Als Deutschland in Namibia seine ersten Konzentrationslager eröffnet hat

Diese Texte sind zuerst in Spiegelblicke erschienen. Der Sammelband, wurde anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) herausgegeben.

Eine Reise 130 Jahre zurück in die deutsche Geschichte. Gewaltsames Eindringen in andere Lebenswelten. Ausbeuterische Aggression: Nichts bleibt, wie es war – weder das Leben der Einwohner*innen des afrikanischen Kontinents, noch das der europäischen Eindringlinge. Mythen, Ideologien und Vorstellungen, die die Ausbeutung der sogenannten „Anderen” rechtfertigen sollten. Die Geschichte des Kolonialismus.

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1884 gilt Afrika in Europa als letzter, durch sie „unerschlossener” Kontinent, der vergleichsweise risikoarm erobert und vermeintlich „friedlich” aufgeteilt werden kann. Auf Einladung von Reichskanzler Otto von Bismarck treffen sich von November 1884 bis Februar 1885 die Diplomaten der europäischen Kolonialmächte im Reichskanzlerpalais zur „Berliner Konferenz”, um den scramble for Africa (das Gebalge um Afrika) zu beenden. Unter Verwendung einer meterhohen Afrikakarte wird der Kontinent durch neue koloniale Grenzfestlegungen unter den vertretenen europäischen Staaten aufgeteilt, bestehende kulturelle und sprachliche Gemeinschaften dabei willkürlich getrennt. Von nun an ist Deutschlands militärischer und ökonomischer Einfluss im heutigen Namibia, Togo und Kamerun verbrieft. Doch auch im Pazifik und später sogar in China erheben die Deutschen Anspruch auf koloniale Besitzungen.

Die koloniale Phantasie wird auch von Reiseberichten und Abenteuerromanen, von Exotik, Erotik und Fernweh geschürt. Mit sogenannten „deutschen Schutzbriefen” ausgestattet, gründen Abenteuer suchende Händler wie Adolf Lüderitz oder Kolonialisten wie Carl Peters gewaltsam das deutsche Kolonialreich. Für den von rassistischer Ideologie durchdrungenen Peters entspringen Schwarze Menschen einer „Sklavennatur”, der nur ein „männlicher selbstbewusster Wille” imponiere. Später im Nationalsozialismus gilt er als einer der „Großen Deutschen”, dessen Leben aufwendig dokumentiert und verfilmt wird.

Es ist das Jahr 1904, als deutsche Siedler das Land der Herero, Nama und San im heutigen Namibia besetzen. Und als Herero-Führer Samuel Maharero ihnen den Krieg erklärt, weil sie sich nicht an Vereinbarungen halten. General Lothar von Trotha spekuliert auf eine „rein weiße” Kolonie. Mit der Schlacht am Waterberg begegnet er dem einheimischen Aufstand mit einem Vernichtungsfeldzug. Von Trotha lässt zehntausende Herero in die Omaheke-Wüste treiben und dort verdursten. Andere werden in die damals ersten Konzentrationslager interniert und sterben dort an Seuchen, Unterernährung und den Folgen von Zwangsarbeit. Diese Praktiken von „Vernichtungskrieg” und „Eroberung von Lebensraum” werden später auch Teil der nationalsozialistischen Politik sein. Rund 80 Prozent der 80.000 Herero und zehn Prozent der 20.000 Nama sterben. Es ist der erste Genozid des 20. Jahrhunderts. Auch in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tanzania, wird der dortige Maji-Maji-Aufstand (1905–1907) menschenverachtend und blutigst zurückgeschlagen. 1914 verliert Deutschland „seine” Kolonien gegen andere europäische Kolonialmächte, was bei vielen Deutschen eine Art von „Phantomschmerz” hinterlässt.

Jahrzehntelang sind Schwarze Menschen in Deutschland kein Gegenstand der historischen Forschung. Dabei weisen historische Dokumente bereits im 18. Jahrhundert junge Afrikaner*innen nach, die von Kaufleuten und Reisenden gekauft, entführt und als prestigeträchtiges Dienstpersonal nach Deutschland gebracht worden waren. Die steigende Zahl an afrikanischen Migrantinnen und Migranten im Deutschen Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist eng mit der deutschen Kolonialbesatzung verbunden. Viele junge Afrikaner*innen kamen zur Ausbildung nach Deutschland. Erst spät haben sich Historiker*innen auf die Suche nach den Zeugnissen ihres Lebens gemacht. Es gelang ihnen, eine Skizze der afrikanischen Zuwanderung sowie ihrer Lebensbedingungen in Deutschland über drei historische Perioden zu entwerfen: An die Kontinuität der zunehmenden Entrechtung und Verfolgung Schwarzer Menschen von der deutschen Kolonialzeit (1884–1918), über die Weimarer Republik (1918–33) und den Nationalsozialismus (1933–45) zu erinnern ist wichtig, um das Heute zu verstehen.

So muss die Betrachtung der Geschichte Schwarzer Menschen mit der Reflexion der jeweils vorherrschenden Politik verbunden werden, um den teils verschlungenen Lebenswegen gerecht zu werden.

