Alex ist 17 Jahre alt, als er sich seiner ersten Schönheits-OP unterzieht. Ein Arzt korrigiert ihm seinen Überbiss. Danach fühlte er sich wie ein neuer Mensch, erzählt er: “Ich kam nach den Ferien in die Schule zurück und hatte nach vier Woche meine erste Freundin.” Die Operation im Sommer 2016 bezeichnet er heute als “Erweckungserlebnis”. “Ich will nicht sagen, dass gutes Aussehen alles im Leben ist, aber es hat meins definitiv erleichtert.”
Überwältigt von seinem plötzlichen Erfolg begann Alex sich immer mehr mit seinem Aussehen zu beschäftigen. Er überlegte, was er noch an sich verändern könnte. So wie Alex, der in einer deutschen Großstadt wohnt, denken nicht nur ein paar Männer. Gleich hunderte von ihnen versammeln sich täglich auf einem seltsamen Selbsthass-Forum, in das auch Alex kurz nach seiner Kiefer-OP immer wieder zurückkehren sollte: “Lookism.net”.
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Lookism.net ist Teil der sogenannten Manosphere, ein Sammelbegriff für frauenfeindliche Internet-Subkulturen. Ein bedeutender Teil dieser Community identifiziert sich als Incel. So bezeichnen sich sexlose junge Männer, die Frauen für ihr unfreiwilliges Zölibat verantwortlich machen. Allen Anhängern der Manosphere, die auch YouTube und Discord-Server bevölkert, ist jedenfalls eine Weltanschauung gemein: Sie stilisieren sich als Außenseiter und glauben, unter einer Gesellschaft zu leiden, in der nur oberflächliche Frauen und attraktive Männer das Sagen haben.
VICE-Video: So lebt ein Incel
Brutale Ablehnung und kumpelhafte Unterstützung: Was die Lookism-Nutzer erwartet
Alex haben wir auf dem Forum Lookism.net angeschrieben, um zu erfahren, was er dort sucht und findet. “Auf Lookism geht es um männliche Ästhetik”, sagt er. Eine milde Formulierung: Im Unterforum “Rate Me” laden User Selfies hoch und bewerten sich mit brutaler Abschätzigkeit: “4/10, du hast ein richtiges Schwanzlutschgesicht”, antwortet ein User auf das Foto eines 18-Jährigen, der die Diskussion mit der Überschrift “Ist es vorbei für mich?” eröffnete.
Die Ironie des Forums ist, dass sich die User gegenseitig wieder aufhelfen, nachdem sie sich zu Boden getreten haben. Das Forum dient als wahnhafter Lifestyle-Ratgeber: Unzufriedene, die glauben, dass der Schlüssel zu einem guten Leben vor allem im guten Aussehen liegt, holen sich in der Community Tipps zur Selbstoptimierung. Sie suchen nach Wegen, um auf der Bewertungs-Dezimalskala des Forums aufzusteigen und vielleicht irgendwann zum sogenannten “Chad” zu werden.
“Manche behandeln sich selbst und verletzen sich dabei schwer”
Der “Chad” ist ein Begriff, der aus der Incel-Subkultur stammt. Für die User ist er das männliche Schönheitsideal der Gesellschaft, er ist ihr feuchter Wunschtraum und gleichzeitig ihr Hassobjekt, das über den Tellerrand der Manosphere hinaus zum Meme wurde.
Ein “Chad” sieht in den kruden Zeichnungen aus den Incel-Foren ein bisschen aus wie eine GI-Joe-Puppe. Er ist muskulös, hat eine markante Kinn-und Kieferlinie und übertriebene Proportionen. Genau diese Attribute, glauben die Männer aus der Manosphere, verschaffe ihnen einen unschlagbaren Vorteil bei Frauen.
Der Versuch der Verwandlung vom introvertierten Incel zum automatisch begehrten “Chad” nennt die Szene “Looksmaxxing” und meint damit sämtliche Maßnahmen der körperlichen Selbstoptimierung. Das reicht von Diäten über Kiefermuskeltraining bis hin zur chirurgischen Eingriffen wie Haartransplantationen oder gar Beinverlängerungen.
