Die Kämpfe verlaufen in der 75.000 Einwohner großen Stadt Derik (arabisch al-Malikiya), im nordöstlichen Grenzgebiet zur Türkei und dem Irak gelegen, für syrische Verhältnisse unblutig ab. In einem lang geplanten Coup d’État übernehmen kurdische Kämpfer Schritt für Schritt die Stadt von den verbliebenen regimetreuen Kräften. Erst werden die Zufahrtswege, noch unter französischer Kolonialzeit gebaut, abgeriegelt und Checkpoints errichtet. Danach stürmen mehrere Gruppen von YPG-Einheiten, der neu gegründeten syrisch-kurdischen Miliz, ein Regierungsgebäude nach dem anderen. Im städtischen Gericht werden mehrere arabische Wachleute festgesetzt und entwaffnet, Plakate von Assad von den Wänden gerissen. Auch das Gelände des militärischen Nachrichtendienstes wird schnell überrannt, Hunderte von Bewohnern stehen staunend und mit Freudentränen in den verschiedenen protzig eingerichteten Räumen. Auch hier werden Assad-Bilder von den Wänden gerissen, es kommt zu vereinzelten Plünderungen. Doch das im Herzen der Stadt gelegene militärische Hauptquartier, von mehreren breiten Straßen gesäumt und leicht zu verteidigen, wird zur ersten echten Herausforderung für die YPG. Gut 30 Soldaten haben sich im Inneren verschanzt und schenken den Beteuerungen von kurdischen Unterhändlern, dass niemanden etwas geschehen werde, keinen Glauben. Es entwickelt sich am Nachmittag ein mehrstündiges Gefecht, AK47-Salven peitschen durch die Straßen. Ein kurdischer Kämpfer stirbt, mehrere syrische Soldaten werden verwundet. Erst als die YPG ein schweres Maschinengewehr sowie Granatwerfer in Stellung bringt, ergeben sich die restlichen Soldaten. Auch sie werden entwaffnet und im Gebäude unter Hausarrest gestellt.
Gut eine Woche zuvor wurde die etwa 450km westlich gelegene Stadt Kobani (arabisch Ain Al-Arab) von kurdischen YPG-Kräften befreit. Die Fahrt dorthin gestaltet sich schwierig. Denn die Region im Norden von Syrien gleicht einem Flickenteppich. Immer wieder wechseln sich kurdisch kontrollierte Dörfer und Städte mit Regionen ab, welche noch fest in der Hand der syrischen Regierung sind. So werden Späher vorausgeschickt, Checkpoints über Feldwege umfahren und die lokale Dorfbevölkerung nach dem sichersten Weg befragt. Auch Kobani ist mittlerweile von einem Gürtel kurdischer Checkpoints umgeben. Jedes einfahrende Auto wird genau von den schwerbewaffneten Kämpfern durchsucht. „Wir versuchen, mit diesen Checkpoints das Eindringen von Kräften der Free Syrian Army, aber auch von staatlichen Saboteuren zu verhindern“, berichtet einer der maskierten Männer. Stolz präsentiert er seine neue Pumpgun, welche er in einer Polizeistation gefunden hat. „Wir wollen nicht, dass unsere Städte wie Homs oder Idlib in ein Blutbad hineingezogen werden.“
In der Innenstadt selber scheint das Leben normal zu verlaufen. Die Leute tätigen ihre Einkäufe, Studentinnen und Schüler hasten zu ihrer nächsten Unterrichtseinheit und Frauen kaufen das Essen für das traditionelle Fastenbrechen am Abend ein. In einem Café komme ich mit einer älteren christlich-arabischen Frau, Maryam, ins Gespräch: „Wir wissen natürlich, dass der Krieg auch unsere Region erreichen kann. Besonders, wenn uns nach dem Fall von Assad eine neue Regierung keine Religionsfreiheit zugestehen wird.“ Dennoch fühlt sie sich sicherer denn unter Assad. „Wir Einwohner von Kobani kämpfen schon seit 1990 gegen Assad. Dabei haben wir natürlich auch unsere kurdischen Nachbarn unterstützt. Wir werden jetzt sicherlich nicht aufgeben.“ Alleine in Kobani werden gut 250 Shehid (Märtyrer) gezählt. Die meisten davon haben sich der PKK angeschlossen, um für die kurdischen Rechte zu kämpfen. Andere sind wegen ihrer politischen Arbeit in den Gefängnissen Syriens verschwunden. Diese Gefallenen, welche aus allen religiösen und ethnischen Gruppen der Stadt entstammen, eint die Gemeinde auch jetzt. So versuchen Kurden, arabische Christen, Armenier und Turkmenen, die neu gewonnene Freiheit gemeinsam zu gestalten.
