Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP UK erschienen
Techno, wie wir ihn kennen, würde ohne Jeff Mills nicht existieren. Er ist ein unwiderruflicher Ausgangspunkt des Genres, unsterblich. Der gebürtige Detroiter ist wohl eine der wichtigsten kulturellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus ein echter Visionär elektronischer Musik.
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Mills ist ein Denker, ein Beobachter, einer, der sowohl das Milieu, in dem er arbeitet, als auch die Welt um sich herum in Frage stellt. Er gibt sich nicht damit zufrieden, elektronische Musik als rein funktionales Medium zu verstehen – oder zumindest nicht als Medium, dessen performative Funktion auf eine Sache limitiert ist. Techno ist für ihn nicht nur ein Mittel, um Leute zum Tanzen zu bringen. Er ist sich der Beziehung zwischen Körper und Geist und wie diese sich auf den Dancefloor und das Gemüt auswirkt äußerst bewusst. Mills hat immer hinter das Physische geschaut und sich fast immer mit der Natur von Prozessen und Interpretationen beschäftigt.
Dieser Sinn für das Hinterfragen, das Tiefergehende, für den Versuch, Kommunikation zu kontrollieren, ist ein fundamentaler Bestandteil von Mills’ Output. Hör dir eine Platte wie “The Extremist” an oder sieh dir die The Exhibitionist-Performance an. Du siehst, du hörst, dort in das Werk eines Meisters, eines Mannes, der von Natur aus in der Lage ist, Musik an ihr Limit zu bringen. Das ist Kommunikation allerhöchster Qualität.
Mills gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, die Gemüter in Clubs mit unmenschlich virtuosen Gigs zu verschmelzen, oder die Art von pochendem Techno zu veröffentlichen, die absolut fremd und gleichzeitig komplett menschlich ist. Jeff Mills hat sich in den letzten Jahren daran gemacht, die Beziehung zwischen elektronischer Musik und dem bewegten Bild zu erforschen. THUMP hat ihn angerufen, eigentlich, um über seinen gerade veröffentlichten Soundtrack zu Fritz Langs bahnbrechendem Sci-Fi-Stummfilmklassiker Frau im Mond zu sprechen. Mills hat uns jedoch auf entferntere Pfade mitgenommen.
Der Soundtrack, der auf seinem eigenen Label Axis erschienen ist, ist eine Odyssee in die Tiefen von Ambient und Techno und baut auf den “Cine-Mix”-Arbeiten auf, die Mills zusammen mit Screenings des Films gespielt hat.
Da er bereits den essentiellen Klassiker Metropolis neu vertont hatte, war es naheliegend, den Produzenten nach seiner Meinung über den Output des expressionistischen Regisseurs Fritz Lang zu fragen. “Er war einfach ein Meister des Kinos, der Kameraführung und der Erzählung, also finde ich es sehr angenehm, mich zurückzulehnen, mir anzusehen, was er gemacht hat, und dazu Musik zu schreiben. Es gibt sehr viel Kompatibilität zwischen seinen Filmen und Techno-Musik.” Stummfilm und Techno, begründet er, lassen sich gut vereinen. “Es gibt keinen Dialog, um den man herumarbeiten muss, also denke ich, dass die Filme eine Neuvertonung recht einfach gemacht haben. Ich habe hauptsächlich aufgrund praktischer und technischer Gründe damit angefangen.”
Stummfilme lassen uns über die Wahrnehmungsänderung im kulturellen Bewusstsein nachdenken, die sowohl unausweichlich ist als auch eine tiefere Auseinandersetzung verdient. Diese Kunstform, mittlerweile ein Relikt aus einer unwirklichen Vergangenheit, war einmal die Norm. Sich heute mit Stummfilmen auseinanderzusetzen kann als Affektiertheit, als eine obskure Haltung in Form von zwischenmenschlicher Abgrenzung interpretiert werden. Stummfilme sind vom Mainstream in die Untiefen der Avantgarde gewandert. Wir haben uns gefragt, ob der Begriff “Avantgarde” etwas ist, das sofort den Diskurs limitiert? “Es ist immer noch notwendig, Leute etwas auszusetzen, das ihr Denken aufrüttelt, das infrage stellt, was sie immer für wahr oder logisch gehalten haben. Ich denke, wenn wir auf etwas zurückkommen, um es zu überdenken und die Situation zu überprüfen, werden wir am Ende klüger, weiser und verständnisvoller. Die Avantgarde ist wie ein Werkzeug, ein Hilfsmittel, das uns dabei hilft, das, was wir immer für wahr gehalten haben, zu überdenken. Je mehr sich eine Person mit etwas auseinandersetzt, das die Logik hinterfragt, desto mehr profitiert sie davon; wenn du nicht immer annimmst, dass die Dinge so sind wie sie “sein sollen”. Ich denke, der Weg der Natur hat einen Sinn für Dinge, die sich mit der Zeit verändern. Du erwartest im Lauf der Zeit nicht mehr dieselbe Sache. Die Avantgarde kann uns also besser machen.”