Auch Alex betreibt Looksmaxxing. Er achtet auf eine gesunde Ernährung, ließ sich aber auch schon Hyaluronsäure unter die Haut spritzen, um seine Gesichtszüge markanter zu machen. Sogenannte Filler-Behandlungen seien keine Seltenheit. “Manche behandeln sich selbst und verletzen sich dabei schwer”, sagt er.
Kinn-Implantate für das “Anteface” – Wenn aus Incel-Theorie echte Operationen werden
Die User fachsimpeln auf Lookism seitenlang über die “perfekten” Maße eines Kinns oder den “korrekten” Abstand zwischen Nase und Oberlippe. Veränderungen am eigenen Körper dokumentieren sie akribisch und spornen sich auch zu chirurgischen Eingriffen an. So zeigt ein User namens “GetLooksOrDieTryin” mit Vorher/Nachher-Bildern die Ergebnisse seiner mehrfachen Kieferoperation und Barttransplantation. Die User beglückwünschen ihn für seinen “Aufstieg” und fragen, ob er schon zum “Slayer”, also zum begnadeten Frauenaufreißer geworden ist.
Der User behauptet, sich bei einem Berliner Schönheitschirurgen unters Messer gelegt zu haben. 9000 Euro habe seine Krankenkasse für die Operation bei Dr. Zarrinbal springen lassen – nachprüfen lässt sich das kaum. Ramin Zarrinbal, oder “Dr.Z.”, wie er im Forum genannt wird, gilt als Koryphäe der Looksmaxxing-Szene. Auch Alex kennt ihn schon. “Incels reisen aus den USA oder aus der arabischen Welt zu ihm, um sich operieren zu lassen”, sagt er.
Kann das sein? Als wir den Chirurgen kontaktieren, um mehr über sein Klientel zu erfahren, lässt uns seine Assistentin abblitzen. Doch Zarrinbal ist nicht der einzige Schönheitschirurg im deutschsprachigen Raum, bei dem die Lookism-User einen begehrten Termin suchen. In einem Thread wird eine ganze Liste von Fachärzten geführt, die den “Aufstieg” ermöglichen sollen.
Einer davon ist der deutsche Dr. Hermann Sailer, der eine Privatklinik in Zürich leitet. Seine Frau Erica, die als sogenannte ästhetische Beraterin in der Klinik arbeitet, berichtet VICE: “Männer kommen zu uns und wollen ein dominantes Kinn und markante Wangenknochen. Wir bekommen immer mehr Anfragen von jungen Männern aus Deutschland, es herrscht ein unglaublicher Trend.”
Auf Sailers Website stolpert man mehrfach über den Begriff “Anteface”. Er bezeichnet eine Theorie Sailers, die davon ausgeht, dass sich der menschliche Unterkiefer im Laufe der Menschheitsgeschichte nach vorne geschoben hat und dadurch zum Schönheitsideal wurde. Das “Anteface” listet auch ein Incel-Wiki als Unterpunkt einer “Looks Theory” auf. Chirurgen wie Sailer bieten der Lookism-Community demnach nicht nur eine Anlaufstelle, sondern teilen und unterfüttern ihre Weltanschauung.
Erica Sailer bestätigt, dass sie Männer kontaktieren, die über Lookism.net oder vergleichbare Foren auf ihre Klinik gestoßen sind. Die Frage, wie viele davon sich tatsächlich den Kiefer operieren lassen, beantwortet sie nur vage: “Wir spritzen ja nicht einfach ein bisschen Hyaluronsäure oder Botox, wir verändern Gesichter. Das können sich Teenager und junge Erwachsene oft gar nicht leisten.”
Warum so viele in Looksmaxxing-Foren ihren Selbsthass zelebrieren
Die Zahl der User, die tatsächlich den Schritt zur Operation wagen, scheint eher klein zu sein. Doch was treibt den Rest der Männer in ein Forum, in dem Menschen ihre Selfies posten, um sich erniedrigen zu lassen? Und warum sind so viele Deutsche aktiv?
