Menschen

Vielleicht ist Weihnachten zu Hause doch nicht so scheiße, wie ich immer dachte

Mit meinem Auszug wurden die Besuche bei der Familie in der alten Heimat stressig. Heute weiß ich: Das lag auch an mir.
Ein junges Mädchen vor einem weihnachtlichen Fotomotiv; die Autorin beschreib in einem Text, warum sie es inzwischen nicht mehr so schlimm findet, über Weihnachten zu ihren Eltern nach Hause zu fahren
Ein ungestelltes Kinderbild der Autorin | Hintergrundfoto: IMAGO / Westend61; Kinderfoto: privat

Freitagabend vor dem vierten Adventswochenende: Mein Freund und ich sitzen seit dem späten Nachmittag im Zug aus Berlin, auf meinem Schoß schläft meine Katze. Es ist zwei Uhr nachts, als wir in dem luxemburgischen Dorf ankommen, in dem mein Vater und seine Familie wohnen. Vor zwei Jahren hätten mich die lange Reise und die Gedanken an die bevorstehende Weihnachtszeit zu Hause zumindest leicht gestresst. Heute ist es anders: Ich freue mich schon seit Ende November auf die Heimfahrt – und das, obwohl ich erst wenige Wochen zuvor in meinem Herkunftsland war.

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An Weihnachten nach Hause zu kommen, bedeutet für viele Ausgezogene Stress, Streit, Erinnerungen an alte Probleme und sehr schlechte öffentliche Verkehrsanbindungen. Meine Eltern sind geschieden, Weihnachten war für mich immer vor allem ein organisatorischer Aufwand. Seit meinem Umzug nach Berlin 2011 bin ich oft nur einmal im Jahr über die Feiertage nach Hause zu meiner Familie gefahren. Als ich 25 war, habe ich selbst das über zwei Jahre ausfallen lassen und stattdessen in Berlin mit nicht-christlichen Freunden und Freundinnen gefeiert. Damals war mir nicht bewusst, dass ich die negativen Gefühle zu meiner alten Heimat zu einem großen Teil auch selbst verursache.


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Meine Abgrenzung begann früh: Schon als Jugendliche wusste ich, dass ich Luxemburg irgendwann verlassen werde. Für mich war das Land rückschrittlich und langweilig. Wenn jemand nicht wusste, dass Luxemburg mit seinen mittlerweile knapp 700.000 Menschen existiert, fühlte ich mich in meiner Meinung bestätigt. Ich wollte eine Karriere und ein U-Bahn-Netz für spontane Abenteuer. Luxemburg gab mir Traktoren auf der Straße und einmal in der Stunde einen Bus in die Stadt.

Als ich kurz vor meinem 19. Geburtstag knapp 750 Kilometer von meinem alten Zuhause weg nach Berlin zog, hatte ich den Absprung geschafft. Wenn mich danach Freunde und Freundinnen von früher besucht haben, war ich stolz über meine neue Umgebung – auch wenn die meisten nur wissen wollten, wo der nächste Primark ist oder wo Berlin – Tag & Nacht gedreht wird. Meine Verwandlung zur Großstädterin vollendete schließlich ein Schulfreund, der sich an einem Sommerabend nicht über die Oberbaumbrücke von Friedrichshain nach Kreuzberg traute, weil er "Angst vor Kriminellen" hatte. 

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Je politischer ich werde, desto mehr will ich mich abgrenzen

Mehr als 50 Prozent der Menschen in Berlin sind sogenannte Zugezogene wie ich. Für viele in der Stadt geborene und aufgewachsene Menschen gehören wir damit noch längst nicht dazu. Ich dagegen war in meiner eigenen Wahrnehmung von meinem ersten Stadtsommer an Berlinerin – vor allem deshalb, weil ich auf keinen Fall mehr Luxemburgerin sein wollte. 

Wenn ich in den folgenden Jahren über Weihnachten oder zu den runden Geburtstagen meiner Eltern nach Hause gefahren bin, folgte meinem Abgrenzungswunsch entsprechend eine ziemlich herablassende Einstellung: Seht her, ihr Dorfmenschen, ich bin nachts alleine in Kreuzberg und besuche eine Party, für die ich Gästelistenplätze habe! Mit meinem politischen Erwachen Anfang 20 wurde es noch schlimmer.