Obwohl das Leben in den Straßen der Stadt weitergeht, sind die Probleme immens, welche das neu gewählte Stadtparlament zu bewältigen hat. Tev-Dem, eine 2007 gegründete Dachorganisation von ca. 80% aller kurdischen Oppositionsgruppen, stellt die neuen zivilen Strukturen in jeder der befreiten Städte. In Kobani wurden Ehmed Sêxo und Aysa Afendi zur Doppelspitze der Stadt gewählt. Insbesondere Frau Afendi weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, gegen das Regime zu kämpfen: „2008 wurde ich wegen meiner politischen Arbeit verhaftet und nach Aleppo verschleppt. Dort wurde ich ein Jahr lang gefangen gehalten, immer wieder gefoltert.“ Dennoch hat sie nie mit ihrer politischen Arbeit aufgehört: „Wir Frauen waren in der arabischen Kultur beinahe Sklaven. Daher haben wir bei diesem Aufstand am meisten zu gewinnen—aber auch wieder zu verlieren. Und die Clanstrukturen und die verschiedenen ethnischen Grenzen zu überwinden, braucht seine Zeit.“ Entsprechend werden von Tev-Dem in allen größeren Orten Frauenzentren eingerichtet. Neben der Schulung in Frauenrecht bereitet man sich aber auch auf den Kriegsfall vor: 1. Hilfe leisten und mit einem Maschinengewehr umgehen, können in Kobani mittlerweile die meisten Frauen.
Neben diesen kulturell verankerten Problemen ist die Hauptaufgabe von Tev-Dem, die Infrastruktur am Laufen zu halten. „Wir trainieren momentan 60 Männer und Frauen als Polizeikräfte“, erzählt Kendal, momentaner Chef der neuen, kurdischen Polizei. Das Polizeigebäude wurde schnell von den Emblemen des alten Regimes bereinigt, wichtige Akten beschlagnahmt. Zum ersten Mal ist es auch möglich, die Folterkeller unter dem Gebäude zu betreten. Blutspuren sind noch immer an den Wänden zu finden. Wie viele Oppositionelle hier getötet wurden, weiß niemand. „Die neue Polizei wird auch anders strukturiert sein. Die Beamten werden keine Waffen tragen und auch keine Uniformen. Ihr einziges Erkennungsmerkmal wird ein zivil aussehendes Hemd sein mit dem Logo der Polizei. Wir versuchen hier ein soziales Experiment—und hoffen, dass es gelingen wird“, führt Kendal weiter aus. Auch die alten Polizeifahrzeuge wurden in ein neutrales Weiß umlackiert. Nur der Schriftzug Asayis (kurdisch für Polizei) wie auch die kurdische Flagge kennzeichnen die Autos.
Doch nicht alle alten Mitarbeiter der Baath-Partei wurden entlassen. Die Mitarbeiter der Stadtreinigung, Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie anderer städtischer Aufgaben sind die alten. Zu sehr ist man auf deren Expertise angewiesen. Und zu sehr fürchtet man, den gleichen Fehler zu begehen, wie es die US-Truppen im Irak getan haben: Durch die dortige De-Baathisierung wurde ein Pool Hunderttausender Unzufriedener geschaffen, welche für noch mehr Blutvergießen im Land gesorgt haben.
Während in Kobani die Stadtbevölkerung versucht, die Strukturen des alten Regimes so schnell wie möglich zu beerdigen, bemüht sich die YPG, weiter Fakten zu schaffen.
