Der Wecker klingelt, ich steh auf, mach mir einen Kaffee und klappe meinen Laptop auf. In einem noch geöffneten Tab klick ich “Play” und schlürf mein Müsli, während Adriana Chechik von ihrem “Stiefbruder” heimlich unterm Esstisch befriedigt wird. Ich spul vor zu ihrem Orgasmus, dann wieder ein bisschen zurück, weil ich nicht rechtzeitig den Screenshot gemacht hab. Willkommen in meinem Berufsalltag! Ich lebe den Traum eines Teenagers: Ich lass mich fürs Porno-Gucken bezahlen.
Gerade bin ich bei einer Konferenz in Italien, wo meine überschaubare, aber wachsende Wissenschafts-Community jedes Jahr zusammenkommt. “Meine Pornofamilie” nenne ich sie liebevoll. Treffpunkte wie diese sind rar und wichtig. Hier müssen wir uns nicht verstecken, rechtfertigen, zensieren. Hier sind sich alle einig, dass Porno akademischer Gegenstand sein kann – und muss. Allein auf Pornhub werden jede Minute über 10.000 Stunden Pornoclips konsumiert. Wir sollten verstehen welche; wie, von wem und warum.
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Am Abend sitzen wir im Kino und begutachten auf großer Leinwand, was der Gegenwartsporno zu bieten hat. Wir lauschen dem halb-gestöhnten Gespräch über Konsens bei einem sexy Aufklärungs-Dreier, frieren mit zwei nackten Frauen im finnischen Schnee, verlieren zwischen Strap-ons und Squirten den Überblick über Körperflüssigkeiten und Genderidentitäten. Als wären wir alte Hasen der Branche fragen wir uns hinterher gegenseitig beim semi-professionellen Glas Wein: “Und wie sind Sie beim Porno gelandet?”
Für mich beginnt eigentlich alles vor fünf Jahren, als ich als Amerikanistik-Studentin in meiner Recherche zu Moby Dick in der Kunst ungewollt über einen Porno nach dem anderen stolpere. Blödes Wortspiel halt, denke ich. Moby Dick, höhö. Aber dann war da dieses eine Vorschaubild von einer nackten Frau nur mit dem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß. Ich war neugierig, klickte drauf, und hatte auf einmal so viele Fragen: Warum macht sich ein Porno die Mühe, eine Geschichte um diesen Literaturklassiker zu spinnen? Geht es nicht eigentlich nur um Sex? Soll das lustig sein? Und ist das nicht kontraproduktiv? Ich war angefixt. Und fand mehr: ein walpenisförmiger Analstretching-Dildo, ein animierter Schwulenporno mit Matrosen-Ishmael, maritime Furry-Fantasien, und und und. Moby’s Dick war der Titel meiner Masterarbeit – und die Faszination Porno hatte mich.
Pornos werden in der Wissenschaft noch immer stigmatisiert
Ausgedacht habe ich mir die Pornowissenschaften (leider) nicht. Das tat Filmwissenschaftlerin Linda Williams schon in den späten 80ern, in Kalifornien. Natürlich! Sie hatte die sogenannten Pornokriege satt, die sich Feministinnen lieferten, seitdem 1972 Deep Throat in New Yorker Kinos lief und Pornos auf einmal allgegenwärtig schienen. Sie wollte nicht über die ermüdende Frage nachdenken, ob und welchen Schaden Pornos anrichten. Stattdessen wollte sie verstehen, wie dieses Medium funktioniert, wie es sich entwickelt hat, was Menschen daran anzieht. Genau dieser analytische, statt wertende Blick macht die Porn Studies aus, die sich in den USA langsam, aber sicher als akademisches Feld etabliert haben, in Deutschland aber eher noch ein Geheimtipp sind.
Auch mir haben viele von diesem Weg abgeraten. “Wollen Sie wirklich den Porno-Stempel tragen?”, fragt mich eine Professorin besorgt. “Damit verbauen Sie sich Ihre Karriere”, werde ich wiederholt gewarnt. Sie meinen es alle nur gut, das weiß ich, aber es frustriert mich, dass der akademische Nachwuchs nicht in einem innovativen Ansatz bestärkt, sondern ausgebremst wird.
