das Triptychon unserer modernen Zivilisation ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Aber fiele nur eine Komponente aus, würden unsere Städte in einem fauligen Sumpf aus Kacke und Pisse versinken. Wir würden wieder in Nachttöpfe machen und die in den nächstgelegenen Park schütten. Im Mittelalter warf man zum Beispiel alle hygienischen Fortschritte der alten Römer über Bord. Denn die Sache mit der Kanalisation war schon vor zweitausend Jahren auf dem Mist der Römer gewachsen: Sie richteten öffentliche Latrinen ein, Löcher auf einer Steinbank ohne Trennwände (und ohne Geschlechtertrennung), auf der Mann und Frau miteinander bei ihrem Geschäft plaudern konnten. Die Notdurft fiel durch das Loch in einen Wassergraben, der in die Cloaca Maxima, den großen Abwasserkanal Roms, floss.


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Alles, was das Römische Reich sich in Sachen Klokultur erarbeitet hat, fiel in das finstere Loch des Mittelalters und kam da auch jahrhundertelang nicht mehr raus. Selbst noch am Hof von Louis XIV in Versailles gab es zwar 2.000 Zimmer, aber nur eine Toilette. Und in Frankfurt sollen Ende des 18. Jahrhunderts Männer und Frauen mit langen Umhängen als “mobile Abtrittsanbieter” gearbeitet haben: Man konnte unter ihren Mantel schlüpfen und dort gemütlich in einen Eimer kacken. So ging es, bis Alexander Cummings 1775 das Wasserklosett erfand. Aber es dauerte trotzdem noch 100 Jahre, bis die ersten Modelle in die Häuser montiert wurden.

Noch ein bärtiger Arbeiter im Klärwerk

In Europa war Wien 1739 die erste Stadt, die vollständig kanalisiert war. In Berlin wurde die Kanalisation erst rund 140 Jahre später angefangen zu bauen. Heute misst sie 9.600 Kilometer, das ist fast eineinhalbmal so lang wie der Durchmesser des Planeten Mars. Im Berliner Stadtkern findet man vor allem das “Mischsystem”, bei dem häusliches Abwasser und Regenwasser in denselben Kanal fließen. Modernere Kanäle in den Außenbezirken nutzen das “Trennsystem”, bei dem das Regenwasser direkt in Flüsse und Seen in der Nähe geleitet wird und somit nicht durch menschliche Ausscheidungen verdreckt wird – und dem Klärwerk unnötige Arbeit macht.

Frisches Wasser auf dem Weg in die Spree

Vergesst also Taj Mahal und Kolloseum: Klärwerke sind die wahren modernen Weltwunder. Wie genau eins funktioniert, erklärt Arne während unseres Rundgangs: Nach der Rechenanlage für die groben Dinge wie Papier, Gebisse, Zahhnbürsten und die ein oder anderen Schildkrötenpanzer, der sich in die Kanalisation verirrt (ja, ernsthaft, hier Beweisfotos), filtert ein Sandfang den feinen Schmutz, kleine Steine, Sand, Straßendreck. Das grob gereinigte Wasser fließt dann in ein Vorklärbecken, wo der Schlamm im Abwasser nach unten sinkt und Fette und Öle sich an der Oberfläche absetzen, um abgesaugt werden zu können.

Es folgt die biologische Reinigung in den Belebungsbecken: Bakterien und Mikroorganismen fressen Shampooreste, Kackepartikel, Sperma, Blut und alles andere, was wir nicht in unserem Badesee haben wollen – insgesamt 97 Prozent der Schmutzstoffe im Wasser. Die vollgefressenen Mikroorganismen sinken zu Boden und bilden den Klärschlamm (oder wie Arne sagt: den “vier Meter dicken Kackekuchen”). Der Klärschlamm wird in die Faultürme geleitet, um Biogas zu produzieren, das Strom für die Berliner erzeugt. Das gesäuberte Wasser fließt 24 Stunden nach der Ankunft endlich in die Spree und der wundervolle Kreislauf beginnt erneut.

Arne zeigt mir den Klärschlamm

Arne erklärt das aus dem Effeff: Er hat 29 Schichtjahre auf dem Buckel und wirkt mit seinem silbergrauen Haar, seinem schmalen Gesicht und dem immerwährenden Lächeln, als wäre er früher mal in einen Kessel voll Herzlichkeit gefallen. Und das, obwohl das Klärwerk nicht wirklich sein Sehnsuchtsort ist. Als Kind träumte er von Schafen und Weiden, vom Leben als Schäfer. Doch leider wuchs er im betonierten Berlin auf, wo sich die Lämmer höchstens tot am Spieß beim Türken drehten und die Mauer den Brandenburger Wiesen im Weg stand. Was es dafür in Berlin gab: eine ganze Menge Abwasser. So wurde Arne Schlosser im Klärwerk Ruhleben.

Träume hat er immer noch. Er macht seinen Pilotenschein, schraubt nebenbei an alten Mustangs herum oder schippert mit dem Motorboot über die Spree. Arne ist stolz auf alles, was er im Klärwerk mitverantwortet. Das Wasser in Berlin ist ihm heilig. “Das Leitungswasser in Berlin ist von besserer Qualität als alles, was du in der Plastikflasche verkauft bekommst”, sagt er. Wenn er über den Trend des “feuchten Toilettenpapiers” redet, wirkt er betroffen, denn das sei eine Sauerei für die Kanäle: “Normales Papier löst sich auf dem Weg zum Klärwerk oft schon auf, aber feuchtes nicht und kein Anbieter schreibt das auf die Verpackung. Das verstopft uns die Kanäle.” Und er redet über Indien, über das dreckige Wasser, die Krankheiten und die fehlende Kanalisation. Arne will die Welt hygienischer machen. Und er glaubt auch daran, dass er das kann, indem er Besucher über die Arbeit der Wasserbetriebe aufklärt.