Die Avantgarde ist bekanntermaßen herausfordernd und steht im Widerspruch zu dem, was die meisten von uns von unserem Dasein in der Welt erwarten. “Ich denke, es ist eine angsteinflößende, unheimliche, bedrohliche Sache, weil es auf provokative, ungestüme Art die eigene Realität hinterfragt. Und das ist irgendwie verständlich”, sagt er. “Wenn du in deinem Leben versuchst, ein bestimmtes Level an Stabilität, Sinn und Glauben an dich selbst zu erreichen und du dann mit etwas konfrontiert wirst, das diese Pfeiler zerstören will oder hinterfragt, fühlst du dich bedroht-ich denke nicht, dass das eine angenehme Situation ist. Das ist nichts für jeden, es muss auch nichts für jeden sein, aber durch Interaktion wird hier offenbart, dass nicht alle Dinge, die wir selbstverständlich als wahr ansehen, zwangsläufig auch wahr sind. Das ist die Absicht dahinter.”
Und natürlich kann jemand ein Leben ohne Bezug zum Experimentellen leben. “Ich denke, die Zukunft der Menschheit bringt uns dahin, dass wir keine andere Wahl haben, als in diesen Begriffen zu denken”, beginnt er, während die Ausführungen von Mills einen Hang zum Kosmischen annehmen. “Ich denke, dass unsere Spezies gerade an einem Punkt ist, an dem die Mehrheit von uns die Art, wie die Dinge funktionieren, versteht: ob es nun Natur oder Wissenschaft oder Wirtschaft oder Gesundheit ist. Die durchschnittliche Person denkt, dass es ziemlich wenig gibt, was die Menschen nicht wissen. Aber ich denke immer mehr, dass es Situationen gibt, in denen wir es mit Dingen zu tun bekommen, von denen wir ziemlich wenig wissen. Dinge, bei denen unsere Wissenschaft, unsere Mathematik, all diese Dinge, die wir über die Zeit entwickelt haben, nicht wirklich hilfreich sind.”
Mills ist überzeugt, dass etwas auftauchen wird, das die Menschheit dazu zwingt, das derzeitige Verständnis oder die derzeitige Vorstellung zu hinterfragen. “Der durchschnittliche Mensch”, sagt er “versteht die Welt, in der wir leben. Aber so funktioniert die Natur nicht. Irgendwann wird das, was wir sind, wo wir sind, was wir tun und die Art, auf die die Natur außerhalb dieses Planeten arbeitet, dazu führen, dass es unausweichlich wird, alles neu zu bewerten.”
Dieser Prozess der humanistischen Neubewertung bringt uns zu einem anderen Thema, dem Mills sich passioniert widmet: Eskapismus. Eskapismus ist untrennbar mit Dance Music verbunden. Wir gehen in Clubs, um eine Welt zu erleben, die sich außerhalb von der befindet, in der wir gefangen sind. Im Club gibt es keine Rechnungen. Im Club gibt es keine überzogenen Konten. Im Club gibt es keinen Abwasch.