Alex berichtet, dass viele User lediglich rumtrollen würden. So erzählt auch der 22-jährige Maschinenbaustudent Tom VICE: “Ich bin nur zum Spaß hier. Eigentlich habe ich auch nichts gegen Frauen. Doch es stecken auch viele Wahrheiten hinter den Witzen”, findet er. “Lookismus ist real und wer das abstreitet, sieht entweder gut aus oder versucht, alles zu verdrängen.”
“Lookismus ist real. Wer das abstreitet, sieht entweder gut aus oder versucht, alles zu verdrängen”
Als junger Mann mit südostasiatisch gelesenem Aussehen fühlt sich Tom in Deutschland benachteiligt. Trotz guter Noten bekomme er keinen Job, weil Frauen in seinem Sektor bevorzugt würden. Darunter leidet sein Selbstwertgefühl – bis zur Selbstentwertung. Er erzählt, dass er sich eine Freundin wünscht, aber wegen seiner Schüchternheit immer abgewiesen wird. “Ich komme bei Frauen ziemlich langweilig und sogar autistisch rüber. Das liegt auch an meinem asiatischen Aussehen”, glaubt er.
Warum er dann ausgerechnet Hilfe und Unterstützung im Lookism-Forum sucht, weiß Tom wohl selbst nicht. Die Beiträge dort triefen vor Rassismus. Als ein junger Araber um einen Rat zu seinem Aussehen bittet, lautet die harsche Antwort zum Beispiel: “Sei einfach weiß.”
Wer hinter Lookism steckt: Der Admin ist sich keiner Schuld bewusst
Der Admin und Gründer der Website bestätigt, dass sich viele deutsche User im Forum tummeln. “Die Deutschen sind meiner Erfahrung nach introvertierter als zum Beispiel Amerikaner. Da ist es nur logisch, dass sie sich vor der Kommunikation mit Frauen fürchten und sich vermehrt online mit dem Thema Dating beschäftigen.
“The_Coordinator”, wie sich der Admin nennt, wohnt zum Zeitpunkt der Recherche in Berlin. Er gibt an, ein junger Erwachsener zu sein, der in der IT-Branche arbeitet. Mit dem Forum wolle er Männern wie Tom eine Perspektive geben. “Seitdem Online-Dating populär geworden ist, fällt es Männern schwer, eine geeignete Frau zu finden”, sagt er. “Mein Forum bietet ihnen eine Plattform, um diese Probleme offen und unzensiert anzusprechen.”
“Online-Dating zwingt uns alle zum Wettbewerb, Aussehen ist eine immer wichtigere Komponente im Zeitalter der Digitalisierung.”
Dass viele der User wild mit sexistischen oder homofeindlichen Parolen um sich werfen, lässt den Urheber der Seite kalt: “Ich glaube nicht, dass User hier feindseliger als andere junge Männer sind. Es wird nur das offen ausgesprochen, was sich sowieso viele Männer denken. Die Posts im Forum sind nur ein ungetrübtes Spiegelbild unserer Gesellschaft.”
Auch beim Vorwurf des Rassismus ist der Admin sich keiner Schuld bewusst: “Es ist Quatsch, dass hier nur weiße Männer unterwegs sind, die der Alt-Right-Bewegung angehören. Wir haben User aus allen Ecken der Welt. Es ist im Forum nur gestattet, offen über ethnische Unterschiede zu diskutieren, die sich Anthropologen und Biologen nicht trauen würden, anzusprechen.”
Looksmaxxing sei dabei kein Phänomen, das die Szene neu erfunden habe. “Heute gehen alle ins Fitnessstudio oder ins Solarium und machen Sport”, sagt der Admin. “Online-Dating zwingt uns alle zum Wettbewerb, Aussehen ist eine immer wichtigere Komponente im Zeitalter der Digitalisierung.”
Expertinnen sagen, Lookism ist “Selbstzurichtung nach neoliberalem Leistungsprinzip”
Die Journalistin und Autorin Veronika Kracher betrachtet das, was für viele Lookism-User vielleicht nur ein Spiel ist, kritisch. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit toxischer Männlichkeit in Online-Subkulturen. In Ihrem Buch Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults geht sie genau dieser verschwommenen Trennlinie zwischen Trolling und menschenfeindlicher Ideologie auf den Grund.
