Popkultur

Unvergessen: Ein letzter Gruß an VIVA

In Zeiten wie diesen fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Fassungslosigkeit, Betroffenheit und unendliche Leere haben sich in unseren Herzen breitgemacht, als wir vom baldigen Ableben des ersten deutschen Musiksenders erfahren mussten. Und obwohl das Ende absehbar war, reißt es einem dann doch den Boden unter den Füßen weg. VIVA wird am 31. Dezember 2018 endgültig seinen Betrieb einstellen.

Es war das donnerstägliche Abendritual meiner Jugend: auf Kanal 49 schalten, den Teletext öffnen und Seite 316 abrufen. Die Gummitasten auf meiner Fernbedienung waren schon so abgewetzt, dass man eigentlich nichts mehr darauf erkennen konnte, aber die Abfolge der Zahlenkombination und die zugehörige Fingerbewegung hatte sich bereits so gut in mein Hirn eingebrannt, dass der bloße Gedanke daran meinen Daumen bis heute dazu bringt, ein Dreieck in die Luft zu zeichnen.

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3-1-6. Dort waren die Musikvideos gelistet, die dann einen Tag später bei VIVA Neu Premiere feiern würden. Jeden Donnerstagabend wurde die Seite aktualisiert. Und weil das Internet nicht immer zur Verfügung stand, war die Teletext-Seite 316 meine erste Anlaufstelle für neue Musik.


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VIVA war so vieles. Ich erinnere mich an Club Rotation und die unvergleichliche Daisy Dee, die niemals müde wurde, mir in einem ebenso spannenden wie unverständlichen Mix aus Deutsch, Englisch und Koks einen ungefähren Eindruck davon zu vermitteln, wie es sich wohl im Inneren einer Disco anfühlen musste. Ich erinnere mich an die legendäre Interaktiv-Folge, in der Hape Kerkeling verkleidet als finnischer Rapper eine 19-jährige Milka an den Rande des Nervenzusammenbruchs trieb (“Du siehst genau … oh mein Gott“). Ich erinnere mich an das Jahr, in dem Michail Gorbatschow neben Modern Talking und Sabsi Setlur zu den Comet-Preisträgern zählte.

Ich erinnere mich an Charlotte Roche, die Mick Jagger fragte “They don’t give a fuck?”, was beinhart mit “Ficken sie darauf?” untertitelt wurde. Ich erinnere mich an die Senderjingles, die mir versicherten: “VIVA liebt dich“. Und ich erinnere mich an die modernisierten Senderjingles, die mir wiederum versicherten, dass es VIVA nur mit mir geben kann.


Ich erinnere mich an das Schwarzbild, das am 11. September 2001 gesendet wurde. Ich erinnere mich an die Interaktiv-Sendung am Tag darauf, in der Zuseherinnen und Zuseher aufgerufen wurden, per Chat oder Telefon mitzuteilen, wie sie mit der Situation umgehen und wie sie sich fühlen. Nichts anderes als das, was wir heute auf Twitter machen. Wenn es darum ging, Jugendlichen eine Plattform zu bieten, war VIVA vielleicht ein Pionier.

Heike Makatsch sollte Recht behalten: In der ersten Moderation des Senders versprach sie fast schon großmäulig, dass VIVA mehr als nur ein Fernsehsender sei – man wolle außerdem ein “Sprachrohr” sein, welches Heike zusätzlich in astreiner Pantomime darstellte, akustisch garniert mit einem undefinierbaren Geräusch, irgendwo zwischen Donald Duck und Brechreiz. Außerdem sollte VIVA auch ein Freund sein: “Und ab heute bleiben wir für immer zusammen, OK?”

Jetzt, wo VIVA vor dem Aus steht, regnet es plötzlich Nachrufe auf den “Kultsender der 90er”, der Stefan Raab und Heike Makatsch groß gemacht hat. “Die 90er sind nun offiziell zu Ende“, eure Tamagotchis könnt ihr nun endgültig wegwerfen, VIVA ist tot. Heuchler! Als hätte es VIVA nur während der 90er gegeben. Als hätte Gülcan nie existiert!

Wo wart ihr, als t.A.T.u. bei Interaktiv zu Gast waren und nicht nur Mola mit einem Mikrofon anal penetrieren wollten, sondern auch eine 13-Jährige Anruferin fragten, ob sie lesbisch sei, nur um anschließend von einem Studiogast gebeten zu werden, ihn zu entjungfern?

Wo wart ihr, als Virgin Diaries tatsächlich Videotagebücher von Jungfrauen bis zum ersten Sex zeigte?

Wo wart ihr, als Enrique Iglesias von Collien Fernandes gefragt wurde, ob sein Pimmel wirklich so klein ist, dass er kaum passende Kondome findet?

Wo wart ihr, als die Pussycat Dolls mit Klaas Heufer-Umlauf schuhplatteln mussten?

Wo wart ihr, als wir Zeuge des ärgsten Crossover-Events der 2000er wurden: dem gemeinsamen Auftritt der No Angels mit Bro’Sis bei der Comet-Verleihung?

Wo wart ihr während der Ära Gülcan, Montag bis Freitag um Punkt 15:00 Uhr, als VIVA Live! nach und nach zur wichtigsten Fernsehsendung für alle Bravo-Leser avancierte?

Wo wart ihr, als irgendein Psycho einer Baby-Version von Mandy Capristo beim ersten Live-Interview von Monrose das Mikro aus der Hand riss?

Wo wart ihr, als Lucy von den No Angels, Joachim Deutschland und Lukas Hilbert Juroren der von Gülcan moderierten Karaoke-Show Shibuya wurden?

Wo wart ihr, als VIVA mit “Are U Hot?” quasi das Konzept von Tinder erfunden hat?

Wo wart ihr, als The Girls of the Playboy Mansion neben The Simple Life nur eine von vielen amerikanischen Reality-TV-Shows wurde, die sich dank VIVA für immer in unser kollektives Gedächtnis brennen sollten?

Wo wart ihr, als Sarah Kuttner ihre erste eigene Show bekam?

Wo wart ihr, als VIVA plötzlich ein neues, hipsteriges Design mit vielen Dreiecken bekam und die Kampagne mit “Young Blood” von The Naked and Famous begleitet wurde?

Wo wart ihr, als Get The Clip wichtigen Botschaften wie “PRELUDERS SIND GEIL” oder “ICH LIEBE NIEMANDEN” eine Plattform bot? (Und ja, Get The Clip lief streng genommen anfangs nur auf dem Tochtersender VIVA Zwei, hat die VIVA-Marke aber mindestens so stark geprägt hat wie jedes Jamba-Sparabo).

Das VIVA, das ich kannte, war mehr als nur Stefan Raab und 90er-Kult. Das VIVA, das ich kannte, war auch Castingshows, Von Dutch, Sarah Connor auf Englisch, Pali-Tücher, Tokio Hotel, Ali G, die Olsen-Zwillinge, Anime, The Dome, Drawn Together und Teletext Seite 316. Und wenn VIVA am 31. Dezember 2018 den Sendebetrieb für immer einstellt, sollten wir all das nicht vergessen. In aufrichtiger Verbundenheit.

Franz auf Twitter: @FranzLicht

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