2015 half ich im Winter mit anderen Freiwilligen nachts vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, wo Hunderte Geflüchtete unversorgt waren. Tagsüber besuchte ich an der Uni neben meinem Hauptstudium Seminare in Sozialwissenschaft und Gender Studies. An den Wochenenden ging ich auf Anti-AfD-Demos. Und über die Feiertage in Luxemburg fing ich einen Streit mit jedem an, der eine andere politische Meinung vertrat als meine und sich traute, mit mir in den Debattier-Ring zu steigen. 

Alltägliche Fragen führen zu Streit

Viele Deutsche treffen beim Weihnachtsessen jedes Jahr auf ihren rechten Onkel. Hätte ich ein solches Familienmitglied, wären solche Streits sicher gerechtfertigt gewesen. Bei uns zu Hause starteten die Diskussionen aber manchmal schon bei alltäglichen Dingen: Darf man eine nicht-Weiße Person nach ihrer Herkunft fragen? Ist Kuhmilch ungesund? Brauchen wir Feminismus? 

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In meiner Berliner Blase, wo fast alle im gleichen Alter sind, in Mietwohnungen leben und eine ähnliche politische Meinung haben, gibt es zu solchen Fragen einen Konsens. Mit Andersdenkenden hatte ich in meinem Alltag zu der Zeit wenige Berührungspunkte. Das führte dazu, dass ich in Konflikten nicht besonders viel Übung hatte. 

In meiner Familie, wo alle Weiß und unterschiedlich alt sind, eigene Häuser besitzen und die meiste Zeit ihres Lebens in Luxemburg verbracht haben, führten mein impulsiver Charakter und die gegenteiligen Meinungen oft schon am ersten Abend zu Streit und Geschrei. Daraus entstanden wiederum Diskussionen darüber, ob ich genügend Rücksicht auf meine Familienmitglieder und ihren Frieden nehme. Manchmal verließen meine jüngeren Geschwister den Esstisch, weil ich schon wieder mit meinem Vater oder meiner Mutter aneinander geraten war. Die Jahre, in denen ich an Weihnachten in Berlin blieb, waren wahrscheinlich nicht nur für mich, sondern für alle entspannter. 

Meine Art macht mich zynisch und unempathisch

Inzwischen sind seit meinem Auszug zehn Jahre vergangen, ich werde in wenigen Monaten 30 Jahre alt. Als mein Freund, meine Katze und ich nach der langen Zugreise in Luxemburg ankommen, trage ich einen Pulli von "Seebrücke", einem politischen Bündnis für Seenotrettung im Mittelmeer. An meiner politischen Einstellung hat sich in den letzten Jahren nichts verändert. An der Art, wie ich meine ehemalige Heimat Luxemburg sehe, schon. 

Seit zwei Jahren freue ich mich schon im Herbst darauf, an Weihnachten zu meiner Familie zu fahren. Und nicht nur das: 2021 war ich ganze sechs Mal in Luxemburg. Vielleicht hat die Corona-Pandemie diesen Umschwung ausgelöst, vielleicht mein Alter, vielleicht auch eine Verhaltenstherapie, die ich seit fast drei Jahren mache. Ich sehne mich neuerdings nach den Feldern in meinem Dorf, nach der Ruhe, nach der Sauberkeit und nach der Kultur, in der ich aufgewachsen bin. Wenn ich zu Hause am Esstisch sitze und in die Gesichter meiner Familienmitglieder blicke, fühle ich mich glücklich. Und manchmal überlege ich sogar, ob meine alte Heimat irgendwann, in vielen Jahren, vielleicht auch meine zukünftige Heimat sein könnte.

Natürlich gibt es noch immer Meinungsverschiedenheiten. Doch heute weiß ich: Auch mit lauten Diskussionen, guten Argumenten und der festen Überzeugung, dass ich recht habe, werde ich nicht immer von meinen Ansichten überzeugen können. Wenn ich dagegen immer nur auf alles herabblicke und mir andere Sichtweisen nicht einmal anhöre, macht mich das am Ende zu einer sehr zynischen und unempathischen Person. Und die will ich nicht sein.

Am vierten Tag zu Hause geraten mein Vater und ich beim Abendessen fast in eine Diskussion. Es geht darum, ob sich eher unpolitische Menschen automatisch mit Neonazis gemein machen, wenn die Gruppen bei Corona-Demos zusammen marschieren. Kurz bevor es eskaliert, ermahnt meine kleine Schwester uns, aufzuhören. "Du bist schon fast eine Woche hier, und es gab noch keinen Streit", sagt sie. "Das ist gut!" Von dem besseren Klima am Esstisch scheinen auch die anderen etwas zu haben. Ich lächle und esse meine Ravioli. Ich steige nicht mehr in den Ring. Ich lasse los.

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