Laut Kracher verändere es die Psyche eines jungen Mannes nachhaltig, wenn er sich jeden Tag in destruktiven Foren herumtreibt und sich beschimpfen lässt. “Es ist kein Wunder, dass viele einen brutalen Hass auf die Menschheit und ihren Körper entwickeln. Irgendwann nimmst du das Welt- und Selbstbild an, über das du am Anfang noch Späße gemacht hast”, sagt sie zu VICE.
Hinzu komme, dass die Männer nicht nur anderen, sondern auch sich selbst schaden. “Looksmaxxing ist Selbstzurichtung nach neoliberalem Schönheits- und Leistungsprinzip. Die Männer tun sich damit ja nichts Gutes.” Durch das Abtauchen in der Echokammer entstehe ein Abhängigkeitsverhältnis, das Kracher mit einer toxischen Beziehung vergleicht. Für viele werde die Online-Community zur Familie, zwischenmenschliche Kontakte werden zunehmend vernachlässigt.
Kracher befürwortet, dass diesen Männern Hilfe geboten wird und fordert Präventionsarbeit: Eltern und Pädagogen sollten kritische Jungenarbeit leisten und heranwachsenden Männern ein gesundes Selbstbild vermitteln, das sich nicht an einer imaginären Figur wie dem “Chad” orientiert. Den morbiden Frauenhass der jungen Männer entschuldigt sie allerdings nicht: “Diese Männer machen es sich zu einfach. Anstatt die patriarchalen Strukturen zu hinterfragen, unter denen sie leiden, finden sie in Frauen und queeren Menschen einen Sündenbock und schieben die ganze Verantwortung von sich.”
Hinter der Selbsterniedrigung steckt ein tragischer Widerspruch
Die Recherchen zeigen, dass gerade unter deutschsprachigen Usern ideologische Widersprüche herrschen. Auch das Verhältnis zu Frauen fällt bei einigen im echten Leben wohl wesentlich friedfertiger aus: Der Admin und zwei weitere User geben gegenüber VICE zumindest an, eine Freundin zu haben. Doch egal ob Troll, Incel oder verbissener Ästhet, es handelt sich bei den Usern meist um Männer, die in den Foren nach Identifikation suchen.
Vor allem ihre Sprache grenzt die Community nach außen ab und schafft ein Wir-Gefühl. Begriffe wie der “Chad” oder “Femoid” als abschätzige Bezeichnung für die Frau können “Normies” nicht ohne Weiteres entschlüsseln. Der Wortschatz schafft die Gemeinschaft, die viele User im echten Leben vergeblich suchen.
“Looksmaxxing” dient dieser Gemeinschaft als kollegiales Hobby, das vom einen mehr vom anderen weniger praktiziert wird. Der große Traum von der Schönheitsoperation scheint für viele aber ein Luftschloss zu bleiben. Die meisten sind lediglich neugierig, was andere von ihrem Aussehen halten. Die oberflächlichen Beschimpfungen im “Rate Me”-Forum gelten als Initiationsritual: Das gegenseitige Niedermachen und die makaberen Gags müssen ertragen werden, wenn man ein Teil der Community und kein “Normie” sein möchte.
Harmlos ist das Ganze natürlich trotzdem nicht. Die tragische Widerspruch von Lookism liegt darin, dass sich Männer, die unter einem patriarchalen Schönheits- und Leistungsideal leiden, gleichzeitig andere Gruppen anfeinden, die ihr Schicksal teilen. Dadurch eifern sie genau der Macht des “Chads” nach, von der sie sich unterdrückt fühlen. Veronika Krachers Forderungen nach kritischer Jungenarbeit müssten also umgesetzt werden, bevor sich junge Männer in solchen Communities verlieren. Das würde vielen Männern und Frauen nicht nur Leid und Hass ersparen, sondern dem ein oder anderen Looksmaxxer auch die Rechnung für die nächste Botox-Behandlung.
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