Um die Idee akzeptieren zu können, dass Eskapismus ein dazugehöriges und grundsätzlich nicht zu ignorierendes Element der menschlichen Psyche ist-die wir gegenüber Mills postulieren-müsse man auch die Idee akzeptieren, dass es etwas jenseits davon gibt, das wir erleben können, etwas anderes, argumentiert er. “Wir nehmen allgemein an, dass wir an einem besseren Ort sind, wenn wir den Geist frei machen und dafür öffnen, dass er bis zu einem Punkt der Ekstase, einer höheren Stufe des Bewusstseins transzendiert. Ich denke, das war schon immer da, seit den Anfängen unserer Evolution.” Seit wir zum ersten Mal die unfassbare Unendlichkeit der Meere gesehen haben, wissen wir, dass es mehr im Leben gibt, als das, wo wir sind, wo wir leben und was wir sehen können. Dieser andere Ort, erzählt er uns weiter, wird in Zeiten der Not oft innerlich zum Leben erweckt. “Wir sehen ihn durch Musik, Kunst, Kino, Literatur, auf viele Arten. Dieser andere Ort ist in jedem von uns. Um diesen Ort abrufen zu können, musst du wirklich etwas über die Psychologie von Leuten wissen und darüber, was es braucht, die Aufmerksamkeit von anderen zu gewinnen und in der Lage zu sein, sie an diesen anderen Ort zu führen. Das ist ein Teil von der Psychose eines DJs oder eines Produzenten, eines Künstlers und jeder Person, der etwas erschafft.
Ach ja, natürlich: Jeff Mills ist DJ. Ein DJ ist Erzeuger und Kurator einer Erzählung und eines Kontextes. “Die Aufgabe eines DJs ist, neue Musik zu kennen, aber er trägt auch die Verantwortung dafür, Musik zu finden, die etwas aussagt-etwas, das für das Leben der Leute auf dem Dancefloor relevant ist. Es sind individuelle Stücke, die zusammengefügt werden. Die Form der Erzählung, diese Geschichte, ist das, womit der DJ arbeitet-er muss etwas Substantielles schaffen.” Wirkt sich diese Substanzialität auf die Musik aus, die den Soundtrack dazu bildet? “Über die Jahre haben wir etwas mit einem universellen Gefühl gebraucht, das die Leute anspricht; Leute, über die du sehr wenige Informationen hast. Dance Music brauchte einen universellen Stil und das hat den Minimalismus, diese minimalistische Struktur, in die Musik gebracht. Der Inhalt, den wir heute haben, ist von der kollektiven Vision geformt, die die DJs bezüglich den Leuten vor ihnen haben und davon, wie die Welt um die Leute herum sie beeinflusst. In meinem Fall widme ich mich weniger dem Hier und Jetzt, sondern dem, was nach dem Morgen kommt. Ich denke also, dass ich einen Zweck verfolge, der aus einer ziemlich besonderen Perspektive entstammt, während ein anderer DJ eine andere bietet.”
Wer diese Strategie in Aktion sehen will, täte gut daran, zum diesjährigen Bloc Weekender zu fliegen, bei dem Mills Headliner eines Line-Ups ist, das außerdem noch so illustre Namen wie Autechre, Ben Klock, ESG, Omar-S und Jackmaster bietet.
Das letzte Mal, als THUMP in Gegenwart von Mills war, haben wir Man From Tomorrow gesehen, den avantgardistischen Film der französischen Regisseurin Jacqueline Caux. Am Ende der Vorstellung sollten die Autorin und die handelnden Personen Fragen aus dem Publikum beantworten. Mills beschloss, das Arrangement umzudrehen. Er lief mit einem Mikrofon in der Hand die Stufen des Kinos auf und ab, wie ein Entertainer in Vegas, und stellte uns die Fragen. Er wollte wissen, was wir denken, wie Musik im Jahr 3000 klingt. Wir waren ratlos. Dieses Mal beschloss ich, unsere Unterhaltung damit zu beenden, indem ich diese Umkehrung wieder umdrehe. Jeff Mills, wie wird Musik im Jahr 3000 sein? “Das ist ein Wechsel des Jahrhunderts. Jeder Wechsel eines Jahrhunderts wird für gewöhnlich von einer Menge Wandel und Unbehagen begleitet. Meistens ändern sich die Dinge von einer Industrie zur nächsten. Viele Leute werden davon verdrängt. Die Leute haben in diesen Zeiten im Allgemeinen einen Sinn dafür, dass sie anders sein wollen, sie wollen eine andere Zeit repräsentieren. Das wird sich auf alles auswirken: Musik, Essen, Reisen. Dinge, die wir noch nicht kennen.”
Wir danken ihm für seine Zeit und müssen uns ein bisschen hinlegen.
Woman in the Moon ist gerade auf Axis Records erschienen.
Jeff Mills spielt dieses Jahr beim Bloc Weekender. Hier findet Ihr mehr Informationen zu dem Event.