Wenn wir alle immer nur auf Nummer sicher gehen und am Kanon kleben, kann sich (Geistes-)Wissenschaft nie weiterentwickeln. Aus dieser Überzeugung, und sicherlich auch aus einem gewissen Maß Spätzwanziger-Trotz heraus, bleibe ich dabei. Mit einem Projekt zum Mythos Pornosucht bewerbe ich mich auf die damals einzige passende Promotionsstelle und trotz (oder sogar wegen?) meines Themas bekomm ich sie. Ha!, triumphiere ich still. Sie haben sich getäuscht.
Auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft fehlt es an Räumen, wo wir wertungsfrei über Sex sprechen können.
Heute weiß ich: Sie hatten auch Recht. Es war naiv zu glauben, dass es im 21. Jahrhundert in Deutschland absolut kein Problem sei, sich wissenschaftlich mit Pornos auseinanderzusetzen. Nicht dass es illegal und gefährlich wäre wie in Indien oder China, nicht dass christliche Fundamentalisten dagegen demonstrierten wie in den USA – aber ein dickes Fell, das braucht man schon. Vom Tuscheln hinterm Rücken, übers Augenrollen, bis zum direkten Angriff on- wie offline ist alles schon vorgekommen. Die einen belächeln mich als nicht ernstzunehmende Wissenschaftlerin, die anderen fürchten mich als gestörtes Sexmonster. Viele Feministinnen sehen mich als patriarchale Verräterin, während das Patriarchat mich als Feministin beschimpft. Ich sei “zu süß”, um über Pornos zu schreiben, stellt jemand fest, die sich offenbar mehr Tattoos und Silikonbrüste wünscht. Sorry. Jemand anderes meint, ich solle lieber “leise” meiner Forschung nachgehen, um dem Ruf meiner Uni nicht zu schaden. Ein Wunder, dass der hier praktizierende Exorzist noch nicht bei mir angeklopft hat! Aber ich arbeite dran.
Wenn ich eins gelernt hab in meinem Dasein als Pornoforscherin, ist es anzuecken. Als jemand, die ihr ganzes Leben lang angepasst war und lächelnd versuchte, Erwartungen zu erfüllen, hat das auch etwas Befreiendes.
Natürlich reagieren viele, vor allem außerhalb des Unibetriebs, auch positiv auf mein Forschungsgebiet. “Damit kann man ja endlich mal was anfangen!” Die Analyse postmoderner Elemente im amerikanischen Roman führt auf Geburtstagspartys eher selten zu neugierigen Nachfragen. Aber wer über Pornos schreibt, steht schnell im Mittelpunkt. Ich habe eine Klitoris als Schlüsselanhänger, falls ich spontan über den weiblichen Orgasmus referieren soll. Beim Spieleabend diskutieren wir über Lecktücher, beim Kaffee über den Berufsalltag von Dominas oder den Zahnspangentrend bei Pornodarstellerinnen. “Ich schick dir den Link”, höre ich oft und gerne und freue mich, wie sich das Thema in meinem Umfeld schon normalisiert hat.
Ich habe gefühlt schon immer Pornos geschaut
Auch mehr oder weniger Fremde fühlen sich ständig dazu animiert, mir ihre sexuellen Fantasien oder Sorgen zu offenbaren. Gerne lausche ich nach einer Lesung den Pornokonsumgewohnheiten der jungen Lektorin oder lerne beim Konferenzdinner, wie Weihnachten die Fantasien eines Fachkollegen beeinflusst. Weniger gern lasse ich mir zwinkernd von einem Professor vorjammern, dass er es sich “ja noch zu Fanny Hill besorgen” musste. Es ist ein schmaler Grat zwischen Befreiung und Grenzüberschreitung.
Erschreckend finde ich das Maß an Scham, dem ich begegne: “Mein Kind masturbiert, meine Vulva sieht komisch aus, irgendwie stehe ich auf anal.” “Völlig normal”, höre ich mich immer wieder sagen. Ego te absolvo. Es macht mich traurig, wie viele Menschen scheinbar niemand anderes haben, um ihre Ängste oder Wünsche zu teilen. Auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft fehlt es an Räumen, wo wir wertungsfrei über Sex sprechen können.