Beispielsweise wurde das Leben Schwarzer Menschen in Deutschland aufgrund ihrer augenscheinlichen Sichtbarkeit und des lebensrettenden Gebotes, sich dennoch möglichst unsichtbar machen zu müssen, zu einem Balanceakt. Entwürdigende Auftritte in Völkerschauen und Kolonialfilmen zählten zu den wenigen Möglichkeiten, wie sie ihr Überleben sichern konnten. Die geschätzt 600 bis 800 afro-deutschen Kinder Schwarzer französischer Besatzungssoldaten (ab 1918) im Rheinland wurden Opfer einer beispiellosen Hetzkampagne, die sie als „Schwarze Schmach” verunglimpfte. Ab 1937 wurden die meisten von ihnen illegal zwangssterilisiert – eine geplante Ausrottung.

Was von dieser Geschichte übrig blieb

Auseinandersetzungen über die Verantwortung dieses kolonialen Erbes in Deutschland gestalten sich als schwierig, was beispielsweise die große Debatte über den Genozid an den Herero, Nama und San zeigt. „Die Wissenschaft und Forschung hat sich damit schuldig gemacht […] hat sich der Politik bedient und an dem „kranken Mord mitgewirkt”, hieß es vonseiten der Berliner Charité im Jahr 2011. Als das Klinikum über 100 Jahre nach dem Genozid die Schädel und Gebeine von Opfern des deutschen Genozids an Delegierte aus Namibia zurückgibt, kommt es zu einem politischen Eklat. Weil die Bundesregierung schweigt und einzig die damalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, zum Treffen mit der 60-köpfigen Delegation aus Namibia kommt. Sie geht vorzeitig.

Jahrelang wurde die Niederschlagung des Aufstandes der Herero und Nama von der Bundesregierung nicht als Völkermord bewertet und anerkannt. Die UN-Konvention aus dem Jahr 1948 über Verhütung und Bestrafung des Völkermordes sei für die Bundesrepublik erst seit 1955 bindend, hieß es. Rückwirkende Bewertungen würden nicht vorgenommen. Gleichwohl habe sich die Bundesrepublik wiederholt zur „historischen und moralischen Verantwortung Deutschlands” gegenüber dem heutigen Namibia bekannt, schreibt sie 2011 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion.

Dann der Wendepunkt. Am 9. Juli 2015 erklärt Bundestagspräsident Norbert Lammert die deutschen Kolonialverbrechen im heutigen Namibia als „Völkermord”. Wenige Tage später zieht die Bundesregierung nach. Auch sie will die Tötungen künftig als Genozid bezeichnen.


Über den Band Spiegelblicke – Perspektiven Schwarzer Bewegung

Essays, Portraits, analytische Texte, Storytellings und Foto-Reportagen. Der Sammelband Spiegelblicke schafft einen Zugang zur Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland und ihrer Bewegung. Fünfzig Schwarze Autor*innen, Zeitzeug*innen und Portraitierte beschreiben und analysieren darin rassistische Strukturen in privaten und öffentlichen Räumen und dokumentieren Stationen der Identitätsfindung und des so genannten Empowerments (Selbstbestärkung). Es geht um ihre Erfahrungen in der NS-Zeit, die Geschichte des Kolonialismus und seine Reichweite in die Gegenwart – beispielsweise im Bildungs- und Rechtssystem, um selbstbestärkende Interventionen von Eltern, Lehrenden, Kulturschaffenden oder Medienmacher*innen und alltägliche (Lebens)-Geschichten Schwarzer Menschen in Deutschland. Verhandelt werden Themen wie Racial Profiling, die Rolle der Menschenrechte oder Refugee Activism. Auch bisher wenig behandelte Dimensionen von Diskriminierung wie Audismus (gegen gehörlose Menschen) werden im Buch sichtbar gemacht und zusammen mit der Frage, was es heißt, Schwarz und Queer, feministisch und lesbisch zu sein, werden auch intersektionale Perspektiven auf Schwarzes Leben eröffnet.

Es sind unterschiedliche Generationen und Stimmen, deren Blicke sich im Band (wider-)spiegeln. Sie machen deutlich, dass auch Räume, in denen Menschen Zuflucht vor alltäglicher Diskriminierung suchen, riskante Räume sein können. Dass es auch dort um Fragen nach Öffnung geht. 30 Jahre nach dem Erscheinen des bis heute wegweisenden Buches „Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte” präsentieren die Herausgeberinnen Camilla Ridha, Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum, Denise Bergold-Caldwell, Eleonore Wiedenroth-Coulibaly, Hadija Haruna-Oelker und Laura Digoh einen Band, der die Entwicklungs-, Auseinandersetzungs- und Definitionsprozesse der Schwarzen Bewegung in Deutschland bis heute aufzeigt. Mit dem Ziel: ein leicht zugängliches und bleibendes Werk zu schaffen und damit ein breites Publikum anzusprechen. Ein Buch, das ermutigen, inspirieren und neugierig machen soll.