In den letzten Tagen haben sich die kurdischen Milizen auch mit schweren Waffen sowie modernen Maschinengewehren eingedeckt. Schnell wurden die Ölquellen um die Stadt Kobani unter Kontrolle gebracht. Auch Swedy, 16km südlich von Derik und ein wichtiger Gaslieferant, wurde erobert. Rmelan, 28km westlich von Derik gelegen und 1963 wegen den dortigen Ölvorkommen gegründet, bleibt jedoch unerreichbar. Die syrische Armee hat zwei Kampfhubschrauber sowie Panzer nach Rmelan geschickt. Zu wichtig ist diese Geldquelle für Damaskus, als dass die Stadt so kampflos wie Derik aufgegeben wird.
Eine weitere wichtige Kontrollinstanz hat Assad dennoch verloren: Die Grenzposten zwischen den syrischen und irakischen Kurdengebieten sind nach Kämpfen nun fest in der Hand der YPG. Entsprechend werden jeden Tag neue Waffen und durch das Barzani-Regime im kurdischen Autonomiegebiet im Nord-Irak trainierte Männer in das Land gebracht.
Die Kritik der Free Syrian Army an diesem Vorgehen reißt jedoch nicht ab. Die Kurden sollten doch endlich auch die anderen Ölförderanlagen angreifen und aktiver an den Kämpfen teilnehmen. Doch solche Forderungen stehen diametral der Leitlinie der kurdischen Bewegung entgegen: Um jeden Preis, Notfalls auch durch Kompromisse, zivile Opfer in den eigenen Gebieten verhindern. Und so steigen die Spannungen zwischen Teilen der FSA und der kurdischen YPG. Immer wieder kommt es zu Drohungen an den verschiedenen Checkpoints, Kämpfe scheinen in der Zukunft unvermeidbar. Aldar Xelil, einer der drei Vorsitzenden von Tev-Dem, versucht, die Situation zu erklären: „Wir sind natürlich nicht gegen den bewaffneten Aufstand der FSA. Aber wir befürchten, dass sich die Gruppen und der SNC, welcher stark durch den türkischen Staat beeinflusst ist, am Ende gegen uns wenden werden.“ Die Ereignisse beim letzten Treffen der syrischen Opposition in Kairo scheinen diese Einschätzung zu bestätigen. Nach hitzigen Debatten sind die kurdischen Delegationen aus dem Raum gestürmt. Erneut hatte der SNC eine Verankerung der kurdischen Frage in einer zukünftigen Verfassung abgelehnt.
Die Geschehnisse in Kairo haben die kurdische Bewegung weiter zusammenrücken lassen. Dieses Gefühl der Verbrüderung, welches Gruppen wie die PKK mit dem Präsidenten Barzani der kurdischen Autonomieregion des Iraks zusammenbringt, ist aus den Umständen heraus erwachsen. Doch es stärkt auch die Schritte, welche Tev-Dem und YPG vornehmen..
Während das Leben in den befreiten Städten wie Derik, Kobani und Girke Lege voranschreitet und die Leute an jeder Straßenecke über die Möglichkeiten dieser neuen Freiheit debattieren, nähert sich die Zeit für radikale Entscheidungen schnell. Gefangen zwischen dem arabischen Aufstand und den Interessen der Türkei, welche eine enorme Angst vor einem weiteren kurdischen Autonomiegebiet an der eigenen Grenze hat, sowie dem Assad-Regime auf der anderen Seite, scheint die Zukunft düster. Sollte die religiöse Radikalisierung der FSA im aktuellen Tempo weitergehen und in einer Post-Assad-Ära eine Regierung ähnlich der in Ägypten oder Tunesien an die Macht kommen, werden die Kurden erneut die Waffen erheben. Und die Ölfelder könnten zu einem ähnlichen Szenario wie im Irak führen, wo Baghdad und Erbil weiterhin um die Kontrolle der Ölstädte Kirkuk und Mosul ringen. Doch die größte Gefahr scheint eine „Libysierung“ Syriens, wo die verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen um die Macht kämpfen und die Milizen nicht bereit sind, ihre Waffen niederzulegen.