“Schauen Sie sich das auch wirklich an?”, werde ich oft gefragt. Selbstverständlich nicht! Wie jede gute Doktorandin denke auch ich nur hypothetisch darüber nach, was womöglich zu sehen sein könnte. Mal ehrlich, bei welchem anderen Forschungsgegenstand würde diese Frage gestellt? Porno ist immer ein Sonderfall. Ob ich mich nicht “ekeln” würde, hör ich dann meist. Wäre ich ein Mann, würde mir vermutlich ständig vorgeworfen, dass ich das Ganze nur mache, um mich aufzugeilen. Bis sich herumgesprochen hat, dass auch Frauen Spaß am Porno-Konsum finden, nutze ich diesen Irrtum für mich. Berührungsängste hatte ich nie. Ich habe gefühlt schon immer Pornos geschaut, mich aber auch immer dafür geschämt. Das ist zum Glück vorbei. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal den Inkognito-Modus bemüht oder meinen Verlauf gelöscht hätte. Allein für diese Freiheit hat sich das alles gelohnt.
Wenig macht mich glücklicher, als zu sehen, wie es dabei in den jungen Köpfen rattert, sie ihre Annahmen hinterfragen, und völlig neue Perspektiven auf Sex, Gender und Körper kennenlernen.
Der dankbarste und sinnstiftendste Teil meines Jobs ist zweifelsohne die Lehre. Für “ununterrichtbar” halten viele dieses Thema, aber das stimmt schlicht nicht. An verschiedenen Unis habe ich einzelne Sitzungen, im letzten Semester dann ein komplettes Porno-Seminar angeboten. Und ja, wir haben uns das wirklich angeschaut! Woche für Woche habe ich gemeinsam mit rund 50 Studierenden ausgewählte Pornoszenen von Rocco Siffredis Gonzo-Film bis hin zur queer-feministischen Produktion auseinandergenommen.
Wenig macht mich glücklicher, als zu sehen, wie es dabei in den jungen Köpfen rattert, sie ihre Annahmen hinterfragen, und völlig neue Perspektiven auf Sex, Gender und Körper kennenlernen. “Können Sie diesen Kurs bitte jedes Semester anbieten?”, heißt es hinterher in den Evaluationen. Experiment geglückt.
Eine der häufigsten Reaktionen auf mein Forschungsthema ist die Frage: “Was denken Ihre Eltern darüber?” Mit Anfang 30 sollte das eigentlich keine Rolle mehr spielen, oder? Ich habe jedes Mal das Bedürfnis zu verdeutlichen: “Ähm, ich SCHREIBE über Pornos, ich DREHE keine.” Nicht dass hier die Abwertung angemessen wäre, aber es ist schon spannend, wie das Stigma um Sexarbeit kurzer Hand auf mich übertragen wird. Niemand, so denken sie, möchte die eigene Tochter mit der Pornoszene in Verbindung sehen. Und so unangemessen ich die Frage finde, ganz falsch liegen sie damit nicht.
Meine Mutter ist mit dem sex-negativen Feminismus der 70er Jahre groß geworden. PorNO, hat Alice Schwarzer ihr eingetrichtert. Als sie von meinem Thema erfährt, fragt sie: “Aber was soll ich denn sagen, wenn jemand fragt?” Das aus dem Munde einer Frau, die Chucks auf einen roten Teppich trägt und sich eigentlich nicht um das Urteil anderer schert. Aber Menschen können lernen. Heute likt sie es, wenn ich bei Facebook Fotos vom Pornofilmfestival poste, erinnert mich daran, mich beim Hurenkongress anzumelden, bügelt mir meine Bluse für die Venus. Sie kommt sogar zu einem Vortrag von mir, obwohl sie dem akademischen Englisch kaum folgen kann. Ich glaube, es hat ihr trotzdem geholfen zu sehen, wie diese arrivierten Männer dasitzen, mir zuhören, Notizen machen. Nichts Anrüchiges, sondern seriös. Dröge sogar. Wissenschaft halt. Sie hat sich meinen Text hinterher von Google übersetzen lassen und aus dem darin mehrfach vorkommenden Wort “porn scholar” wird: “Pornogelehrte”. Gefällt mir.
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