“Adventure!”

Zum Ende des Tages möchte er mit mir auf einen der sieben 30 Meter hohen Faultürme fahren, um die Aussicht über die Kläranlage zu genießen. Nach oben soll uns ein Fahrstuhl von 1959 bringen. Leider bringt er uns 20 Zentimeter zu weit nach oben und wir bleiben stecken. Die Stahltür geht nicht mehr auf. Arne drückt den Notknopf. Als der Rettungstrupp anrückt, fällt auch noch das Licht aus. “Na, dit wird ja ein spannender Bericht!”, lacht Arne und zum englisch-sprechenden Fotografen meint er: “Adventure!” Unten höre ich die Männer murmeln: “Ich löse jetzt die Bremse” und “Halt hier mal fest, nicht loslassen, sonst geht’s runter”. Einmal kracht es, weil ein Werkzeug auf den Boden knallt. Ich habe Schiss. Nach langen 20 Minuten befreien uns unsere Retter.

Abstieg in die Kanalisation

Der Faulturm ist der höchste Punkt der Wasserbetriebe. Nun möchte ich zum tiefsten. Ein paar Tage später stehe ich im drei Meter breiten Kanal unter der Seestraße im Wedding mit beiden Beinen in der Scheiße und staune: die Cloaca Maxima, da ist sie. Dann höre ich ein Würgen neben mir, der Brechreiz des Fotografen. Einige Stunden vorher schwammen hier noch Kot, Toilettenpapier, Straßendreck und Essensreste in einem reißenden Fluss aus Abwasser, in dem zwei Kanalarbeiter hüfthoch versanken. Für Stunden versuchten die beiden Männer, die eingesetzten Dammbalken dicht zu machen und so den Kanal trockenzulegen, damit unten ein defektes Wehr inspiziert werden kann – und wir absteigen können. Es hat geklappt. Hellbrauner Kot, durchnässte Papierfetzen und das plätschernde Abwasser machen den Boden rutschig. Die Wände erinnern mich an eine dieser hippen Backstein-Tapeten, aber in vollgeschissen. Oder halt einfach an eine Backsteinwand, an der Scheiße klebt.

Was zur Hölle ist das alles?

Sechs Männer der Kanalbetriebsstelle Wedding wuseln in ihren neongelben Anzügen um mich herum. Jeder hat seine Aufgabe, seinen Platz im System: Zwei klettern herunter, die anderen reichen ihnen Sandsäcke, Folien und Scheren in einem Eimer von oben. Oder auch mal eine neue Mütze, denn unten fiel eine vom Kopf des Arbeiters ins Dreckswasser.

Die Seestraße im Wedding wurde abgesperrt

Einer der Männer ist Jörg. Ich frage ihn, ob ich überhaupt “Kanalarbeiter” zu ihm sagen darf. Jörg ist 48 und schon seit 25 Jahren dabei. “Heute heißt es Fachkraft für Rohr-, Kanal- und Industrieservice”, sagt er, “aber Kanalarbeiter ist in Ordnung.” Vor 25 Jahren sei das aber auch noch eine ganz andere Arbeit gewesen – viel mehr Drecksarbeit. “Viel geschieht heute mit Hilfe von ferngesteuerten Robotern”, sagt Martin, der Fahrer des Teams, die Arbeit sei weniger körperlich als früher. Die Roboter fahren durch das Kanalnetz, filmen und reparieren undichte Stellen. Nur fünf Prozent der Berliner Kanäle sind nämlich so groß, dass man sie überhaupt begehen und manuell reinigen kann – die kleinsten haben den Durchmesser einer Handfläche. Vor 25 Jahren wurde im Kanal auch noch “geschalt”, erzählt Jörg. Das sei wie Goldschürfen gewesen: Mit einer Schaufel wühlten die Arbeiter durch den Schlamm, auf der Suche nach verlorenem Zahngold und Eheringen. Heute fände das Team aber nur noch Regenschirme oder Verkehrsschilder, sagt er, der Rest verschwindet mit dem Dreck im Saugwagen.

These boots are made for walking

Als ich unten im Kanal stehe, denke ich: Von hier unten betrachtet ist die Welt einfach. Im Kanal fließen die kleinen und großen Geschäfte aller Menschen zusammen, egal wie reich, egal wie arm, egal wie rechts oder links sie sind. Und die Männer, die hier arbeiten, sind stolz. Zu Recht. Ihre Arbeit ist essentiell für jeden einzelnen von uns da oben.

Aber länger als nötig muss ich dann auch nicht bleiben. Die mit dunkelbraunem Dreck verkrusteten Griffe führen mich aus dem Gullyloch, zur Frischluft. Oben warten in einem der Wagen Bockwürstchen auf einer kleinen mobilen Herdplatte. Dazu reicht Martin dampfenden Kaffee in Plastikbechern. Ein bisschen Kacke klebt an meiner Schulter. Aber das gehört halt dazu, wenn man unsere Zivilisation erhalten will.

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