Am 13. Februar 2016 stach ein offenbar psychisch kranker Mann in Berlin-Kreuzberg auf drei Frauen ein. Am 16. Februar konnte der Mann festgenommen werden, nachdem er erneut auf eine Frau eingestochen hatte. Der Mann weist laut Polizei psychische Auffälligkeiten auf und ist in der Vergangenheit bereits durch „verschiedene Delikte und auch Gewalttaten” auffällig geworden. So weit so bekannt, aber wie fühlt es sich an, wenn man plötzlich Opfer einer solchen Gewalttat wird? Anne wurde am Samstag von dem Täter niedergestochen und entschloss sich, für uns ihre Geschichte aufzuschreiben.
Alle rasten aus. Die Firma schickt Blumen und französisches Gebäck, mein Telefon glüht, alte Kontakte tauchen aus der Versenkung auf und von allen Seiten gratuliert man mir dazu, wie couragiert mein Verhalten sei, wie „lässig” ich das alles nehme. Im Vorbeigehen rammte mir ein Typ in desolatem Zustand sein Messer ins Bein und nun bin ich gefeierte Heldin mit zweifelhaftem Glück.
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Am Samstag—meine Halbtagsschicht im Büro hatte ich beendet und bog vom Oranienplatz in die Oranienstraße ein—freute ich mich gerade über den strahlenden Sonnenschein, als mir ein Typ entgegen kam, der dies scheinbar nicht bemerkt hatte. Mütze, Hoodie, Parka, alle Kapuzen tief ins Gesicht gezogen—eine Sekunde Blickkontakt genügte, um zu begreifen, dass das einer dieser finsteren Typen war, zu denen man den Blickkontakt wohl besser nicht provoziert. Also wich ich ein Stück zur Seite und senkte den Kopf, als er an mir vorbeischritt. Da verspürte ich einen plötzlichen Schmerz seitlich im Oberschenkel. Mir wurde schon von Fremden auf den Hintern geklapst, ich wurde in die Seite gepikst, ein Freund fing sich auch schon mal aus heiterem Himmel eine Ohrfeige von einem Passanten, aber das hier war ein komischer Schmerz. Ich drehte mich verwirrt um und sah den Typen um die Ecke biegen. Der stechende Schmerz wurde stärker. Ich hob meinen Mantel und meinen Rock und sah eine Wunde, deren Optik mich an eine aufgeplatzte Pflaume erinnerte. „Fuck, wie ekelhaft! Wie das aussieht! Bloß nicht speiben jetzt!” waren meine einzigen Gedanken.
Die folgenden Ereignisse überschlagen sich in meiner Erinnerung.
Eine Jugendliche spricht mich an, fragt, was passiert sei, ist aber überfordert, als ich sage, ich sei gerade abgestochen worden, und so geht sie weiter, als mich die nächste Passantin anspricht. Sie trägt ihr Baby im Tragetuch vor ihrem Bauch. Ich starre noch immer auf mein Bein. „Hat dich gerade ein Typ mit Bart mit dem Messer verletzt?” Ich nicke. „Dann bin ich doch nicht verrückt! Der kam mir gerade entgegen und wollte nach meinem Baby stechen! Ich konnte ihn gerade noch wegschubsen. Bist du OK? Komm’, setz’ dich erstmal hin!”
Während sie den Notruf wählt, schreibe ich meinem Chef per WhatsApp. Dann rufe ich meinen Kollegen im Büro an, um ihn zu warnen, dass ein Messerstecher seine Runde macht. Keine drei Minuten später bin ich umzingelt von der Passantin mit Baby, sechs Polizisten, meinem Arbeitskollegen samt Verstärkung aus dem Office und zwei Sanitätern, die sich beim Verladen freuen, dass ich ihr erster „normalgewichtiger” Fahrgast des Tages bin.
Drei Stunden hänge ich in der Notaufnahme und schließlich verstehe ich, was dieser „Schock” ist, in dem ich mich laut Ärztemeinung befinde. Der Kriminalkommissar vor Ort bittet seine Kollegin, ein Foto von mir zu schießen, das könne sinnvoll sein, um ein Täterprofil zu erstellen oder ein Motiv zu ermitteln. Es zeichne sich so langsam ab, dass es der Täter auf attraktive Frauen abgesehen habe. Ich frage ihn, ob er der Meinung sei, dies seien die richtigen Umstände, mit mir zu flirten, und zwinkere ihm zu. Er vertagt die Befragung und erklärt mich für nicht vernehmungsfähig. Eine weitere geschlagene Stunde sitze ich nach meiner Sonografie im Rollstuhl auf einem menschenleeren Flur der Charité. Ich heule Rotz und Wasser, ohne aufhören zu können. Wirre Gedanken gehen mir durch den Schädel.
„Was, wenn das das Messer war, mit dem sich der Fremde üblicherweise den Schorf vom Bein kratzt und ich in ein paar Monaten die Gewissheit habe, mich mit Krankheiten angesteckt zu haben? Was wäre gewesen, wenn das Messer etwas größer gewesen wäre, er in den Oberkörper, nicht in den Oberschenkel gestochen hätte? Hätte ich irgendwie reagieren oder irgendwas verhindern können? Wie soll der Typ aus dem Verkehr gezogen werden, wenn der aussieht wie 80% der üblichen Kotti-Hänger?! Warum holt mich hier nicht endlich irgendein Pfleger ab? Ich muss pinkeln!”
Nach kurzer Panikattacke, nachdem man mich endlich zugenäht hat, nachdem meine Kumpel Martin und Levi mich abgeholt, eine Pizza mit mir gegessen und mich nach Hause geschleppt haben, sitze ich mit meinem besten Freund am Tisch und werte die ersten Zeitungsartikel aus. „Irrer Messerstecher läuft Amok”. In der Glotze laufen Die durch die Hölle gehen und Davongekommen – Unglaubliche Überlebensgeschichten. Ich will das Geschehene ja ernstnehmen, aber wir müssen ob der Umstände so sehr lachen, dass ich beschließe, mich nicht weiter gedanklich mit eventuellen Krankheiten selbst zu traumatisieren, die Stichverletzung zu nehmen wie ein echter Gangster und das Universalargument, immerhin abgestochen worden zu sein, zum Running Gag zu machen.
Shit Happens und die Übertragung von HIV per Messerstich ist eher unwahrscheinlich, aber in jedem Fall empfehle ich, in den asiatischen Raum zu verreisen, bevor ihr euch von einem psychotischen Fremden ein Messer ins Bein rammen lasst. Dann übernimmt eure Krankenkasse auch die Hepatitis-Impfung, die ich in diesem Fall selbst zahlen musste!
Nach mir und der Frau mit Baby griff der Täter eine weitere Frau an, die er am Bein verletzte. Drei Tage und ein weiteres Opfer später konnte er gestellt werden. Dass die Taten der beiden Tage zusammenhängen, bestätigte die Identifizierung bei der Kripo. Der Täter sitzt mittlerweile in der forensischen Psychiatrie.
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